Lukas sprach kaum noch mit jemanden. Er wich blicken aus, verließ das Haus früh und kehrte spät zurück. Die Münzers, einst eine der angesehensten Familien in St. Georgen, wurden plötzlich mit Flüstern begleitet. Im Wirzhaus zwischen Bierkrügen und Karten senkten die Männer die Stimmen, wenn Johanns Name fiel.
“Er war immer stolz”, murmelte einer. “Zu stolz vielleicht. Jetzt fällt das Haus von innen auseinander.” Frau Helene Baumgartner hatte wie erwartet den ersten Stein geworfen. Sie erzählte, sie habe Sophie und Lukas spät abends im Hof gesehen, zu nah, zu vertraut.
So schaut kein Bruder seine Schwester an, hatte sie gesagt, und die Frauen nickten, schockiert und begierig zugleich. Sophie spürte den Wandel. Im Laden wurde sie kälter begrüßt. Die Nachbarinnen kamen seltener. Kinder tuschelten, wenn sie vorbeiging. Und jedes Mal, wenn sie den Fahrer sah, sank sie in sich zusammen. Eines Nachmittags, als Johann beim Flügen war, stand plötzlich Frau Helen vor der Tür.
Ich bringe Kräuter für Anna gegen die Kopfschmerzen”, sagte sie. Doch ihre Augen wanderten unruhig durch die Küche, über die Stühle, die Ofenbank, als suchten sie nach Beweisen. Sophie zwang sich zu einem Lächeln. “Das ist sehr freundlich, Frau Helen. Du bist blass geworden, Kind. Die Arbeit oder etwas anderes.” Die Stimme war honigsüß, aber der Blick starch wie eine Nadel.
Sophie öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus. In diesem Moment betrat Lukas den Raum, verschwitzt, das Hemd offen, die Hände noch schmutzig von der Arbeit. Helene sah, wie ihre Blicke sich trafen. Einen Moment zu lang, zu still. Sie wusste genug. “Ich wünsche euch Gottes Segen”, sagte sie und ging mit einem Lächeln, das nichts Gutes verhieß.
Am Abend saß Johann auf der Bank vor dem Haus. rauchte seine Pfeife und sah in die Ferne. “Helene war heute hier”, sagte er schließlich. Lukas, der neben ihm Holz spaltete, hielt inne. “Was wollte sie?” “Kräuter bringen”, sagt sie, “aber ich kenne sie. Wenn sie kommt, bringt sie nicht nur Kräuter, sondern Geräe.
” Sophie, die im Haus den Tisch deckte, erstarrte. “Was redet sie?”, fragte Lukas. Johann sog an der Pfeife. Dummes Zeug, aber dummes Zeug kann gefährlich werden, wenn es sich in Köpfen festsetzt. Es folgte ein Schweigen, das schwer wie Nebel zwischen ihnen hing. Dann sah Johann seinen Sohn an.
Du warst immer eigenwillig, Lukas. Aber manche Dinge darf man nicht eigen sein. Es gibt Regeln, die älter sind als wir alle. Und wer sie bricht, verliert mehr als nur ansehen. Lukas blickte auf, seine Kiefer angespannt. Manchmal Vater, sind Regeln nur Ketten. Johann antwortete nicht, doch sein Blick, hart und wachsam folgte ihm, als er ins Haus ging.
In dieser Nacht regnete es. Sophie lag wach, hörte das Prasseln der Tropfen auf dem Dach, das ferne donnern. Sie dachte an Lukas, an die Worte ihres Vaters, an Helen. Das Netz zog sich zu. Sie stand auf, nahm ihr Tuch und ging barfuß hinaus in den Garten. Der Regen durchnäste sie, doch sie spürte ihn kaum. Am Rand des Hofes stand der alte Birnbaum, unter dem Lukas oft saß.
Dort fand er sie, reglos im Regen. “Warum tust du das?”, fragte er. Weil ich das Gefühl habe, daß Gott mich längst verlassen hat”, flüsterte sie. Er trat zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter. “Wenn Gott uns verlassen hat, dann sind wir füreinander geblieben.” Sie sah ihn an und in diesem Blick lag alles: Schuld, Verzweiflung, Liebe.
Ein Blitz zuckte über den Himmel und für einen kurzen Moment standen sie dort, zwei verlorene Seelen im Regen, während über ihnen der Donner grollte. wie göttlicher Zorn. Die Tage danach waren von einer unheimlichen Stille erfüllt. Niemand sprach offen über das, was im Dorf gemunkelt wurde.
Doch in den Blicken der Menschen lag etwas, das Sophie den Atem nahm. Selbst beim Kirchgang schien die Luft schwer. Der Pfarrer predigte über Versuchung und Buße und obwohl er keinen Namen nannte, wußte jeder, wen er meinte. Sophie hielt den Rosenkranz so fest in der Hand, daß ihre Finger bluteten.
Lukas stand hinten, den Kopf gesenkt, die Muskeln angespannt wie Seile. Nach der Messe verließen sie getrennt die Kirche, doch ihre Schritte halten gleich. Johann Münzer bemerkte, dass seine Nachbarn sich verändert hatten. Früher grüßte man ihn mit Respekt, jetzt mit höflicher Distanz. Im Wirzhaus verstummten Gespräche, wenn er eintrat.