Viele Dorfbewohner mieden noch immer den Weg, der einst zum Steinbrecherhof geführt hatte, obwohl dort nur noch verkohlte Erde und einige vom Gras halbüberwucherte Steinfundamente übrig waren. Manche sagten: “Nichts höre man dort ein Flüstern im Wind.” Andere sagten: “Das sei nur Aberglaube.” Doch selbst die mutigsten fühlten sich unwohl, wenn sie in der Nähe vorbeigingen.
Währenddessen schrieb Anna weiter in ihr neues Heft. Anfangs nur wenige Worte am Tag, später ganze Absätze. Es war für sie wie ein leiser innerer Prozess, der nicht erzwungen werden durfte. Schwester Magdalena las nichts davon, obwohl sie hätte fragen können. Anna wußte, daß die Oberin ihr genug vertraute, um sie selbst entscheiden zu lassen, wann und ob jemand anderes ihre Aufzeichnungen sehen durfte.
Die Nonnen unterstützten Anna, aber sie erkannten, dass es etwas gab, das kein Gebet und keine Handarbeit ersetzen konnte, die Rückeroberung ihrer eigenen Stimme. Und genau das war es, worauf Enna sich konzentrierte. In Eichenmo selbst machte sich das Leben ebenfalls langsam wieder breit.
Ein neuer Pfarrer ersetzte Emil vorübergehend, während dieser seine Genesung im Kloster fortsetzte. Der neue geistliche Pfarrer Berthold, ein ruhiger Mann mit sanfter Miene, bemühte sich um Hoffnungspredigten, doch er spürte, wie tief die Wunden der Gemeinde waren. Er sprach oft über die Pflicht der Gemeinschaft, fürinander einzustehen. Diese Worte fielen besonders auf fruchtbaren Boden bei den jüngeren Dorfbewohnern, die den Schmerz ihrer Eltern und Großeltern nicht sofort verstanden, aber Verantwortung zu spüren begann.
Staatsanwalt Dingemann, der inzwischen zum regelmäßigen Besucher des Dorfes geworden war, schloss in dieser Zeit seine Dokumentation ab. Er hatte monatelang Berichte gesammelt, Aussagen verglichen, medizinische Gutachten und psychologische Einschätzungen eingeholt. Viele Kollegen rieten ihm, den Fall ruhen zu lassen. “Zu grausam”, sagten sie. “Die Leute wollen das nicht lesen.
” Dingemann aber antwortete jedes Mal. Dann sollen sie lernen, hinzusehen. Und so verfaßte er eine Chronik. Keine sensationslüsterne Schrift, sondern ein nüchternes, aber erschütterndes Werk, das die gesamte Tragödie dokumentierte, von den ersten auffälligen Einkäufen Steinbrechers bis zu seinem Tod im Moor.
Er schickte eine Kopie an das Kloster, eine an den Bürgermeister und eine an Anna selbst. Als Magdalena ihr das Paket überreichte, zögerte Anna lange, bevor sie es öffnete. Schließlich hob sie den schweren Umschlag an, spürte das Gewicht der Seiten darin und legte ihn dann behutsam zur Seite. Später sagte sie, ich werde es lesen, wenn ich bereit bin.
Eines Tages, als die Hitze besonders drückend war und die Luft über dem Klostergarten flimmerte, erschien unerwartet Rafael Mertens wieder. Er war älter geworden in diesen wenigen Monaten oder vielleicht nur ernster. In seinen Händen hielt er ein Manuskript, sauber gebunden, mit einem schlichten Titelblatt: “Die Töchter der Heide!” Schwester Helena führte ihn zu Anna.
Diese saß unter einem alten Apfelbaum und nähte ein neues Altartuch. Als sie Rafael sah, lächelte sie kaum merklich. “Du bist zurück.” “Ja”, sagte er. und ich habe etwas für dich, erreichte ihr das Manuskript. Anna strich mit den Fingerspitzen darüber, als müßte sie erst fühlen, ob es wirklich existierte. “Ich habe es fertig gestellt”, sagte Rafael.
“Das Buch handelt nicht von deinem Vater, es handelt von euch.” Anna senkte den Blick. “Ich weiß nicht, ob ich das lesen kann.” “Du musst nicht”, antwortete er. Nicht jetzt, nicht jemals, wenn du nicht willst. Aber andere werden es lesen. Andere werden wissen, wer ihr wart, was ihr überlebt habt, dass ihr mehr wart als Opfer. Anna schwieg eine Weile, dann sagte sie: “Bleibst du heute Abend?” “Wir essen einfach, nur essen.” Rafael nickte. “Ja, ich bleibe.
” Der Abend war ruhig. Die Nonnen hatten eine einfache Mahlzeit zubereitet. Kartoffelsuppe, Brot, etwas Käse. Rafael nahm an dem langen Holztisch Platz und für einen Moment fühlte es sich an, als wäre er ein Teil der Gemeinschaft. Anna sprach wenig, aber ihre Augen ruhten manchmal auf ihm und Magdalena bemerkte mehr als einmal, dass in ihrem Blick etwas Sanftes lag.