“Mein Urgroßvater Fergis”, erklärte er mit heiserer Stimme, “hatrannt, dass das Blut des Volkes verdorben war. Er wollte eine Linie schaffen, die rein ist, frei von Schwäche, frei von Makel. Wir haben seine Arbeit fortgeführt. Aber nun, nun tragen wir Lasten, die schwerer sind, als wir je gedacht haben. Brenner antwortete scharf: “Sie nennen es Last, aber in Wahrheit ist es Mord.
Elf Gräber hinter ihrem Haus und vermutlich noch mehr, die nicht gekennzeichnet sind. Jedes Kind, das nicht in ihr Bild paeseitigt.” “Das ist keine Reinheit, Herr Donnelie, das ist Barberei.” Patrick hob den Kopf. Und in seinen Augen lag ein fiebriges Glühen. Sie verstehen nicht, Doktor. Ohne Opfer gibt es keinen Fortschritt. Unsere Väter haben es bewiesen.
Wenn wir nachgeben, wenn wir Schwäche dulden, stirbt die Linie. Wir sind die Hüter einer Aufgabe, die Gott uns auferlegt hat. Diese Worte ließen Brenner frösteln, obwohl die Sommerhitze das Tal in einen Backofen verwandelte. Er sah vor sich keinen Vater, der um seine Kinder trauerte, sondern einen Mann, der zu einer Art Priester seines eigenen Warns geworden war.
Am nächsten Tag untersuchte Brenner heimlich erneut die Gräber hinter der Hütte. Kreuze zählte er, doch der Boden daneben war frisch aufgewühlt. Er erkannte, daß weitere Gruben vorbereitet waren, als hätte man bereits vorausgesehen, dass neue Opfer folgen würden. Die Journale, die er wieder einsehen durfte, offenbarten noch mehr.
detaillierte Skizzen, nicht nur von Mßbildung, sondern von inneren Organen, als hätte jemand Autopsien an Neugeborenen durchgeführt. Daneben standen nüchterne Bemerkungen wie Herz schwach, Lunge ungenügend, lebensunfähig. Brenner schloss das Buch mit zitternden Händen. Es war nicht nur eine Familientragödie, es war ein Experiment.
Kalt, berechnet, fortgeführt, über Jahrzehnte. Er wußte nun, ohne eingreifen würden noch viele Kinder sterben. Doch er ahnte auch, dass die Wahrheit kaum Glauben finden würde. Für die Behörden war er nur ein Arzt mit ungewöhnlichen Theorien. Für die Donnelies war er ein Eindringling, der ihre heilige Aufgabe bedrohte. So stand er in jenem Sommerabend vor der Hütte.
Das Zwielicht legte sich über das Tal und er spürte eine Entscheidung heranreifen. Er musste die ganze Wahrheit aufschreiben, selbst wenn sie ihn sein Ansehen, vielleicht sogar sein Leben kosten würde. Die Tage nach seinem zweiten Besuch bei den Donnels ließen Dr. Branner keine Ruhe.
In seinen Aufzeichnungen füllten sich Seite um Seite mit nüchternen Beschreibungen Geburtsfehler, genetische Muster, Symptome der Degeneration. Doch hinter jedem medizinischen Begriff stand für ihn ein Gesicht, eine Stimme, ein Schicksal. Er träumte von den Zwillingen, die drei Tage lang um ihr Leben gerungen hatten.
Er hörte Decklins unsichere Schritte im Traum wieder heilen, spürte Colines verstohlenen Blick und immer wieder tauchte das Bild der kleinen Gräber auf, die im Abendlicht wie eine makabre Buchhaltung des Todes daen. Im August desselben Jahres kam erneut ein Boote nach Würzburg. Diesmal nicht von Hartmann, sondern von einem Trapper aus dem Taubertal.
Er berichtete von Schreien aus der Hütte, die stundenlang anhielten und plötzlich verstummten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Er sprach von Gesängen in fremder Sprache, die mit monotoner Beharlichkeit durch die Sommernächte halten. Brenner wusste, etwas stand kurz davor zu eskalieren. Er entschloss sich einen letzten Versuch zu unternehmen, die Behörden wach zu rütteln.
Er schrieb einen ausführlichen Bericht an die königliche Regierung von Unterfranken, versehen mit Beweisen aus den Journalen, die er heimlich kopiert hatte. Er beschrieb die elf Kindergäber, die genetischen Auffälligkeiten, die systematische Verwandtenehe. Doch die Antwort ließ ihn verzweifeln. Man dankte ihm für seine medizinischen Beobachtung, bezeichnete den Rest jedoch als übertriebene Spekulation eines Gelehrten.
Die Beamten erklärten, es sei Sache der örtlichen Geistlichkeit, sich um abseitige Familienprobleme zu kümmern. Brenner erkannte, dass er allein war. Im September wagte er einen dritten Besuch bei den Donnelis. Der Weg durch den Spess war von herbstlichen Nebeln verschleiert und der Wald schien schweigend jede Spur von Leben zu verbergen.