Er stand dort. Er hat mich angesehen. “Das ist nur Erinnerung, Kind”, sagte Magdalena ruhig. “Er kann dir nie wieder etwas tun.” Anna schloss die Augen. Tränen liefen über ihre Wangen. “Er ist nicht mehr da”, flüsterte sie. “Aber er ist noch hier.” Sie legte die Hand auf ihre Brust. hier drin. Magdalena hielt sie fest, wie eine Mutter ihr Kind hält, und so verging der Herbst, der Winter und der Frühling.
Die Heide begann wieder zu blühen, doch die Erinnerung an Steinbrecher war noch lange nicht verblasst. Der Frühling nach dem Tod Steinbrechers brachte eine trügerische Ruhe über die Lüneburger Heide. Die Heideblüten färbten die Felder lila und die Wege zwischen Wacholder und Kiefern waren von weichem Nebel überzogen, der morgens wie ein Schleier über dem Boden hing. Für viele Dorfbewohner wirkte die Landschaft friedlicher, doch diese Ruhe war zerbrechlich wie dünnes Glas.
Unter der Oberfläche brodelten ungelöste Fragen und unausgesprochene Schuldgefühle. Einige Familien wollten mit dem ganzen Fall nichts mehr zu tun haben. Andere wie Abundius Meer waren überzeugt, dass man noch nicht alles entdeckt hatte. “Die Erde gibt ungern Preis, was man ihr anvertraut”, sagte er einmal zu Bürgermeister Brand, und es schwang eine düstere Wahrheit darin.
Während Dinge weiterhin Berichte verfasste und mit Experten sprach, begann Anna im Kloster ein neues Kapitel ihres Lebens. Sie war nicht mehr die schweigende gebrochene Gestalt, die man aus dem Stall gerettet hatte, doch sie war auch weit entfernt von einem Menschen, der frei atmete. Zwischen den sanften Ritualen des Klosters, den festen Gebetszeiten, dem friedlichen Summen der Nonnen und dem Geräusch des Besens auf dem Steinboden, fand sie eine langsame, tastende Stabilität.
Eines Tages, als ein warmer Frühlingstag die Mauern des Klosters mit goldenem Licht durchzog, saß Anna im Garten und nähteischdecke für das Refektorium. Schwester Helena, die Jüngste im Orden, setzte sich neben sie. “Deine Nähte sind wunderschön”, sagte sie leise. Anna blickte kurz auf, fast erschrocken über das Kompliment.
“Es ist nur Arbeit”, antwortete sie, “aber sie ist gleichmäßig. Ruhig, das ist selten. Wenn ich nicht arbeite, sagte Anna nach einem langen Atemzug, denke ich zu viel. Helena nickte. Arbeit kann eine Brücke sein, aber irgendwann musst du auch ans andere Ufer treten. Anna sah sie an und zum ersten Mal seit langem war in ihren Augen etwas wie trotz zu erkennen.
Ich weiß nicht, ob ich das kann. Doch, sagte Helena sanft. Nur nicht heute. In diesen Wochen besuchte Dingemann das Kloster, um erneut mit Anna zu sprechen. Diesmal nicht über Beweise, sondern über Erinnerungen, die er für seinen Bericht brauchte. Schwester Magdalena begleitete sie zu jedem Gespräch. Anna erzählte ruhig, aber ohne große Details.
Dinge man drängte nie. Wir wollen nichts Sensationslüsternis, sagte er einmal. Wir wollen Wahrheit und Würde. Anna wußte nicht, ob es ihr gefiel, dass jemand über sie und ihre Schwestern schreiben würde. Doch Magdalena erklärte ihr, wie wichtig es sei, dass niemand vergesse, was geschehen war.
“Nicht, um es immer wieder zu durchleben”, sagte sie, “sondern damit es sich nicht wiederholt.” Währenddessen veränderte sich auch das Dorf. Einige Dorfbewohner übernahmen die Pflege der Grabstätten der Schwestern. Jeden Sonntag legten andere frische Heidekrautbüschel nieder. Besonders auffällig war, dass immer wieder jemand Blumen am Denkmal für Patrizia Hermann ablegte. Niemand wusste, wer es war.
Manche vermuteten Abundius, andere eine der Frauen aus dem Dorf. Einige meinten sogar, es sei Anna selbst, die heimlich in der Nacht gekommen war. Doch Anna verließ das Kloster nie ohne Begleitung und sie hatte nie darum gebeten. Es blieb ein Dorfgeheimnis, ein schönes stilles Geheimnis. Der Staatsanwalt verbrachte zu dieser Zeit viele Nächte damit, eine abschließende Dokumentation zu verfassen.
Er sah den Fall nicht nur als ein Verbrechen, sondern als eine Mahnung an die Gesellschaft. “Niemand darf so isoliert leben, dass sein Leben im Verborgenen verschwindet”, schrieb er. Und niemand darf so alleine gelassen werden, daß seine Schmerzen ungehört bleiben.