Zum ersten Mal betrachtete sie Schneeflocken nicht mit Angst, sondern mit einer Art neugieriger Ruhe. Es war ein seltsames Gefühl, ungewohnt, aber nicht unangenehm. Die Schwestern bemerkten die Veränderung. Anna wirkte gefasster, ihre Bewegungen geschmeidiger, ihre Stimme klarer. Zwar hielten Albträume sie noch immer gelegentlich wach, doch sie klang danach nicht mehr wie ein gehetztes Tier, sondern wie ein Mensch, der gelernt hatte, wieder zu atmen.
Eines Tages, während eines besonders strengen Frosts, erschien Rafael erneut im Kloster. Sein Mantel war mit Schnee bedeckt und seine Wangen glüht rot von der Kälte. Als Anna ihn sah, spürte sie ein warmes Ziehen in der Brust. Ein Gefühl, das sie nicht benennen konnte, aber dass sie nicht mehr ignorieren wollte. “Du bist weit gereist”, sagte sie.
“Der Zug hatte Verspätung und dann noch der Weg hierher.” “Aber das macht nichts.” Er lächelte. “Ich wollte dich sehen.” Enna errötete leicht. Sie führte ihn in den Gemeinschaftsraum, wo Schwester Helena heiße Hagebuttensuppe servierte. “Wie geht es dir?”, fragte Rafael. Anna dachte einen Moment nach. “Ich schreibe noch immer und ich schlafe besser.
” Das freut mich. Es entstand eine Stille zwischen ihnen, aber keine unangenehme. Eine Stille, die etwas birgt, wie ein Raum, der auf etwas wartet. Dann holte Rafael ein Päckchen aus seiner Tasche. Das ist für dich. Anna öffnete es vorsichtig. Darin lag ein Buch. Nicht irgendein Buch. Es war sein Buch.
Die Töchter der Heide stand darauf, schlicht und würdevoll. Es ist gedruckt, flüsterte Anna. Ja, es wird ab Frühling in mehreren Buchhandlungen verkauft. Anna strich über das Cover, als streichle sie über etwas Lebendiges. “Du hast ihnen ein Gesicht gegeben”, sagte sie leise. “Du hast ihnen ein Leben zurückgegeben. Ich habe nur aufgeschrieben, was du mir erzählt hast.” Enna lächelte schwach.
Dann hast du gut zugehört. In den Wochen darauf wurde das Buch bekannt. Nicht überall, aber genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. Einige Zeitungen lobten seine Einfühlsamkeit, andere kritisierten es als zu sentimental. Doch alle waren sich in einem einig. Die Geschichte der Steinbrecherschwestern durfte nicht vergessen werden.
Dingemann schrieb Rafael einen Brief voller Dankbarkeit. Phara zitierte einige Passagen in seiner Predigt über die Stärke der Schwachen. Und in Eichenmor sprachen die Menschen leise, aber respektvoll darüber. Doch während die Welt außerhalb des Klosters die Geschichte entdeckte, stand Anna an einem Wendepunkt.
Sie merkte mit jedem Tag deutlicher, dass sie nicht für immer im Kloster bleiben konnte. Trotz der Sicherheit, die die Mauern boten, rief etwas in ihr, ein Gefühl, das sie lange nicht verstanden hatte. Freiheit. Eines Morgens, als der Schnee schon begann zu schmelzen und die ersten Schwarzkählchen wieder sangen, ging Anna zu Schwester Magdalena.
Die Oberin saß am Tisch und sortierte Briefe. Als sie Anna sah, wusste sie sofort, dass etwas Wichtiges bevorstand. “Ich muss weggehen”, sagte Anna. Magdalena nickte. “Wohin möchtest du gehen?” “Ich weiß es nicht. Noch nicht.” Anna rang mit den Händen. Aber ich möchte leben, nicht nur überleben.
Ich möchte ich möchte wissen, wer ich bin, wenn er nicht mehr über mir steht. Magdalena erhob sich und nahm Annas Hände. Du hast lange genug in seinem Schatten gelebt, Kind. Es ist Zeit für dein eigenes Licht. Diese Worte lösten etwas in Anna, etwas Zartes, aber starkes. Ein paar Tage später traf sie sich mit Rafael im Garten des Klosters.
Der Schnee war geschmolzen und einige mutige Krokosse durchbrachen bereits die Erde. “Ich werde gehen”, sagte Anna. “Wohin?”, fragte Rafael. “Ich weiß es nicht.” “Und wirst du zurückkommen?” Anna antwortete nicht sofort. Vielleicht, flüsterte sie schließlich. Vielleicht werde ich heimen, aber zuerst muss ich weg. Ich muss lernen, was es heißt, frei zu sein.
Rafael senkte den Blick. Als er wieder aufsah, lag darin keine Enttäuschung, nur Verständnis und leise Sorge. “Dann gehe”, sagte er, “aber geh nicht allein.” Anna hob die Augenbrauen. “Ich werde dich nicht festhalten”, sagte er ruhig. Aber ich werde an deiner Seite gehen, solange du es willst.