Es ist ein Tunnel, ein System. Und ich glaube, ich glaube, es führt nicht nur unter das Gut. Wohin dann? Anna hob den Blick. Tränen standen in ihren Augen, zum alten Klostergrund am Wasser, zu einem Ort, den niemand mehr betritt. Warum nicht? Sie flüsterte, weil man sagt, dort verschwinden Dinge und manchmal auch Menschen. Wir gehen sofort, sagte Mertens.
Das ist zu gefährlich, warnte Elas. Jehova selbst könnte dort warten. Ich gehe trotzdem. Doch bevor er den Raum verlassen konnte, spürte er plötzlich einen kalten Hauch im Nacken. Ein Gefühl, das er inzwischen kannte. Er drehte sich um. An der Fensterscheibe des Rathauses von außen, mitten in der Nacht hing ein Stück Papier.
Vom Wind flattern gelassen wie eine Fahne. Dran stand nur ein Satz mit derselben unheimlichen Handschrift wie zuvor: “Wer den Weg findet, findet mich.” Und darunter groß und unausweichlich, das graue Zeichen. Die Suche nach dem zweiten Eingang begann noch in derselben Nacht.
Der Wind peitschte vom Meer heran und ließ die Kronen der Bäume wie schwarze Wellen über dem Wald wogen. Mertens führte die Gruppe an. Zwei Soldaten, zwei Stadtwachen, Anna Freit und Schwester Johanna, die darauf bestand, bei den Kindern zu bleiben, aber nicht zulassen wollte, dass Erna erneut allein in die Nähe jenes Ortes ging, der ihr Albträume beschert hatte. Der Wald war stiller als gewöhnlich.
Kein Vogelruf, kein Rascheln kleiner Tiere, nur das Knacken nasser Äste unter den Stiefeln. Anna blieb plötzlich stehen und zeigte mit zitternder Hand auf eine riesige Ulme, deren Stamm wie gespalten wirkte. Dort”, flüsterte sie, “hinter den Wurzeln, ich habe sie gesehen.” Als sie näher kam, erkannten sie die metallene Kante, die sich zwischen den Hügeln der Wurzeln verbarg.
Eine Falltür aus Eisen und Stein, schwer, alt, aber keineswegs verfallen. Ein Mechanismus hielt sie fest verschlossen. Mertens Kniete, fuhr über die Oberfläche und spürte in den eingeritzten Linien dasselbe Symbol. Kreis und drei Striche, das Siegel der Grauen. Öffnen befahl er.
Die Männer stemmten sich dagegen und nach mehreren kraftvollen Versuchen gab die Tür mit einem tiefen, unheilvollen Knarren nach. Ein kalter Hauch strömte ihnen entgegen, so frostig, als käme er aus einer Tiefe, in der selbst die Luft jahrelang gestorben war. Eine Treppe führte hinab, schmal aus altem Stein, feucht und glitschig. “Fackeln an”, sagte Mertens.
Sie stiegen hinab, Schritt für Schritt. Der Gang öffnete sich zu einem unterirdischen Tunnel, breiter, sorgfältiger gearbeitet als der unter dem Gut. An den Wänden waren Haken, Öen, Halterungen angebracht und erneut das graue Zeichen mehrmals wie ein Wegweiser. “Das hier ist kein Zufluchtsort”, murmelte Dr. Schubert, der sich ihnen inzwischen angeschlossen hatte.
“Es ist eine Passage, ein Transportweg für Kinder”, flüsterte Schwester Johanna schwer. Nach einigen Dutzend Metern öffnete sich der Tunnel zu einem größeren Raum. Der Boden war schwarz, nicht vom Dunkel, sondern vom Brand. Verkohlte Balken, geschmolzene Metallreste, verbrannte Kisten.
Es roch nach längst vergangenem Feuer. “Sie haben Beweise vernietigt”, sagte Mertens. “aber nicht alles war zerstört. Hinter einem halb verkohlten Tisch lag ein Stück Pergament, geschützt unter einem Metallblech. Mertens hob es vorsichtig. Darauf befand sich eine Karte, keine vollständige, doch klar genug, um den Verlauf eines Tunnelsystems zu erkennen.
Linien führten vom Gut Reichenbach, verzweigten sich unter dem Wald und mündten schließlich an einem Kreuzpunkt. “Das alte Klostergelände”, sagte Anna stockend, “dort endet es oder beginnt?”, korrigierte Mertens. Neben der Karte lag ein weiteres Objekt, ein länglicher Metallrahmen, kaum länger als ein Arm, mit Dräten, Schrauben, einem kleinen Mechanismus an der Seite.
Es war nur ein Fragment, aber sein summender Klang war noch spürbar, als wäre in seinem Inneren etwas zurückgeblieben. “Der graue Apparat”, hauchte Schubert. “Ein Teil davon”, sagte Mertens. Der Rest ist beim Grauen oder weiter. Sie folgten der Hauptlinie des Tunnels. Der Weg wurde breiter, dann wieder enger.