Ein Postbote, der zu viel trank, ein neugieriges Auge in der Schenke, ein Name, der zu oft in den Papieren auftauchte. Bald wussten alle, dass ein Brief aus dem Ausland an Sophie Münzer gekommen war. Es dauerte keine Woche, bis die Gerüchte wieder auflammten.
“Er schreibt ihr wieder”, flüsterte die Bäckerin in der Schlange beim Milchladen. “Er ist nicht tot, dieser Bursche, und sie wartet noch immer auf ihn. Man sagt, sie betet nicht mehr in der Kirche, sondern für ihn, für ihn, für einen Teufel. Die Worte wurden zu Dolchen, die Sophie in jeder Begegnung spürte. Kinder tuschelten, Männer lachten leise, Frauen zogen die Röcke beiseite, wenn sie vorbeiging.
Sogar der Pfarrer, der sonst Milde war, schaute sie beim Abendgebet an, als müsse er sich erinnern, dass auch Sünderinnen Seelen haben. Johann schwieg, doch sein Schweigen war schlimmer als jede Anschuldigung. Er hatte gesehen, wie Sophie den Brief erhielt. Er hatte ihr Zögern bemerkt, ihr stilles Zittern. Er wollte glauben, daß es nur ein Abschied war, ein letzter Rest vergangener Schmach.
Doch tief in seinem Herzen wußte er, daß sein Sohn, obwohl fort, noch immer in diesem Haus lebte, nicht als Mensch, sondern als Schatten, der die Wände verdunkelte. Eines Abends, als die Dunkelheit früh hereinfiel und das Haus nur vom Herdlicht erhält wurde, trat er in die Küche. Sophie saß am Tisch, die Hände um eine Tasse gelegt, unbeweglich. “Ich hab’s gehört”, sagte er leise.
“Die Leute reden wieder.” Sie sah nicht auf. “Sie werden immer reden.” “Ja”, murmelte er, “Solange sie leben und vielleicht auch danach.” Dann trat er näher. Ich will, daß du mir den Brief gibst.” Sie hob den Blick langsam, mit einer Müdigkeit, die älter wirkte als sie selbst. “Er gehört mir. Er ist Gift, Sophie”, sagte er. “Er hält dich in der Vergangenheit fest.
Du musst ihn vernichten. Wenn ich ihn verbrenne, verbrenne ich mich selbst”, antwortete sie. Johann zitterte, ballte die Fäuste. Dann soll’s so sein, aber nicht unter meinem Dach. Er griff nach der Tasse, stieß sie um. Der Tee ergoss sich über den Tisch und Sophie wich zurück. Vater, bitte.
Doch seine Stimme brach und er drehte sich weg. Ich habe dich verloren, Kind. Ich weiß nicht, wann es geschehen ist. Vielleicht in jener Nacht, vielleicht schon früher. In dieser Nacht konnte keiner im Haus schlafen. Der Wind peitschte gegen die Fenster und irgendwo im Wald heulte ein Hund. Sophie lag wach, den Brief an ihre Brust gedrückt.
Sie dachte an Lukas, irgendwo weit weg, vielleicht in einer Miene, vielleicht unter einem fremden Himmel. Und sie wußte, wenn er noch einmal schreiben würde, würde sie antworten, egal was es sie kostete. Ein paar Tage später kam der zweite Brief. Kein Poststempel, keine Marke, nur ein Name auf dem Umschlag, in derselben unruhigen Schrift. Sophie.
Sie öffnete ihn mit zitternden Händen. Ich bin zurück in Deutschland, nicht weit. Ich kann dich nicht vergessen. Wenn du willst, komm morgen Abend zur alten Kapelle am Waldrand. Kein Wort zu niemandem. Nur ein letztes Mal, bevor ich weitergehe. Das Papier fiel ihr aus der Hand. Sie spürte, wie ihr Herz raste und gleichzeitig wie etwas in ihr zerbrach.
die letzte Mauer zwischen Pflicht und Sehnsucht. Sie wußte, daß sie gehen würde. Sie wußte auch, daß sie dafür bezahlen würde. Am nächsten Abend, als die Dämmerung über das Tal fiel und der Schnee unter ihren Schritten knirschte, schlich sie sich aus dem Haus. Sie trug ein schwarzes Tuch, den Mantel ihrer Mutter. Hinter ihr blieb das Licht der Küche zurück, schwach und flackernd.
Der Wald lag still, nur der Wind flüsterte zwischen den Ästen. Vor der alten Kapelle stand Lukas, abgemagert, mit einem Bart, den sie kaum erkannte, aber dieselben grünen Augen, die sie einst in den Abgrund gezogen hatten. “Ich wusste, du kommst”, sagte er. Sie trat näher, die Tränen gefroren auf ihren Wangen.
“Warum bist du hier?” “Weil ich ohne dich nicht leben kann.” Sie wollte sprechen, doch er nahm ihre Hand, preßte sie an seine Brust. “Ein letztes Mal”, flüsterte er, “dann verschwinde ich für immer.” Sophie zitterte, der Schnee fiel leise, die Glocke in der Ferne schlug acht, und dann tat sie das, was sie geschworen hatte, nie wieder zu tun.