Drei Kinder haben Brandmale, die eindeutig mit chirurgischen Fixierungsinstrumenten übereinstimmen”, sagte er. Bei zweien fehlen Fingerglieder, sauber amputiert und eines eines hat eine drepanierte Schädelstelle, die erst vor wenigen Tagen behandelt wurde. Ein Wunder, dass das Kind noch lebt. Mertens legte die Hände an die Stirn.
Wie viele werden überleben? Der Arzt zögerte. Vielleicht zwei Drittel. Die anderen: “Es ist schwer zu sagen, wie groß der Schaden ist.” Schweigen breitete sich aus, schwerer als jede Anklage. In diesem Moment eilte Schwester Johanna herein. Herr Vogt, Luise bittet erneut um ein Gespräch. Sie sagt, sie erinnert sich an mehr.
Luise Adler saß aufrecht im Bett, eingehüllt in mehrere Schichten Leinentücher. Ihre Haare waren frisch gewaschen, aber ihr Blick blieb leer. Ein Blick, wie man ihn nur bei Kindern sah, die gezwungen worden waren, jahrelang in lautlosem Gehorsam zu überleben. Als Märtens sich neben sie setzte, sprach sie ohne Einleitung: “Der Mann mit dem silbernen Stock.
Er kam immer in Begleitung. Wessen Begleitung? von einer Frau blond, streng, mit einem Hut wie die aus Berlin. Sie nannten sie die Aufseherin. Sie entschied, wer tauglich war. Sie hat Listen geführt. Listen? Luise nickte schwach. in einem blauen Buch mit goldenen Ecken. Es lag auf dem großen Tisch im Arbeitszimmer oben.
Mertens Herz zog sich zusammen. In keinem der bisher gesicherten Dokumente war ein blaues Buch erwähnt worden. Was stand in diesen Listen, Luise? Die Zwölfjährige starrte geradeaus, als müsse sie gegen Erinnerungen kämpfen, die sie eigentlich nie wiedersehen wollte. Zahlen, Anfangsbuchstaben, Alter und und Preise. Dann brach ihre Stimme.
Schwester Johanna drückte sie fest an sich, wiegte sie, bis das Zittern nachließ. Der Stadtfucht stand langsam auf. Der Fall war nun eindeutig kein lokaler Missbrauch, keine Einzeltat eines entgleisten Ehepaars. Er war Teil eines weit verzweigten, kalt kalkulierten Systems, in dem Kinder wie Ware behandelt wurden. Und dieses System hatte Strukturen, Ordnung, Nachfrage.
Im Rathaus war die Stimmung inzwischen angespannt. Der Bürgermeister Heinrich Torwald, ein Mann mit strengem Protestantenmut, rief Mertens zu sich. Wir haben Berichte aus Travemünde, Hamburg und Wisma, begann er ohne sich zu setzen. Mehrere Weisen, die angeblich an solchen starben, wurden nie beerdigt.
Bei drei mittlerweile verstorbenen Gutsherren fanden wir ungewöhnlich hohe Zahlungen an die Stiftung Licht für die Kleinen. Er legte mehrere Dokumente auf den Tisch. Diese Angelegenheit greift weit über Lübeck hinaus. “Wir müssen Berlin informieren”, sagte Mertens. Torwald nickte. “Schon geschehen. Ein königlicher Kommissar wird in zwei Tagen eintreffen.
” Doch bevor diese Worte wirklich sacken konnten, öffnete sich abrupt die Tür. Zwei Stadtwachen traten ein. In ihren Händen ein kleines ledergebundenes Heft, verschmiert mit Erde. Gefunden in einer versteckten Schublade im Arbeitszimmer von Herrn von Reichenbach, sagte einer der Männer heiser. Mertens nahm es entgegen. Als er die erste Seite aufschlug, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.
Es war blau mit goldenen Ecken, genauso wie Luise es beschrieben hatte. Und darin standen Tabellen, Spalten und Kürzel in einer Handschrift, die mit ruhiger Präzision geführt worden war. Jedes Kürzel war ein Kind, jede Zeile ein Schicksal, jede Zahl ein Preis und am unteren Rand klebte ein Siegel, das alle Anwesenden verstummen ließ. Das Wappen der Universität Königsberg.
Während draußen der Wind die Dächer peitschte und die Türme der Marienkirche in Nebelschwaden verschwanden, wurde allen im Raum klar, dass dies nicht nur der Fall Reichenbach war. Es war der Beginn eines historischen Skandals, der Mediziner, Adlige, Händler und Amtsträger in ganz Preußen und darüber hinaus erschüttern sollte.
Und die Wahrheit war bei weitem noch nicht vollständig ans Licht gebracht. Der Nachmittag des 19. März brachte keine Ruhe, weder in Lübeck noch in den umliegenden Dörfern. Das blaue Buch mit den goldenen Ecken lag nun im Zentrum aller Untersuchungen. Stadtfogt Mertens verbrachte Stunden damit, die Tabellen und Kürzel zu entziffern, während Doktor Schubert und mehrere Schwestern versuchten, aus den Berichten der Kinder Hinweise zu gewinnen.