Kurz darauf erreichte die Nachricht die Ratsstube am Markt. Die Stadtherren, zunächst ungläubig, dann zornig, beriefen eine außerordentliche Sitzung ein. Der Regen trommelte gegen die Glasfenster, während der Raum sich mit schweren Stimmen füllte. Harmlose Wohltäter. Die Reichenbachs hatten seit Jahren das Vertrauen der Obrigkeit genossen, Spenden gesammelt, Gottesdienste gehalten, Patronate übernommen.
Niemand, jedenfalls niemand, der es offen aussprach, hatte jemals Verdacht geschöpft. Doch der Fund unter ihrem Gut war eindeutig. Stadtvogt Mertens verlaß die ersten Ergebnisse der Bergung, die Käfige, die Fesseln, die chirurgischen Instrumente, die Protokollbücher. Das Entsetzen im Saal wandelte sich rasch in Unruhe.
Lübeck, als freie Stadt und wichtiger Handelsort durfte keinen Skandal zulassen, der ihre Reputation beschädigte. Doch ein Fall dieses Ausmaßes ließ sich nicht verschweigen und schlimmer noch, schon in den Papieren, die man im versteckten Arbeitszimmer gefunden hatte, tauchten Namen auf, die in der Stadt nicht unbekannt waren.
Adlige aus Mecklenburg, Gutsherren aus Holstein, zwei angesehene Ärzte aus Hamburg, ein Pastor aus Drave Münde. Wenn diese Liste stimmte und alles deutete darauf hin, dann breitete sich das Netz der Komplizenschaft weit über Lübeck hinaus aus. Während die Ratsmitglieder noch stritten, ob man die königliche Regierung in Berlin sofort informieren müsse, saß Luise Adler im Hospital auf einem schmalen Bett.
Sie war eines der wenigen Kinder, die überhaupt auf Fragen reagierten. Eine junge Novizin, Schwester Johanna, hatte sich neben sie gesetzt und hielt ihre Hand. Luise war erschöpft. Ihr Körper zitterte unkontrolliert und doch wirkte ihre Stimme klarer, als sie zu flüstern begann. Er kommt immer spät. Der Mann mit dem silbernen Stock. Schwester Johanna beugte sich zu ihr.
Welcher Mannkind? Der Fremde. Er spricht Deutsch, aber anders. Sein Akzent. Luise suchte nach Worten. Er sagt immer, er brauche die Kleinen für seine Studien, für seine Anatomie. für das große Werk. Der Name, den sie dann nannte, ließ die Novizin erbleichen. Sie notierte ihn und brachte den Zettel Märtens.
Als dieser ihn las, wurde ihm schlagartig klar, dass das, was man unter dem gut Reichenbach entdeckt hatte, nicht nur eine lokale Verirrung war. Es war der äußerste Rand eines Systems, das sich über Ländergrenzen hinweg erstreckte. Noch in derselben Nacht ordnete er an, das gesamte Anwesen zu versiegeln, alle Bediensteten festzunehmen und sämtliche Archive sichern zu lassen.
Draußen peitschte der Wind über die Dächer und der Regen nahm weiter zu, als wolle er die Stadt wachrütteln. Dass Lübeck für immer verändert aus dieser Nacht hervorgehen würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Aber der Name auf dem Zettel, dieser Name würde bald das gesamte Königreich erschüttern. Der Morgen nach der Entdeckung brach grau und schwer über Lübeck herein.
Das Heiliggehospital war erfüllt von gedämpften Stimmen, eilenden Schritten und dem beständigen Rascheln medizinischer Berichte. Die Nonnen hatten die Nacht hindurchgearbeitet und dennoch wirkte der Ort wie eine Insel aus erschöpfter Stille im Sturm des Entsetzens, der nun durch die Stadt ging. Stadtfugt Mertens saß in einem kleinen Schreibzimmer nahe der Kinderstation. Auf dem Tisch lagen drei Dinge.
Ein Protokollbuch aus dem unterirdischen Raum, eine Liste der Verletzungen der Kinder und der Zettel, den Luise nach stundenlangem Zögern diktiert hatte. Darauf stand ein Name, der ihm wie ein Schock durch die Brust fuhr. Dr. Wilhelm Carsten. Ein renommierter Anatom.
Professor an der medizinischen Fakultät in Königsberg, veröffentlicht in mehreren wissenschaftlichen Journalen. Ein Mann, der in gelehrten Kreisen als brillant, aber unkonventionell galt. Seine Studien waren umstritten, ungewöhnlich detailliert, ungewöhnlich früh, ungewöhnlich kalt. Er sollte sich als eine der Schlüsselfiguren entpuppen. Während Mertens noch überlegte, wie dieser Name mit dem Gut Reichenbach zusammenhing, öffnete sich die Tür und Dr. Schubert trat ein. Sein Gesicht sah aus wie Stein, blass vor Zorn.