Teil 2: Das Echo der Sünde. Als das wahre Gesicht des “weißen T0des” enthüllt wird, erkennen die Bewohner von Wolfshain, dass die Bestie nicht mit Reißzähnen tötet. Sie vernichtet sie durch den Hass und das Misstrauen, das sie gegeneinander hegen. Um sie zu bekämpfen, müssen sie sich einer noch schrecklicheren Wahrheit stellen: Der Fluch kommt nicht von der Bestie, sondern entspringt einer Sünde des Verrats, die seit Jahrhunderten begraben liegt.

Teil 2: Das Echo der Sünde

 

Die Nacht des Feuers hinterließ in Wolfshain eine Narbe, die tiefer ging als der Verlust der Ernte. Sie brannte die letzte Hoffnung aus den Herzen der Dorfbewohner und ersetzte sie durch eine kalte, alles verzehrende Angst. Der weiße Hund, den sie einst “Schneeflocke” genannt hatten, wurde nun nur noch im Flüsterton als “die Bestie” oder “der weiße Tod” bezeichnet. Er war kein Tier mehr, sondern die physische Manifestation des Unheils, das über sie gekommen war.

 

Nach dem Brand verschwand die Kreatur nicht. Im Gegenteil, ihre Präsenz wurde noch spürbarer. Man sah sie am Rande des Friedhofs sitzen, als würde sie auf die nächsten Toten warten. Manchmal erschien sie vor dem Fenster eines Kranken und blickte mit ihren leeren Bernsteinaugen hinein, bis der letzte Atemzug verklungen war. Die Kinder wagten sich nicht mehr zum Spielen nach draußen, und die Erwachsenen verbarrikadierten sich bei Einbruch der Dunkelheit in ihren Häusern. Wolfshain war zu einem Gefängnis aus Angst geworden, und der Dämonenhund war ihr Wärter.

 

Die Harmonie des Dorfes war vollständig zerbrochen. Die Menschen, die einst wie eine große Familie gelebt hatten, sahen sich nun mit Argwohn und Hass an. Jeder war davon überzeugt, dass ein Nachbar durch eine verborgene Sünde den Fluch auf das Dorf gezogen hatte. Die Suche nach einem Sündenbock begann, eine verzweifelte Jagd, die die Gemeinschaft noch weiter zerriss.

Inmitten dieses Chaos war es Elara, die weise Frau, die erkannte, dass Gewalt und Anschuldigungen sie nicht retten würden. Sie verstand, dass die Bestie sich von ihrer Angst und ihrem Hass nährte. Jedes böse Wort, jeder misstrauische Blick machte sie stärker. “Ihr kämpft gegen einen Schatten, indem ihr mehr Dunkelheit schafft”, ermahnte sie die verängstigten Dorfbewohner, die sich vor ihrer Hütte versammelt hatten. “Diese Kreatur ist nicht die Krankheit. Sie ist nur das Symptom. Sie ist ein Echo aus der Vergangenheit, eine Schuld, die nie beglichen wurde.”

Konrad, der einst so skeptische Dorfvorsteher, war nun ein gebrochener Mann. Die Last der Verantwortung und die schreckliche Erkenntnis seines Irrtums drückten ihn zu Boden. Er suchte Elara auf, sein Stolz war längst der Verzweiflung gewichen. “Was meinst du mit Schuld, Elara? Welche Sünde lastet auf diesem Dorf?”

Elara führte ihn in den hintersten Winkel ihrer mit Kräutern gefüllten Hütte. Aus einer alten, eisenbeschlagenen Truhe holte sie eine vergilbte Chronik hervor, das geheime Geschichtsbuch von Wolfshain, das nur von den Weisen des Dorfes weitergegeben wurde. Ihre knöchernen Finger strichen über die Seiten, bis sie eine fast verblasste Passage fand.

Ihre Stimme war ein leises Murmeln, als sie vorlas. Die Legende erzählte von den Gründervätern von Wolfshain, die vor Jahrhunderten in dieses Tal kamen, um der Armut und dem Krieg zu entfliehen. Doch das Land war unfruchtbar und der Winter hart. In ihrer Verzweiflung schlossen sie einen Pakt mit einer alten, namenlosen Macht, die im tiefsten Teil des Waldes hauste. Sie versprachen Wohlstand für das Dorf, im Austausch für ein Opfer. Doch es war kein Tieropfer, das die Macht verlangte. Es war das Opfer der Loyalität. Sie mussten den unschuldigsten unter ihnen, einen treuen Gefährten, der ihnen auf ihrer langen Reise gefolgt war – einen reinweißen Hund –, im Herzen des Waldes aussetzen und ihn seinem Schicksal überlassen, als Zeichen, dass ihr Überleben über allem stand, sogar über der Treue.

Die Männer taten, wie ihnen geheißen. Sie verrieten das Tier, das ihnen vertraut hatte. Der Legende nach starb der Hund nicht an Hunger oder durch die Klauen wilder Tiere. Er starb an einem gebrochenen Herzen. Und aus seinem unschuldigen Blut und seinem unermesslichen Schmerz wurde ein rachsüchtiger Geist geboren – der Quỷ Cẩu. Ein Dämon, gefangen in der Gestalt seiner früheren Unschuld, dessen rote Nase für immer das Zeichen des Verrats und des vergossenen Blutes trug. Der Fluch besagte, dass die Bestie alle paar Generationen zurückkehren würde, nicht um zu töten, sondern um zu zerstören, was die Dorfbewohner am meisten schätzten: ihre Einheit, ihr Vertrauen, ihre Menschlichkeit. Sie war dazu verdammt, den Verrat zu wiederholen, indem sie die Menschen dazu brachte, sich gegenseitig zu verraten.

Konrad hörte mit Entsetzen zu. Die Geschichte fühlte sich an wie ein vergifteter Dolch in seinem Herzen. “Also… ist das der Grund?”, stammelte er. “Wir zahlen für die Sünden unserer Vorfahren?”

“Ja”, antwortete Elara. “Die Bestie ist der Richter über unsere Seelen. Sie prüft, ob wir noch immer fähig sind zu dem gleichen Verrat wie unsere Ahnen. Und bisher”, ihre Stimme wurde bitter, “bestehen wir diese Prüfung nicht.”

Diese Erkenntnis veränderte alles. Der Kampf war nicht mehr gegen ein Monster aus Fleisch und Blut gerichtet, sondern gegen ein Erbe, einen inneren Dämon. Konrad und Elara wussten, dass sie die Dorfbewohner überzeugen mussten. Aber wie konnte man Menschen, die von Angst zerfressen waren, zur Vernunft bringen?

Währenddessen wurde der Einfluss des Dämonenhundes immer perfider. Er hörte auf, nur ein passiver Beobachter zu sein. Er begann, aktiv Illusionen zu weben. Ein Mann sah seinen verstorbenen Bruder, der ihm zuflüsterte, dass sein Nachbar seinen Tod verschuldet hatte. Eine Mutter hörte die Stimme ihres kranken Kindes, die sie anflehte, eine “böse” Nachbarin zu verletzen, um geheilt zu werden. Der Hund spielte mit ihren tiefsten Ängsten und Sorgen, verdrehte ihre Liebe und ihre Trauer zu Waffen des Hasses.

Der Höhepunkt des Wahnsinns wurde erreicht, als eine Gruppe von Männern, angeführt von dem Bauern, der seine Ernte im Feuer verloren hatte, beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Mit Fackeln und Heugabeln bewaffnet, zogen sie in den Wald, um die Bestie zu jagen und zu töten. Sie waren blind vor Wut und Trauer. “Wir werden das Böse ausrotten!”, schrien sie.

Elara und Konrad versuchten sie aufzuhalten, aber es war vergeblich. Sie sahen nur zu, wie der Mob in der Dunkelheit des Waldes verschwand. Sie wussten, dass dies genau das war, was die Kreatur wollte. In den dunklen, nebligen Wäldern, wo jeder Schatten zu einem Monster werden konnte, wartete der Dämonenhund auf sie. Er musste sie nicht einmal angreifen. Er musste nur ihre Paranoia schüren. Ein Rascheln im Gebüsch, ein knackender Ast, ein weißer Schemen, der zwischen den Bäumen huschte – das reichte aus. In ihrer panischen Angst begannen die Männer, sich gegenseitig anzugreifen. Schreie hallten durch die Nacht, nicht von einem Monster, sondern von Menschen, die in ihren Freunden und Nachbarn Dämonen sahen.

Am nächsten Morgen kehrten nur wenige zurück, verletzt an Körper und Seele. Sie hatten die Bestie nicht gefunden, aber sie hatten sich gegenseitig gefunden. Der Wald war getränkt vom Blut des Misstrauens. Wolfshain stand am Abgrund, seine Gemeinschaft in Stücke gerissen. Auf demselben Hügel, von dem aus er das Feuer beobachtet hatte, saß der weiße Hund und blickte auf das Dorf herab. Ein leises, fast unhörbares Wimmern kam aus seiner Kehle, ein Laut, der sowohl nach Triumph als auch nach unendlichem Leid klang. Der Verrat war vollendet.

 

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