Doch hervor drang nur ein gequältes, ersticktes Geräusch. Dann drehte sie sich ruckartig um und rannte, so schnell es ihr Zustand zuließ, in die Heide davon. Fort, fort, als hetzte sie ein unsichtbarer Schrecken. Patrizia lief ins Dorf zurück, völlig außer Atem, und suchte Pfar Emil Krämer auf, den Seelsorger der kleinen weißgetünchten Kirche am Dorfplatz.
Der Pfarrer, ein Mann um diezig, mit wettergegerärbtem Gesicht und zitternden Händen. Man munkelte über seine Vorliebe für Obstbrand, hörte ihr zu, während er nervös seine Finger verschränkte. “Vielleicht hat sie sich mit einem Jungen eingelassen”, murmelte er ohne Überzeugung. “Herr Pfarrer, sie wissen genau, dass diese Mädchen nie allein ins Dorf kommen. Irgendetwas stimmt dort nicht.
” Fahrer Emil holte tief Luft. Er wußte, daß Patrizia recht hatte, doch Friedrich Steinbrecher war kein Mann, den man unüberlegt gegenüber trat. Einst im Jahrzehn hatte ein fahrender Händler versucht am Hof Waren anzubieten und Friedrich hatte ihn mit einem Gewehr bedroht, ihn über den Hof gejagt, fluchend und schreiend: “Er solle nie wieder zurückkommen.
” “Ich werde mit ihm sprechen”, versprach der Pfarrer, aber er wusste selbst, es war ein leeres Versprechen. Er sollte nie dazu kommen. Nur eine Woche später verschwand Patrizia Hermann. Niemand sah sie je wieder. Die Nachricht über Patrizias Verschwinden traf Eichenmor wie ein Donnerschlag.
Ihre Mutter, Frau Soledart Hermann, durchkämpte verzweifelt jeden Winkel des Dorfes, klopfte an Türen, fragte jeden, der ihr begegnete. Der letzte Mensch, der Patrizia gesehen hatte, war eine Bauersfrau, die sie auf dem Weg nach Norden vorbei am Weg, der zum Steinbrecherhof führte, gesehen hatte. Das genügte, um das ganze Dorf in Alarm zu versetzen.
Der Bürgermeister von Eichenmo Hilarius Brand, ein kleiner nervöser Mann, der stets einen geflochten Strohhut trug, stellte eine Suchtruppe zusammen. Zehn Männer mit Jagdgewehren und Laternen ausgestattet ritten hinaus in die Heide. Drei Tage suchten sie durch Heidekraut, durch Sandkughlen, durch Kieferninseln. Kein Haar, kein Tuchfetzen, keine Spur.
Am vierten Tag erreichten sie den Hof von Friedrich Steinbrecher. Der Mann stand bereits in der Tür, das Gewehr in den Armen, als hätte er sie erwartet. “Wenn ihr dieses Klatschweib sucht, hier ist sie nicht”, sagte er mit heiserer, abweisender Stimme. “Wahrscheinlich ist sie mit irgendeinem Herumtreiber durchgebrannt. Solche Mädchen sind schwach.
” Bürgermeister Brand wollte etwas erwidern, aber der kalte Blick des Mannes ließ ihm die Worte im Hals erstarren. Die Suchtruppe zog sich zurück, eingeschüchtert und ratlos. Der Fall wurde offiziell als Verschwinden in unruhigen Zeiten eingestuft und zu den Akten gelegt. Die Jahre floss dahin, doch die Unruhe blieb.
Die Dorfbewohner beobachteten Steinbrechers monatliche Besuche im Laden weiterhin aus den Augenwinkeln, spürten die kalte Schwere, die ihn umgab. Und dann im Jahr6 veränderte sich alles. Friedrich kam nicht mehr in den Ort. Ein Monat verging, dann zwei, dann drei. Abundius Meer, der trotz des Unbehagens um seinen verlorenen Kunden bankte, entschloss sich selbst zum Hof zu fahren.
Mit ihm ritt sein Sohn Markus, 16 Jahre alt, ein neugieriger kluger Bursche, der eigentlich Lehrer werden wollte. Der Weg war beschwerlich, sandige Senken, steinige Pfade, trockene Bachbetten. Als am späten Nachmittag endlich das Anwesen sichtbar wurde, färbte der untergehende Himmel die Heide in Flammenfarben und der Hof wirkte wie ein böses schwarzes Auge darin. Das Tor hing offen, vom Wind hin und her geworfen.
Kein Hühnergeger, kein Blöken von Ziegen, kein Hund der Bälte. Stille. Markus schluckte. Vater, irgendetwas stimmt nicht. Doch Abundius konnte jetzt nicht umkehren. Herr Steinbrecher rief er laut. Hier ist Abundius Meer. Brauchen Sie nur der Wind antwortete. Sie stiegen ab. Die Haustür ließ sich mit einem Knarren weiter aufstoßen. Ein Geruch schlug ihnen entgegen wie eine Wand.
Feulnis, Exkremente und etwas Süßliches, das sich in die Haut zu brennen schien. Markus prste eine Hand vor den Mund. Bei Gott. Die Stube war verwüstet, Möbel lagen umgestürzt, Geschirr zerbrochen, dunkle Flecken zogen sich über die Wände. Doch das Schlimmste lag hinter den Türen der Zimmer. Die erste war von außen verriegelt, ungewöhnlich genug für ein Wohnhaus.