Die Ironie ist greifbar: Der Mann, der die Brandmauer mit aller Härte verteidigt, wird von den Wählern selbst abgestraft. Seine harte Kante, die Geschlossenheit signalisieren sollte, wirkt offenbar brüchig und unglaubwürdig, wenn die eigenen Leute im EU-Parlament das genaue Gegenteil tun.

Doch der Alptraum für Friedrich Merz ist damit nicht zu Ende. Er wird noch düsterer, denn im politischen Spiel gibt es keine Vakuen. Wo einer fällt, steigt ein anderer auf. Und in diesem Fall ist es seine direkte politische Gegenspielerin: AfD-Chefin Alice Weidel. In derselben Umfrage, die Merz’ Niedergang dokumentiert, wird Weidels Aufstieg zementiert. Es ist ein Moment von ungeheurer symbolischer Kraft: Alice Weidel hat Friedrich Merz in der Kanzlerfrage offiziell überholt.
Es gibt nun mehr Deutsche, die sich Alice Weidel als Kanzlerin wünschen, als jene, die Friedrich Merz im Kanzleramt sehen wollen. Man muss diesen Satz zweimal lesen, um seine volle Tragweite zu erfassen. Die Vorsitzende jener Partei, die von allen anderen als extremistisch gebrandmarkt und durch die Brandmauer isoliert wird, genießt beim Volk mehr Zuspruch für das höchste Regierungsamt als der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der Volkspartei CDU. Zwar mag der Vorsprung knapp sein, doch die symbolische Wirkung ist verheerend für Merz und ein Triumph für Weidel.
Es ist der ultimative Beweis, dass die Strategie der Ausgrenzung nicht nur gescheitert ist, sondern sich ins Gegenteil verkehrt hat. Während Merz an Popularität verliert, gewinnt Weidel. Die AfD wird von Teilen der Bevölkerung offensichtlich nicht mehr nur als Protestpartei wahrgenommen, sondern als eine potenzielle Regierungsalternative.
Angesichts dieser katastrophalen Nachrichtenlage für die Union verwundert es kaum, dass Beobachter nun von einer groß angelegten Kampagne sprechen, einem Ablenkungsmanöver, das den Fokus von der eigenen Misere auf den politischen Gegner lenken soll. Führende CDU-Politiker wie Jens Spahn wiederholen mantramäßig das Narrativ von der AfD als “Putin-Partei”, einer Partei, mit der man niemals zusammenarbeiten könne. Gleichzeitig lancieren unionsnahe Medien wie die Bild-Zeitung Berichte über eine angebliche Spaltung der AfD-Spitze. Es heißt, die beiden Vorsitzenden, Alice Weidel und Tino Chrupalla, würden wegen des Putin-Kurses gegeneinander arbeiten.
Doch diese Versuche, den Gegner zu spalten und zu dämonisieren, werden von der AfD als durchsichtiges “Framing” und “Unsinn” abgetan. Es sei der verzweifelte Versuch, von den eigenen katastrophalen Umfragewerten und der internen Zerrissenheit der CDU abzulenken. Die AfD kontert prompt: Weidel und Chrupalla hätten in einem gemeinsamen Statement versichert, dass sie zusammen für Deutschland kämpfen und alles andere sekundär sei. Die Botschaft ist klar: Die AfD lässt sich nicht spalten, schon gar nicht von jenen, deren eigene Machtbasis erodiert.
Das Bild, das sich an diesem Tag zeichnet, ist das einer politischen Zeitenwende. Der Dammbruch in Brüssel war kein Zufall, sondern das Symptom einer tiefgreifenden Verschiebung. Er war der Moment, in dem der Druck, der sich in der Bevölkerung aufgebaut hat – sichtbar gemacht durch die Umfragen – ein Ventil fand. Die Abgeordneten der CDU im EU-Parlament haben möglicherweise pragmatischer gehandelt, als es ihre Parteiführung in Berlin wahrhaben will. Sie haben eine parlamentarische Mehrheit genutzt, die real existiert, um ein politisches Ziel zu erreichen, das sie und ihre Wähler für richtig halten – Brandmauer hin oder her.
Für Friedrich Merz ist dies ein Desaster. Er steht als ein König ohne Kleider da, als ein Parteiführer, dessen Autorität von den eigenen Leuten untergraben wird und dem die Wähler in Scharen das Vertrauen entziehen. Die Abstimmung im EU-Parlament hat bewiesen, was viele längst vermutet haben: Wenn die AfD stark genug ist, wird sie zur Gestaltungsmacht, die nicht ignoriert werden kann. Die Realität hat die Ideologie überholt.

Dieses Ereignis im EU-Parlament, gepaart mit den dramatischen Umfragewerten, ist mehr als nur eine schlechte Nachricht für die CDU. Es ist ein Signal an das gesamte politische Berlin. Die Bürger scheinen müde zu sein von ideologischen Grabenkämpfen und fordern Ergebnisse. Das Mantra “Die AfD wirkt”, oft als bloße Propaganda abgetan, hat durch die gemeinsame Abstimmung in Brüssel eine neue, reale Dimension erhalten. Es wurde bewiesen, dass die AfD schon jetzt, aus der Opposition heraus, in der Lage ist, Mehrheiten zu organisieren und Politik aktiv mitzugestalten.