Manche baten um Rat oder Gebete. Die Beziehung zwischen Dorf und Kloster war enger geworden. Es war, als hätten die Menschen instinktiv begriffen, dass Heilung ein gemeinsamer Prozess war. Dingemann reiste im Oktober erneut an. Er hatte Neuigkeiten. Sein Bericht sollte in einer juristischen Fachzeitschrift veröffentlicht werden.
Es wird ein wichtiges Zeichen sein sagte er. Der Fall Steinbrecher wird nicht in Vergessenheit geraten. Anna nickte. Danke eigentlich müsste ich dir danken sagte Dingemann, dass du überlebt hast und dass du gesprochen hast. Die Worte trafen Anna tief, denn lange Zeit hatte sie gedacht, daß ihr Überleben ein Fehler war, eine Laune des Schicksals.
Doch langsam erkannte sie, dass ihre Stimme, so brüchig sie auch war, eine Bedeutung hatte. In den Wochen darauf begann sie mehr zu schreiben, nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über das, was sie sah, fühlte, wovon sie träumte. Schwester Helena entdeckte eines Abends eine Seite, die Anna versehentlich auf dem Tisch hatte liegen lassen.
Eine zarte Zeichnung von Heideblüten, daneben Worte, die wie ein Gedicht klangen. “Das hast du geschrieben?”, fragte die junge Nonne. Anna errötete, nickte aber. “Es ist schön”, sagte Helena. “Sehr schön.” Und so begann Anna neben ihren Aufzeichnungen über ihre Schwestern auch Gedichte zu verfassen.
Kleine fragile Gedichte über Licht, Erde, Dunkelheit und Hoffnung. Sie zeigte sie niemanden, aber sie schrieb und das war genug. Eines Tages, kurz vor dem ersten Frost, stand Rafael wieder im Klosterhof. Diesmal hielt er keinen Stapel Papiere in den Händen, sondern ein kleines Holzkästchen. “Für dich”, sagte er. Anna öffnete es vorsichtig.
Darin lag ein Federhalter aus dunklem Holz, fein poliert, mit einer geschwungenen Metallspitze. “Damit du weiterschreibst”, sagte Rafael, “nicht nur für deine Schwestern, für dich.” Anna schloss das Kästchen, drückte es an sich und sagte erstmals etwas, dass sie monatelang nicht sagen konnte. Danke, Rafael.
In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie saß an ihrem Tisch, zündete eine Kerze an und schrieb Seite um Seite, nicht über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft, über Wege, die sie noch gehen wollte, über ein Leben, das vielleicht mehr war als Schmerz. Währenddessen veränderte sich auch das Dorf weiter.
Ein neuer Schulmeister wurde eingestellt, der Wert auf Bildung und Gemeinschaft legte. Eine kleine Stiftung wurde gegründet, die Kindern aus armen Familien half. Die Menschen sagten, es sei ein Zeichen des Neuanfangs. Dingemann führte mehrere Gespräche mit dem Bürgermeister und stellte die Idee vor, das ehemalige Gelände des Steinbrecherhofs neu zu bepflanzen. Eine Gedenkstätte, nicht laut.
nicht prunkvoll, nur ein stiller Ort, an dem Menschen verweilen konnten. Abundius Meer spendete das erste Geld dafür, damit die Erde, die so viel Leid getragen hat, sagte er, auch etwas Gutes hervorbringen kann. Und so wurde geplant, dort Wacholdersträucher und Heidekraut zu setzen, ein paar Bänke aufzustellen und eine kleine Tafel anzubringen.
Es sollte kein Ort des Schreckens sein, sondern ein Ort des Gedenkens. Als der Winter kam, zog sich die Welt in Stille zurück. Das Kloster erschien im Schnee wie ein ruhiger, schützender Ort und Erna fühlte sich dort sicherer als je zuvor. Doch tief in ihr wuchs eine Ahnung, ein Gefühl, daß das Leben sie weiterführen wollte.
Wohin wußte sie nicht, aber sie spürte, dass sie nicht für immer im Kloster bleiben würde. Und als der erste Schnee fiel, dachte sie, während sie die Flocken auf ihrer Hand schmelzen sah, vielleicht gibt es für mich einen Weg. Der Winter legte sich schwer über die Lüneburger Heide. Schneeschichten glitzerten im fahen Licht der kurzen Tage und das Knirschen der Schritte halte in der klaren, frostigen Luft wie ein Echo aus einer anderen Welt.
Das Kloster lag still zwischen den verschneiten Bäumen und die Nonnen bewegten sich leise durch die Gänge, als wollten sie den Schlaf der Natur nicht stören. Für Anna aber war dieser Winter anders als die vorherigen. Zum ersten Mal konnte sie ihn wahrnehmen, ohne dass Erinnerungen ihr die Kehle zuschnürten.