(1876, Spessart) Die Familie Donnelly: Deutschlands verstörendstes genetisches Geheimnis

Blut, Schweiß und darunter jener süßliche Verwesungsgeruch, der für ihn untrügliches Zeichen von Krankheit oder Tod war. In einem kleinen Zimmer lag Mer, kaum Jahre alt, im Geburtsbett, doch Brenner erkannte sofort. Dies war kein gewöhnlicher Geburtsvorgang. Die junge Frau brachte Zwillinge zur Welt, aber Zwillinge, die zusammengewachsen waren.

Die Säuglinge teilten einen Rumpf, hatten jedoch zwei Köpfe, vier Arme und zwei Beine. Brenner brauchte nur einen Blick, um zu wissen, dass eine Trennung in dieser Zeit unmöglich war. Sie schienen gemeinsame innere Organe zu haben. Ihr Atem ging stoßweise, ihr Herzschlag unregelmäßig. Ein Kind war etwas kräftiger, das andere bereits schwach, aber beide lebten.

Patrick Donnelly stand daneben, die Augen kalt, die Stimme hart wie Stahl. Sagen Sie uns ehrlich, Doktor, kann man sie trennen? Kann eines überleben? Brenner mußte den Kopf schütteln, nicht mit den Mitteln, die wir hier haben. Sie könnten Tage oder Wochen leben, aber nicht lange. Doch was ihn entsetzte, war nicht die medizinische Aussichtslosigkeit, sondern die Reaktion der Familie.

Kein Aufschrei, keine Verzweiflung, keine Tränen. Stattdessen eine seltsam routinierte Geschäftigkeit. Colleine und Shames reichten Instrumente und Tücher, als hätten sie das alles schon oft getan. Patrick und Bridget wechselten kaum ein Wort, doch ihre Handgriffe wirkten wie ein eingeübtes Ritual. Als Brenner sich umsah, entdeckte er unter dem Geburtsbett mehrere alte ledergebundene Bücher.

In ihnen fanden sich Zeichnungen von Neugeborenen mit Fehlbildung, sorgfältig datiert, mit Anmerkungen in irisch und Deutsch. Die Aufzeichnungen reichten Jahrzehnte zurück und zeigten eine Fülle von Mßbildungen. Spalten im Gaumen, überzählige Finger, verkümmerte Gliedmaßen, verkrümmte Wirbelsäulen. Bei jedem Eintrag stand eine Bemerkung wie lebensunfähig, unrein oder freigegeben.

Es war ein Archiv des Grauens, nicht nur medizinische Notizen, sondern Protokolle einer gezielten Auslese. Bridget bemerkte seinen Blick. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sprach sie mit klarer Stimme: “Das Blut muss rein bleiben, Herr Doktor. Wir dürfen keine Schwäche dulden, sonst geht die Linie zu Grunde. Unsere Vorfahren haben es uns gelehrt.

Was für Außenstehende wie Grausamkeit aussieht, ist in Wahrheit Gnade.” Ihre Worte klangen wie ein Glaubensbekenntnis und doch war es eines, das alles menschliche verhöhnte. Brenner fühlte Schwindel. Er verstand nun, daß diese Familie nicht nur Opfer von Zufällen oder harter Natur war, sondern systematisch nach einer eigenen, abartigen Logik handelte.

Sie töteten Kinder nicht aus Not, sondern aus Überzeugung. In jener Nacht wachte er über die Zwillinge. Er hörte ihr ungleichmäßiges Atmen, sah, wie das stärkere Kind verzweifelt um Leben kämpfte, während das Schwächere kaum noch regte. Zwischen seinen Aufzeichnungen studierte er die alten Journale.

Dort las er vom Begründer der Linie Fergus Donnelly, der schon im ausgehenden 18. im Jahrhundert überzeugt gewesen war, dass man Menschen züchten könne wie edles Vieh. Seine Kinder und Enkel hatten diese Ideen übernommen, sie in die neue Heimat getragen, sich unter falschen Namen versteckt und Generation für Generation die Linie fortgeführt.

Brenner erkannte den katastrophalen Fehler. Statt Verbesserung hatten die engen Verwandtschaftsehen einen Strudel aus Defekten, Missbildungen und Wahnsinn geschaffen. Und dennoch hielten die Donneli daran fest, geblendet von der Idee einer perfekten Blutlinie. Am dritten Tag nach der Geburt starben die Zwillinge, trotz aller Bemühung, trotz Brenners Fürsorge.

Sie atmeten noch eine Weile flach, bis die kleinen Körper still wurden. Patrick und Bridget nahmen es ohne sichtbare Emotionen hin, als sei es nur die Erfüllung einer bekannten Regel. Doch für Brenner war es der endgültige Beweis. Hier im Herzen Deutschlands hatte er die grausamste Form von Menschenzüchtung gesehen und er wußte, daß er die Wahrheit nicht für sich behalten konnte.

Der Tod der siamesischen Zwillinge war für Dr. Brenner eine Cesur. Er hatte schon vieles gesehen. Verwundete aus Kriegen, Bauern mit tödlichen Infektionen, Kinder, die an Difterie oder Schalach starben. Doch niemals war er Zeuge eines solchen Grauens geworden, einer Geburt, die nicht nur das Schicksal, sondern auch das Ergebnis einer jahrzehntelang gezielten Zuchtwahl war. Er konnte nicht länger zweifeln.

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