Die Ärzte hielten es für einen Schub religiöser Warnvorstellungen, ausgelöst durch das fortschreitende Alter. Doch am nächsten Morgen fand man auf dem Fensterbrett ihrer Zelle eine Spur von Erde und Nadeln. Fichtnadeln, frisch, grün, feucht, vom Regen. Es war unmöglich, dass jemand sie dorthinebracht hatte. Die Fenster ließen sich nicht öffnen. Der Vorfall wurde aktenkundig gemacht, aber nie erklärt.
In den Jahren Nachkraftstod verschwanden zwei weitere Menschen imselben Gebiet, ein Landstreicher und ein Holzarbeiter. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Der Wald nahm sie einfach auf. Die Geschichte gelangte nie in die Zeitung, nur in die Mundpropaganda der Dörfer. Man sprach wieder vom Tal der Kinder.
Vans, inzwischen alt und krank, las zufällig in einem regionalen Blatt von den Funden. Ein Reporter erwähnte den Namen Schwarzwald beiläufig als Legende. Drei Tage später schrieb W einen Brief an die Polizei in Sonneberg. Er bat darum, die Gegend erneut untersuchen zu lassen, nicht aus juristischem, sondern aus menschlichem Interesse. Es kam nie eine Antwort.
Im Herbst 1904 starb Elias We im Schlaf. In seinem Nachlass fand man eine Mappe, beschriftet mit Oldwin Hohgrund. Darin lagen Notizen, Skizzen, eine Liste von Namen und ein kleines Medaillon mit einem verblasten Foto. Darauf zwei Mädchen, etwa 8 Jahre alt, in Leinenkleidern, barfuß, mit ernsten Gesichtern.
Auf der Rückseite stand Elisabeth und Morwin, die letzten Reihen. Niemand wusste, woher er das Bild hatte. Im Archiv der Anstalt Sonnenstein steht beim Eintrag zu Elisabeth Schwarzwald unter dem Jahr 1905. Patientin zeigt zunehmende Euphorie, behauptet, die Kinder kehren zurück, singt in unverständlicher Sprache, reflektiert keinerlei Schuld. In der Nacht zum 21.
Dezember fand man ihre Zelle leer. Die Tür war verschlossen, der Schlüssel unberührt. Es gab keine Spuren eines Ausbruchs. Nur an der Wand, aus Brotkrumen und Erde geformt, stand ein Wort: Heimkehr. Die Nachricht von Elisabeth Schwarzwalz verschwinden verbreitete sich in der Anstalt Sonnenstein schnell, doch nach außen wurde sie verschwiegen.
In den Akten wurde der Fall als ungeklärter Tod mit vermuteter Selbstvergrabung bezeichnet, ein Ausdruck, der niemandem etwas bedeutete. Die Leitung der Einrichtung wollte keinen Skandal. Man erklärte, die Patientin sei in einem Anfall geistiger Verwirrung aus dem Fenster gestürzt. ihr Körper im angrenzenden Elpang nicht auffindbar.
In Wahrheit glaubte niemand diese Version, nicht einmal die Pfleger. Einer von ihnen, ein Mann namens Johannes Heller, schrieb später in einem privaten Tagebuch. Am Morgen ihres Verschwindens roch ihre Zelle nach Wald. Es war der Geruch von feuchtem Moos und kaltem Wind. Ich schwöre, ich hörte Kinder lachen, bevor ich die Tür öffnete.
Im Sommer des folgenden Jahres erzählten Bauern aus den Dörfern südlich von Saalfeld von einer alten Frau mit grauem Haar, die in den Wäldern lebte, barfuß mit einem Stab in der Hand. Sie betete laut, sprach von Reinigung und von Kindern, die in den Bergen schliefen. Manche gaben ihr Brot, andere flohen. Niemand wusste, wo sie nachts blieb.
Manchmal fand man Spuren, einen Kreis aus Stein, in dessen Mittebrot lag oder kleine Figuren aus Zweigen. Der Sommer ging in einen frühen Herbst über und mit ihm kam eine neue Geschichte von Kindern, die im Wald gesehen wurden, nackt, schmutzig, bleich. Zuerst glaubte man, es seien Hirtenkinder, doch ein Förster, der einem von ihnen begegnete, berichtete, sie hätten nicht gesprochen, nur gelächelt. ein leeres, seltsames Lächeln.
Als er sich ihnen näherte, seien sie lautlos verschwunden. Die Behörden schickten zwei Gendarmen, um die Gegend zu durchsuchen. Sie fanden nichts, aber am Ufer eines kleinen Baches entdeckten sie etwas, das alle Zweifel auslöschte. Einen Kreis aus Tierknochen, in dessen Mitte eine verwitterte Bibel lag.
Auf der ersten Seite stand in bräunlicher Tinte geschrieben: “Die Saat ist nicht tot. Sie schläft. Diese Worte genügten, um die Erinnerung an den alten Fall wiederzuerwecken. Zeitungen griffen das Thema auf, nun mit Sensationslust. Die Leipziger Volkszeitung schrieb von neuen Waldkindern, die Nachkommen der Schwarzwaldsekte sein.