Eine ganze Sippe schien über Jahrzehnte hinweg nach demselben Prinzip zu leben. Inzucht, Verschleierung, das Töten missgebildeter Kinder, alles um eine reine Linie zu bewahren. Als der Frühling kam und die Schneeschmelze die Wege wieder frei gab, fasste Brenner einen Entschluss.
Er wollte selbst zur Hütte der Donnelies reiten, offiziell, um eine Gesundheitskontrolle in der abgelegenen Gegend vorzunehmen. In Wahrheit trieb ihn eine Mischung aus wissenschaftlicher Neugier und wachsendem Entsetzen. Der Ritt durch den Spessert war beschwerlich. Die Wege führten über aufgeweichte Pfade, vorbei an Bächen, die von Schmelzwasser anschwollen, durch Wälder, in denen das Eis noch an den Ästen hing.
Kein Mensch begegnete ihm, kein Hof lag auf seiner Route. Es war, als sei das Tal eigens dafür gewählt worden, jede Nachbarschaft auszuschließen. Nach einem langen Tag erreichte er schließlich die Hütte. Auf den ersten Blick wirkte sie ordentlich. Ein solider Bau aus Balken, der Rauchfang gut gepflegt, die Gärten sorgfältig angelegt.
Doch Brenner geschultem Blick entgingen die Details nicht. Hinter dem Haus lag ein kleiner Friedhof, elf kleine Holzkreuze in ordentlichen Reihen, viel zu viele für eine Familie, die erst seit zwei Jahren dort lebte. Und die Abstände zwischen den Gräbern ließen Platz für weitere. Patrick Donnel empfing ihn mit einer Mischung aus höflicher Fassade und spürbarer Abwehr.
“Wir brauchen keinen Arzt”, sagte er scharf. “Uns Familie regelt alles selbst.” Seine Hände zitterten, die Haare waren schlohweiß geworden, obwohl er kaum Mitte 40 war. Seine Frau Brid trat hinter ihn, ausgemergelt, mit eingefallenen Wangen, die Augen leer, die Stimme, kaum mehr als ein Hauch. Brenner betrat dennoch das Haus, bestand darauf, die Kinder zu sehen und was er sah, ließ ihn erschauern. Mer nun 18, war deutlich schwanger.
Coline 16 wirkte körperlich viel zu weit entwickelt, als sei sie vorzeitig gealtert. Shames 20, stotterte unkontrolliert, vermiedet jeden Blickkontakt und rang sichtbar mit innerer Qual. Und Deck, gerade 13 zeigte deutliche Fehlbildungen. Ein schiefes Gesicht, ein hinkender Gang, überlange biegsame Finger.
Die Kinder bewegten sich mit einer seltsamen Mischung aus Angst und Gehorsam, als wüssten sie genau, dass jede falsche Regung Strafe nach sich zog. Das Haus selbst war in kleine abgetrennte Räume unterteilt, mehr als nötig, als wolle man verbergen, was hinter den Türen geschah. Aus manchen Zimmern drangen Geräusche, die nicht erklärt wurden, und ein Geruch von Medizin und verfallendem Fleisch lag in der Luft. Bevor Brenner ging, hielt Patrick ihn zurück.
Mit leiser, fast flehender Stimme fragte er: “Wenn Gott eine Familie prüft und ihr Opfer abverlangt, würden Sie das verstehen, Doktor? könnten Sie helfen ohne Fragen zu stellen? Dann sprach er von großer Stärke im Blut, von Methoden der Ahnen, die man fortsetzen müsse. Koste es, was es wolle.
Brenner verließ die Hütte mit einem Gefühl von Beklemmung, das ihn tagelang nicht losließ. Er ahnte, dass er gerade den Vorhang zu einem Abgrund gelüftet hatte, der tiefer reichte, als er es sich vorzustellen wagte. Zwei Monate nach seinem ersten Besuch erhielt Dr. Brenner eine Nachricht, die ihn mitten in der Nacht erreichte. Ein Trapper, der seltene Wege durch die Berge des Spess kannte, brachte ihm einen hastig aufgeschriebenen Zettel von Jakob Hartmann.
Darauf standen nur wenige Worte: “Donnely Frau in schwerer Geburt, Familie bittet um Arzt. Etwas stimmt nicht. Kommen Sie sofort, wenn möglich. Es war das erste Mal, daß die Donneles einen Fremden um Hilfe baten. Ihre bisherige Geheimhaltung hatte niemals zugelassen, dass Außenstehende in ihre intimsten Angelegenheiten eindrang.
Dass sie nun Brenner rufen ließen, deutete auf eine Katastrophe hin, die sie nicht mehr allein bewältigen konnten. Brenner sattelte sein Pferd und machte sich bei sengender Sommerhitze auf den Weg. Als er nach einem beschwerlichen Ritt die Hütte erreichte, lag eine drückende Schwüle über dem Tal. Der Himmel war milchig, die Luft feucht, und schon beim Betreten des Hauses schlug ihm ein Geruch entgegen, der ihn sofort an die Grenze seiner Fassung brachte.