(1876, Spessart) Die Familie Donnelly: Deutschlands verstörendstes genetisches Geheimnis

Patrick schwieg lange, dann nickte er, langsam wie einer, der sich das eigene Nicken abtrotzen muß. Er führte Brenner in den hinteren Flur, öffnete eine Tür mit einem kleinen, schartigen Schlüssel. Ein kühler Geruch stieg auf. Holz, Leder, Staub. Dort standen die ledergebundenen Hefte in Rei und Glied mit Jahreszahlen, die in sauberer Schrift auf dem Rücken standen.

Daneben lagen Beutel mit getrockneten Kräutern, kleine Fläschchen mit Tinkturen und ein eingeritztes Brett, dem grobe Schemata menschlicher Körper zu sehen waren. Brenner blätterte und mit jedem Blatt wuchs in ihm der Entschluss, diesen Ort nicht mehr der Stille zu überlassen. Eintrag um Eintrag, Messwerte, Vermerke, Urteile und immer wieder dasselbe Wort nüchtern, unerbittlich, freigegeben. Er kniete, klopfte gegen die Dielen.

Zwischen zwei Brettern gab es eine Stelle, die hohl klang. Brenner hob das Holz an und fand in geölte Stoffe geschlagen, kleine Bündel, zu klein, als dass ein lebender Mensch Platz darin gefunden hätte. Er legte das Brett zurück, als spürte er, wie etwas Unsichtbares durch den Raum kroch. Genug, sagte er zu Patrick, dessen Gesicht Wechsern geworden war.

Morgen komme ich mit zwei Männern wieder, mit Hartmann und mit einem Knecht aus dem Dorf. Wir werden die Gräber ordnungsgemäß öffnen, die Gebeine zählen und wir werden die Kirche informieren. Ihr werdet Rechenschaft ablegen vor Menschen, nicht vor euren Phantomen. Patrick sog die Luft scharf ein. Das zerstört uns. Was euch zerstört, entgegnete Brenner, ist schon geschehen.

Ich versuche zu retten, was noch zu retten ist. Als er in den Hauptraum zurückkehrte, lag das Kind an Meiris Brust, schlaftrunken mit einem Atem, der nun ruhig ging. Decklen stand daneben und sah starr auf das kleine Gesicht. “Sie atmet”, flüsterte er, beinahe ehrfürchtig. Sie atmet noch.

Sie wird weiteratmen, sagte Brenner, wenn ihr sie lasst. Er blieb die Nacht über. Er wechselte Tücher, Fieber, notierte Zeiten und Anzeichen. Draußen rauschte der Wind und einmal schlug eine Böhe die Tür gegen den Rahmen, als wolle der Wald selbst Einlass erzwingen. Brenner dachte an aller Seelen, an die stillen Lichter auf den Friedhöfen, an die Namen, die in die Luft gehaucht werden. Er schwor sich, dass die kleinen Kreuze hinter der Hütte nicht länger stumm bleiben würden.

Als die erste Helligkeit über die Hügel kroch, stellte er die Feder auf das Papier und schrieb die ersten Sätze eines Berichts, der nicht nur ein medizinisches Protokoll sein sollte, sondern eine Anklage. Darin standen Worte, die er nie hatte schreiben wollen. Kindsmord, Verwandtenhe, systematische Auslese. Und dann, fast trotzig, setzte er einen weiteren Satz.

Heute lebte ein Mädchen. Er legte die Feder beiseite, strich dem Neugeborenen über die Stirn und sagte leise, damit nur die Mutter es hörte. Gib ihr einen Namen, der bleibt. Der Morgen nach der Geburt brachte eine bedrückende Stille über das Tal.

Der Nebel hing tief zwischen den Hängen des Spess und die Sonne kämpfte vergeblich darum, den grauen Schleier zu durchbrechen. Für Dr. Theodor Brenner war es als Läge ein unsichtbarer Druck auf der Luft, ein Gewicht, das nicht von der Natur, sondern von der Geschichte dieses Hauses herrührte. Das Mädchen, das in der Nacht zur Welt gekommen war, schlief in den Armen von Meere. Sein Atem war regelmäßig.

Der kleine Brustkorb hob und senkte sich und Brenner prüfte immer wieder Puls und Temperatur. Jedes Mal atmete erleichtert auf, doch er wusste, das eigentliche Ring stand nicht zwischen Leben und Tod des Kindes, sondern zwischen den Überzeugungen einer Familie und der Wahrheit. Am Vormittag suchte er erneut das Gespräch mit Patrick Donnelly. Sie saßen draußen auf einer groben Bank vor der Hütte.

Der Wind trug den Geruch feuchter Erde und welker Blätter heran. Hinter ihnen lagen die kleinen Gräber, elf an der Zahl, deren Kreuze im Nebel kaum zu erkennen waren. Patrick, begann Brenner. Dieses Kind lebt. Es hat eine Chance, aber nur, wenn Sie es nicht in die alte Ordnung pressen. Sie müssen verstehen, dass ihr Weg falsch war. Patrick starrte lange auf seine Hände.

Related Posts

Our Privacy policy

https://worldnews24hr.com - © 2025 News