Nur ein Gefühl, das Mertens wie ein Schlag traf. Der Graue war nicht geflohen. Er hatte sich gezeigt, bewusst eine Warnung oder eine Einladung. Die Straßen Lübex standen noch immer unter Strom. Der Wind frß sich durch die Gassen, die Laternen flackerten und ließen die Gesichter der Bürger wie geisterhafte Masken erscheinen. Doch trotz des Tumults war eines klar geworden. Der graue hatte sich gezeigt.
absichtlich in aller Öffentlichkeit. Und das bedeutete nur eines. Er fühlte sicher, so sicher, dass er selbst das Risiko einging, gesehen zu werden. Mertens kehrte ins Hospital zurück, begleitet von zwei Wachen. Seine Gedanken überschlugen sich. Warum war der Graue in Lübeck? Um zu beobachten, um jemanden zum Schweigen zu bringen? Oder um etwas zu holen, dass er verloren hatte? Der Stallknecht war tot oder entführt.
Das wußte Mertens inzwischen mit bitterer Gewissheit. Und das blaue Buch in seinen Händen war wahrscheinlich nicht nur ein Dokument, sondern ein Schlüssel. Als er das Hospital betrat, empfing ihn Dr. Schubert mit einer Miene, die trostloser nicht hätte sein können. “Was ist geschehen?”, fragte Mertens. Der Junge, sagte der Arzt ohne Umschweife, derzehnjährige.
Er hat weitergesprochen, nachdem sie fort sind, und kurz darauf brach er zusammen. Ein Anfall? Nein. Schuberts Gesicht verfinsterte sich. Vergiftung, feindosiert, langsam wirkend, wahrscheinlich verabreicht, bevor wir die Kinder fanden. Mertens ballte die Fäuste. Er wird überleben. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist ein Gift, dass ich nur aus Aufzeichnungen kenne.
Es lässt sich nicht schnell neutralisieren. Der Fucht spürte erneut diese lähmende Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Der Graue ließ keine losen Enden zurück, nie? Und doch hatte der Junge noch einen letzten Hinweis hinterlassen.
Schwester Johanna eilte herbei und übergab Märtens ein zusammengefaltetes Stück Stoff. Darauf waren mit dünner, kaum sichtbarer Kreideelinien gezogen. Drei Kurven, ein Winkel, ein Kreis. Mertens runzelte die Stirn. Was ist das? Er zeichnete es kurz, bevor er zusammenbrach, flüsterte die Nonne, als wollte er etwas oder jemanden zeigen. Dr. Schubert betrachtete das Muster.
Das ist kein Bild, das ist eine Markierung, eine technische Skizze. Für den grauen Apparat? Fragte Mertens. Das wäre möglich, antwortete Schubert. Und wenn es so ist, deutet es auf etwas hin, das viel komplexer ist als primitive Instrumente. Vielleicht eine frühe Form experimenteller Mechanik oder galvanischer Versuche.
Ein weiterer Stich: Berlin, Akademiker, physikalische Apparaturen und ein Mann, der nie seine Hände beschmutzte, aber immer alles kontrollierte. Der Graue. Noch bevor Mertens weiterdenken konnte, betrat Regierungsrat Elas den Raum. Er wirkte blassß, nervös. “Wir haben eine neue Nachricht aus Berlin”, sagte er und zog ein Dokument hervor.
“Ein ausdrücklicher Befehl des Innenministeriums. Der Fall Reichenbach soll vorerst nicht öffentlich gemacht werden. Alle Materialien sind unter Verschluss zu halten.” Mertens trat einen Schritt näher. “Und wenn ich mich weigere?” Elas Stimme wurde leiser. Dann wird man sie absetzen und einen Beamten schicken, der sich an die Vorgaben hält. Die Vorgaben schützen Verbrecher zischte Mertens. Elas antwortete nicht.
Seine Hände zitterten leicht, vielleicht aus Angst oder aus Wissen oder aus Loyalität gegenüber einem System, das sich selbst über alles stellte, auch über Wahrheit. Mertens atmete tief ein. Sie wollen schweigen, aber die, die das hier getan haben, schweigen nicht.
Sie arbeiten weiter, sie transportieren weiter, sie kaufen weiter. Das Reich ist nicht bereit für einen solchen Skandal, sagte Elas tonlos. Dann ist das Reich schwächer, als ich dachte. Eine Wache stürmte herein. Herr Fogt, sie müssen sofort kommen. Eine der Nonn hat in den Sachen der Aufseherin etwas gefunden. Sie eilten in einen kleinen Nebenraum im Hospital. Auf dem Tisch lag ein Mantel.
Der Mantel der Aufseherin, die zusammen mit Elisabeth von Reichenbach festgenommen worden war. Schwester Agnes zeigte auf eine unscheinbare Naht. Ich habe den Faden gefühlt. Er war zu fest. Und sehen Sie, sie zog vorsichtig eine winzige Metalldose aus der Innenseite des Mantels. Darin lag ein Brief, versiegelt mit einem grauen Wachsabdruck.