Die Verhandlung wurde vertagt. Man sprach von untersuchungshaft, von weiteren Öffnungen der Gräber, von einem Bericht an die königliche Regierung. Brenner hörte die Stimmen, doch in seinem Kopf dröhnten nur die Bilder. Decklens unsicherer Schritt, Collins Trän, Eilis schwaches Schreien. In der Nacht kehrte er nicht in seine Praxis zurück, sondern blieb im Pfahr.
Er schrieb lange, bis die Tinte kaum mehr floss. Er schrieb nicht nur Fakten, sondern auch das, was ihn innerlich brannte, dass Reinheit kein Ziel sei, sondern ein Käfig, dass Tradition keine Entschuldigung sei, sondern eine Last, dass das wahre Erbe nicht in Büchern stehe, sondern in den Gesichtern der Kinder, die atmeten oder nicht.
Kurz vor dem Morgengrauen klopfte es leise an seine Tür. Colin trat ein, die Augen wach, trotz der Müdigkeit. “Herr Doktor”, flüsterte sie. “was wird aus uns?” Brenner legte die Feder ab. “Aus euch? Das entscheidet ihr. Ihr seid nicht an die Kreuze gebunden. Ihr könnt fortgehen. Neue Namen, neue Wege.” Aber Decklen, er schwieg.
Schließlich sagte er, wenn er lebt, muß er selbst den Schritt tun. Wir können nur warten und hoffen, daß er nicht tiefer in den Wald geht. Colin nickte langsam. Dann werde ich für A singen, damit wenigstens sie nicht nur Kreuze hört. Als sie gegangen war, stand Brenner am Fenster. Die Glocke der Stadtkirche schlug die erste Stunde.
Der Main floss schwarz und ruhig unter der Brücke. Der Nebel hing noch, doch dahinter, ganz fern, schimmerte der erste Hauch von blau. Er wusste, dass das Ende nahte, ob als Urteil, als Flucht oder als weiteres Opfer. konnte er nicht sagen. Doch eines war gewiss. Die Geschichte der Donnel würde nicht mehr im Dunkel der Wälder verschwinden.
Sie war nun im Licht, unauslöschlich und jeder musste sehen, was man jahrzehntelang hatte verbergen wollen. Der letzte Tag der Anhörung begann ohne Spektakel. Kein aufgeregtes Murmeln, kein Stampfen schwerer Stiefel, nur die leise Arbeit des Atems in einem Raum, in dem Worte nun Gewicht bekam. Dr. Theodor Brenner stand erneut vor dem Richter.
Neben ihm der Pfarrer und der Wachtmeister. Auf dem Tisch lagen die Hefte, die wie dunkle Ziegel einen Bau des Schweigens getragen hatten. Draußen schlug der Main in langsamen Zügen gegen die Ufersteine, als erinnere das Wasser an Geduld. Patrick Donnel wirkte älter als noch vor wenigen Tagen, als hätte ihm nicht die Nacht, sondern das Tageslicht die Jahre in die Haut geschrieben.
Bridget hielt die gefurchten Finger über der Gebetsschnur, aber ihre Worte waren versiegt. Mer saß mit Eilis nah bei Coline. Shames blickte auf seine Schuhe und kämpfte mit dem eigenen Atem, als sei schon das Atmen Geständnis. Von Decklen fehlte weiterhin jede Spur. Der Richter verlas die zusammengeführten Feststellungen. Verwandten über mehrere Generationen.
Gehäufte Missbildung, ein kleiner Friedhof mit mehr als einer Hand voll Kindergräbern. Aufzeichnung, die in einer nüchternen beinah pedantischen Sprache die Beseitigung der Schwächsten als Pflicht und Gnade beschrieben. Er sprach nicht laut und gerade darin lag das Gericht. Die Dinge wurden benannt, ohne daß man ihnen durch Lärm die Bedeutung raubte. Dann wandte sich der Richter an Brenner.
“Was bleibt, Herr Doktor?”, fragte er. “Wenn wir die Toten gezählt, die Aufzeichnungen gesichert, die Worte gesprochen haben, was bleibt?” Brenner spürte, wie alle Blicke ihn suchten. In seinem Kopf standen Hörseele, Bücher, klinische Tabellen. Doch vor seinen Augen lag das Gesicht eines schlafenden Säuglings.
“Es bleibt”, sagte er, ein Kind, das atmet, eine Mutter, die nicht mehr im Schatten gebiert und eine Pflicht, die nicht mehr auf der Treppe der Ahnen liegt, sondern bei uns, die wir leben. Wir müssen die Schwächsten schützen, nicht aus dem Weg räumen. Reichtum der Zukunft entsteht nicht aus Reinheit, sondern aus Barmherzigkeit. Der Pfarrer nickte langsam, als fiele in seinem Innern eine Türe ins Schloss.
Die Toten, fügte er hinzu, sind in Gottes Hand. Die Lebenden sind in der unseren. Die Entscheidung fiel ohne Pose. Vorläufige Verwahrung der Eltern, Schutzaufsicht für die Kinder. Öffnung weiterer Gräber im Beisein des Amtsarztes, Weitergabe Akten an die königliche Regierung. Kein Donner, kein Triumph.