Eines Abends, als sie in einem kleinen Gasthaus saßen und warmer Apfelkuchen vor ihnen stand, fragte Rafael sie vorsichtig: “Anna, hast du einen Wunsch für die Zukunft?” Anna dachte lange nach. Ich möchte lernen. Was denn? Lesen. Richtig lesen. Schreiben kann ich, aber lesen. Sie senkte den Kopf. Er hat uns das nie erlaubt. Rafael legte die Gabel weg. Dann wirst du lesen lernen.
Ich bringe es dir bei. Oder wir finden jemanden. Du wirst alles lernen können, was du willst. Anna blickte ihn an, die Augen weit, verletzlich. Alles, alles. Und in ihrem Blick entstand ein neues Licht. Leise, aber klar. Nach etwa zwei Wochen reisten sie weiter nach Braunschweig, wo Rafael einen Bekannten hatte, einen alten Professor August Refeld, der an der dortigen pädagogischen Hochschule lehrte.
Der Mann war groß, schmal, mit weißem Bart und lebendigen Augen hinter einer runden Brille. Als Rafael Anna vorstellte, verbeugte sich der Professor leicht. “Raapael hat mir schon viel von ihnen erzählt”, sagte er freundlich. “Sie möchten lernen?” Anna nickte, wenn Sie Geduld mit mir haben. Refeld lachte sanft. Meine Liebe, wenn ich eines habe, dann Zeit und die Freude daran, Menschen etwas beizubringen. Anna verbrachte die nächsten Tage damit, Buchstaben zu lernen.
Sie setzte sich an den großen Holztisch des Professors und Rafael beobachtete sie manchmal von der Tür aus. Sie schrieb sorgfältig, manchmal stockend, manchmal mit einem leisen Fluch, der den Professor zum Schmunzeln brachte. Es ist schwer, sagte sie einmal. Alles, was zu lernen sich lohnt, ist am Anfang schwer, erwiderte er. Nach zwei Wochen konnte Anna einfache Sätze lesen.
Nach drei Wochen kurze Geschichten. Nach vier Wochen las sie laut für laut eine Passage aus einem kleinen Märchenbuch. Als sie fertig war, Sare fällt sie stolz an. Sie sind eine bemerkenswerte Frau Anna. Diese Worte trafen sie tief. Noch nie hatte jemand so über sie gesprochen.
Eines Abends auf dem Rückweg durch die alte Gasse, die vom Haus des Professors zum Gasthaus führte, blieb Anna stehen. Rafael: “Ja, ist es möglich, dass ich etwas werde? Etwas anderes als das, was ich war?” Rafael trat näher. Anna, du bist schon jetzt nicht mehr das, was du warst. und du wirst noch viel mehr werden.” Er nahm ihre Hand und zum ersten Mal drückte Anna seine Hand zurück, ohne zu zittern.
Als der Frühling vollständig in die Stadt einzog, traf Anna eine Entscheidung. “Ich möchte bleiben”, sagte sie eines Morgens in Braunschweig. “Eine Weile. Rafael nickte. Ich bleibe bei dir. Ich weiß nicht, wie lange, egal wie lange. Und so mieten sie ein kleines Zimmer mit Blick auf einen Innenhof, in dem ein alter Kirschbaum stand. Anna lernte weiter.
Rafael schrieb an neuen Artikeln. Abends saßen sie zusammen, hörten das Zwitchern der Vögel oder das ferne Rattern der Straßenbahn. Doch obwohl Anna nun eine neue Welt betrat, trug sie die Alte noch in sich und diese alte Welt sollte sie bald wieder einholen, nicht in Form von Schmerz, sondern als etwas, das noch nicht abgeschlossen war.
Denn Anna hatte zwar gelernt zu leben, doch um wirklich frei zu sein, mußte sie noch lernen zu vergeben oder wenigstens zu verstehen. Und genau das sollte in den kommenden Monaten auf sie warten. Die Monate in Braunschweig veränderten Anna stärker, als sie es sich je hätte vorstellen können. Ihr Leben nahm eine neue Form an. Tagsüber lernte sie lesen und schreiben.
Abends kochte sie einfache Mahlzeiten, während Rafael an seinem Schreibtisch Manuskripte überarbeitete. Der Kirschbaum im Innenhof blühte in einem zarten Rosa und wenn der Wind die Blütenblätter löste, fielen sie wie Schnee durch das offene Fenster, leise, friedlich, wie eine Erinnerung daran, dass Schönheit auch nach langen Wintern wiederkehrt. begann Stadtgeräusche nicht mehr als Bedrohung wahrzunehmen.
Das Klirren von Geschirr aus der benachbarten Wohnung, das Rattern der Straßenbahn, das Lachen der Menschen auf dem Pflaster. All das wurde Teil eines neuen Rhythmus. Sie fühlte sich noch oft unsicher, aber sie wusste, dies war jetzt ihr Weg. Professor Refeld wurde zu einer Art Großvaterfigur für sie. Er brachte ihr Geduld bei, zeigte ihr Bücher über Pflanzen, über Geschichte, über Märchen und Legenden.