Der Wind wehte sanft, trug einen schwachen, süßlichen Geruch mit sich, den er sofort erkannte. Lavendel, vermischt mit etwas Bitterem. Er blieb lange stehen. Die Stille war vollkommen. Kein Vogel, kein Insekt, kein Laut, nur das Pochen seines Herzens. Er kniete sich nieder, berührte die Erde. Sie war warm, zu warm für den kühlen Morgen. Er zog die Hand zurück, sah die feine Spur von Rauch, die zwischen seinen Fingern aufstieg und im Wind verschwand.
Nicht verbrannt, flüsterte er, nur schlafend. In diesem Moment glaubte er, eine Stimme zu hören. Leise, klar, weiblich, nicht böse, nicht drohend, fast sanft. Wir sehen weiter. Thomas stolperte zurück. Das Herz raste, doch da war nichts, nur Wind, nur Bäume, nur Erde. Er ging rückwärts, den Blick nicht abwend.
Dann drehte er sich um und lief. Den ganzen Abstieg über hörte er das Summen oder glaubte es zu hören. Mal nah, mal fern, mal ganz still. Erst als er den Rand des Dorfes erreichte, verstummte es. In der Nacht blieb er im Gasthof wach, das Gesicht zum Fenster, den Himmel über den Bergen beobachtend. Kein Feuer, kein Licht, nur Dunkelheit.
Und trotzdem er wusste, der Hügel atmete langsam. geduldig wie etwas, das Zeit hat. Am nächsten Morgen fuhr er zurück nach Freiburg. Niemand wusste, daß es seine letzte Reise war. Zwei Wochen später fand ihn der Hausknecht in seiner Wohnung am Schreibtisch den Kopf auf die Schreibmaschine gesunken. Auf dem Papier stand nur ein Satz.
Das Lied hat keinen Anfang und kein Ende. Der Herbst zog über Freiburg, als Thomas Abenrad beerdigt wurde. Ein kleiner Friedhof am Rande der Stadt, ein kalter Wind, nur wenige Menschen. Der Chefredakteur, zwei Kollegen, ein Pfarrer, der kaum ein Wort über den Toten wusste. Der Himmel war grau, der Regen feiner Staub und das Geräusch der Erde auf dem Holz des Sages klang wie das Schließen eines Buches, das niemand zu Ende gelesen hatte. Niemand sprach von dem, was er gesehen hatte.
Niemand wagte, den Namen der Schäferschwestern zu nennen. Die Freiburger Zeitung brachte einen Nachruf. Ein furchtloser Sucher der Wahrheit, dessen Federlicht in das Dunkel trug. Doch im Archiv auf der obersten Etage, wo seine Manuskripte lagerten, fand man etwas, das nie veröffentlicht wurde.
Ein Heft in graues Leder gebunden, ohne Titel, darin lose Blätter, halbgeschriebene Notizen, Fragmente, Träume. Und auf der letzten Seite in seiner schmalen, müden Handschrift: “Es ist nicht das Böse, das uns zerstört. Es ist das Schweigen, das es nährt. Wenn niemand hinsieht, wachsen Wurzeln aus den Knochen. Nach seinem Tod erschien noch ein Artikel in einer Berliner Zeitschrift, anonym.
Der Verfasser behauptete, er sei Teil der Untersuchungskommission gewesen, die den Hof der Schäferschwestern nach dem Brand erneut untersucht hatte. Er beschrieb, was unter der Erde gefunden worden war. Ein zweiter Keller, tief ohne Treppe mit Mauern aus Stein und Boden, der noch warm war, darin Spuren von Ritualen, Kräutern, Blut und etwas, das man nicht zuordnen konnte.
Gebeine, die zu klein waren für erwachsene Männer. Die Zeitschrift wurde kurz darauf eingezogen. Der Artikel verschwand aus den Archiven. Die Einheimischen erzählten sich später, daß in den Jahren nach dem Brand kein Tier mehr an jenem Ort graste. Der Boden blieb schwarz, auch wenn ringsum wieder Gras wuchs.
Jäger berichteten, sie hätten in manchen Nächten von fern ein Singen gehört, als käme es aus der Erde selbst. Ein leises, gleichmäßiges Summen, das mit dem Wind kam und im Nebel wieder verschwand. Viele Jahre später, als das Dorf längst elektrisches Licht hatte und die Straßen asphaltiert waren, kam ein neuer Pfahrer.
Er ließ auf dem Hügel ein kleines Holzkreuz errichten, schlicht, ohne Inschrift. Nur drei Worte: Herr, vergib uns. Die Alten sagten: “Es war besser so. Man sollte die Dinge ruhen lassen, die tiefer als Wurzeln liegen. Doch manche Nächte, wenn der Wind aus dem Westen kam, glaubten sie etwas zu hören.
Ein Wispern, ein Hauch, kaum mehr als ein Gedanke. Wir sind noch da. Und unten im Archiv in einer staubigen Schublade lag das Foto, das Thomas Abrad einst über seinem Schreibtisch aufgehängt hatte. Die verbrannte Scheune, die Balken wie gebrochene Rippen, der Himmel darüber grau. in der Ecke des Bildes fast unsichtbar eine Bewegung, ein Schatten, der aussieht, als würde jemand stehen oder vielleicht zwei