Sie legte die Arme um ihn und ließ das, was sie zerstören würde, geschehen. Der nächste Morgen begann still, doch das Schweigen war nicht Frieden, sondern Vorahnung. Der Schnee hatte die Spuren in der Nacht fast ausgelöscht. Fast. Doch im Dorf blieb kein Geheimnis lange verborgen. Ein Holzfäller, der früh durch den Wald gegangen war, hatte sie gesehen.
Zwei Gestalten vor der alten Kapelle, im Licht der Dämmerung, zu nah, zu vertraut. Er erzählte es seiner Frau, sie erzählte es ihrer Nachbarin und bevor die Sonne das Tal erreichte, wußte das halbe Dorf, daß Sophie Münzer sich mit ihrem Bruder getroffen hatte. Als Sophie nach Hause kam, war Johann bereits wach.
Er saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt und als sie die Tür öffnete, sah er auf. Seine Augen waren blut unterlaufen und auf dem Tisch lag ein Brief. Der Brief. Ich habe ihn gefunden”, sagte er tonlos, “Unter deiner Matratze.” Sophie stand da, unfähig, ein Wort zu sagen. Der Schnee tropfte von ihrem Mantel, das Haar hing ihr ins Gesicht. “Warst du bei ihm?”, fragte Johann.
Seine Stimme war ruhig, zu ruhig. Sie wollte lügen, aber die Wahrheit stand in ihrem Blick, nackt und ungeschützt. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, so heftig, daß der Becher fiel und zerbrach. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Hast du denn gar keine Scham mehr? Ich liebe ihn, flüsterte sie.
Liebe? Seine Stimme überschlug sich. Nenn das nicht Liebe. Nenn es, was es ist. Verdammnis. Ich kann’s nicht ändern, Vater, rief sie und Tränen liefen über ihr Gesicht. Ich habe gebetet. Ich habe gefastet. Ich habe Gott angefleht, mir das Gefühl zu nehmen. Aber er hat geschwiegen. Er schweigt immer. Johann schwieg lange, dann stand er auf.
Dann schweigt jetzt auch dieses Haus. Du bist keine Tochter mehr unter meinem Dach. Er ging hinaus in den Schnee und schloss die Tür hinter sich. Sophie blieb stehen, die Hände an der Brust und das Schweigen im Haus dröhnte lauter als jedes Wort. Gegen Mittag kam die Nachricht. Zwei Männer aus dem Dorf standen vor der Tür, der Schmied, der Bäcker und hinter ihnen Frau Helen, deren Gesicht vor falscher Frömigkeit glänzte.
“Herr Münzer ist bei uns im Wir”, sagte der Schmied. “Er ist nicht wohl. Vielleicht sollten sie kommen.” Sophie ging mit, zitternd vor Kälte und Angst. Als sie das Wirtshaus betrat, verstummten die Gespräche. Alle starrten sie an mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier. Johann saß am Tisch, ein Glas vor sich, leer.
Er sah sie an, sein Gesicht grau, die Augen rot. Sophie”, sagte er heiser. “Sie wissen es alles.” Frau Helene trat hervor, die Hände gefaltet, als wäre sie in der Kirche. “Es tut mir leid, Kind”, sagte sie mit falscher Milde, “aber Gott sieht alles und was im Dunkeln geschieht, muss ans Licht.” Sophie blickte sie an, und in ihrem Blick lag etwas, das selbst die alte Frau verstummen ließ.
Sie wissen nichts über Licht”, sagte sie leise. “Sie leben vom Schatten anderer. Aber das half nichts. Das Urteil des Dorfes war gesprochen. Noch am selben Abend begann die Hetze. Steine flogen gegen das Fenster. Jemand hatte mit Kreide Schande an die Tür geschrieben. Kinder riefen: “Hure des Bruders!” und Erwachsene schwiegen. Niemand kam mehr in den Laden. Niemand sprach sie an.
Johann ließ das Kreuz von der Wand nehmen, das seit Jahrzehnten über der Tür hing. “Ich kann nicht beten”, sagte er, “Nicht in diesem Haus.” Anna, die alles sah, schwieg, aber sie begann nachts zu weinen, leise, damit niemand es hörte. Eines Nachts ging Sophie hinaus, allein, barfuß im Schnee.
Sie ging zum Birnenbaum, der jetzt schwarz und kahl im Winterwind stand. Dort blieb sie stehen, hob das Gesicht zum Himmel. Wenn das Liebe ist, Herr, warum lässt du sie so schmerzen? Es kam keine Antwort, nur der Wind, der in ihrem Kleid zerrte. In der Ferne, jenseits des Waldes, saß Lukas in einer armseligen Hütte, den Kopf in die Hände gestützt.
Er spürte, daß etwas geschehen war, daß das Band, das sie verband, sich spannte bis zum Zerreißen. Er stand auf, nahm seinen Mantel und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf, das ihn verstoßen hatte, zu der Frau, die ihn zugleich verdammt und erlöst hatte. Der Schnee fiel dichter, der Himmel war schwarz und irgendwo im Tal begann eine Kirchenglocke zu schlagen.