Der Kommissar saß an seinem üblichen Schreibtisch, den Bauch auf dem Gürtel und einen halb aufgegessenen Teller Bohnen. Er blickte auf, und in seinen Augen sah Carolina etwas Schlimmeres als Gleichgültigkeit. Sie sah Angst. Señora Mendoza wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
„Sie haben meinen Bruder mitgenommen“, sagte Carolina mit heiserer Stimme. „Wissen Sie, wer Coyote Salazar und seine Leute sind?“ Der Kommissar blickte sich nervös um, als suche er vergeblich nach Hilfe. „Hören Sie, Doña Carolina, ihm ist etwas Schlimmes zugestoßen, aber nichts Schlimmes. Sie sind hier die Autorität. Folgen Sie ihm.“ Der Mann lachte lustlos, ein hohles Lachen, das in der Stille der Bar widerhallte.
Ich folge dem Schleuser. Ma’am, der Mann hat 30 Gewehre und kennt jeden Winkel des Berges. Ich habe zwei Assistenten und zusammen mit uns dreien nur einen halben Verstand. Er wollte sich umbringen. Dann war er ein Feigling. Der Kommissar errötete, stand aber nicht auf. Er wusste, dass ich Recht hatte. Das sind revolutionäre Zeiten, Ma’am. Jeder ist sich selbst der Nächste.
Wenn Villa mit diesen Mistkerlen nicht klarkommt, was soll ich dann tun? Carolina lehnte sich an den Tisch, so nah, dass sie den Mezcal in seinem Atem riechen konnte. Meine Schwester ist 16. Weiß sie, was sie mit ihr vorhaben? Weiß sie, wohin sie sie verkaufen wollen? Der Kommissar wandte den Blick ab und schluckte. Es tut mir leid, wirklich, aber ich kann Ihnen nicht helfen.
Carolina spuckte auf den Boden, nur wenige Zentimeter von ihren Stiefeln entfernt. „Mögest du in der Hölle schmoren, Kommissar!“, rief sie. Ihre Hände zitterten vor Wut. Der Platz war leer, der Wind wirbelte Staub von den Steinen. Sie setzte sich an die ausgetrocknete Quelle, den Kopf in den Händen, und spürte, wie alles zusammenbrach: keine Hilfe, keine Waffen, kein Pferd.
Wie sollte er María finden? Die Wüste hatte die bewaffneten Männer verschlungen, und sie war nur noch eine gebrochene Frau. Doña Carolina blickte auf. Ein alter Mann stand vor ihr, vom Alter gebeugt, doch seine Augen funkelten noch immer von etwas, das Würde ähnelte. Don Esteban, der Schmied des Ortes, war der Einzige, der vor Jahren den Mut gehabt hatte, sich dem Kojoten entgegenzustellen und überlebt hatte, um die Geschichte zu erzählen, auch wenn es ihn drei Finger seiner linken Hand gekostet hatte.
„Don Esteban, ich weiß, was passiert ist“, sagte sie mit gebrochener Stimme, „und ich weiß, dass hier niemand etwas unternehmen wird. Alle haben Angst. Ich habe auch Angst. Ich will Sie nicht anlügen, aber ich kann nicht länger schweigen.“ Er reichte ihr etwas, das in einen alten Lappen gewickelt war. Carolina öffnete es. Ein schwerer Revolver mit abgenutzten Holzgriffschalen. Sie erkannte die Waffe sofort.
Es war der Revolver seines Vaters, mit dem er ihm als Jungen das Schießen beigebracht hatte, bevor er an einer Lungenentzündung starb. Da sein Vater ihn mir vermacht hatte, sagte er mir, ich solle ihn dir geben, falls ich ihn wirklich bräuchte. Don Esteban schloss die Augen. Ich glaube, dieser Tag ist gekommen.
Carolina nahm die Pistole und spürte ihr vertrautes Gewicht in der Hand. In dem Lappen lagen fünf Kugeln, fünf Schuss. Don Esteban sagte: „Geh weise damit um. Der Kojote schlägt sein Lager dort auf, wo der Fluss zwischen den roten Felsen hinter der Bergkette zusammenfließt. Aber Frau, du wirst es nicht lebend dorthin schaffen, wenn du allein gehst. Diese Straße ist tödlich. Mir egal. Du musst vorsichtig sein.“
Wenn er in der Wüste stirbt, wer wird María retten? Carolina stand auf und steckte den Revolver in den Bund ihres Kleides. „Dann werde ich nicht sterben.“ Don Esteban sah sie mit einem Ausdruck zwischen Bewunderung und Mitleid an. „Gott sei mit dir, Doña Carolina. Gott war nicht da, als ich ihn brauchte. Jetzt bin ich allein.“ Er ging nach Norden, dorthin, wo die Sonne wie flüssiges Blei untergegangen war, hin zu der Bergkette, die sich am Horizont wie die abgebrochenen Zähne eines toten Tieres erhob.
Er hatte kein Essen, nicht genug Wasser, kein Pferd, nur fünf Kugeln und einen Schmerz, der die ganze Wüste in Brand setzen konnte. Jeder Schritt auf dem rissigen Boden war ein neues Versprechen. Er würde Maria finden, selbst wenn er über Glasscherben kriechen musste, selbst wenn die Wüste ihm den letzten Tropfen Blut aussaugte. Am ersten Tag lief er, bis seine Beine zitterten, die Sonne seine Haut brannte und die trockene Luft seine Lungen verätzte.