(1852) Die makabre Geschichte der Familie Kraus: Großmutter redete immer noch in ihrem Grab

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Im Herbst des Jahres 1852 erreichte die erste Meldung über die Familie Kraus die örtlichen Behörden des Landkreises Harz, unweit der kleinen Gemeinde Klaustal. Die Wälder, die das Oberharzer Bergland umspannten, lagen bereits unter einem kühlen, hartnäckigen Nebel, der alles in eine gedämpfte, unheilvolle Atmosphäre hüllte. Was zunächst als harmlose Beschwerde über nächtliche Ruhestörung begann, sollte sich als einer der beunruhigendsten Fälle entwickeln, die in den Archiven der Region verzeichnet sind.

Die Familie Kraus lebte seit drei Generationen in einem abgelegenen Bauernhof am Rande des Oberharzer Berglands. Das Anwesen, etwa vier Kilometer südlich von Klaustal gelegen, war über einen schmalen Waldweg erreichbar, der sich zwischen hohen, dunklen Tannen hindurchschlängelte und kaum befahren wurde. Heinrich Kraus, fünfzig Jahre alt, bewirtschaftete das Land gemeinsam mit seiner Frau Margarete und ihren drei Kindern: Wilhelm, neunzehn, Anna, sechzehn, und dem jüngsten Sohn Friedrich, der gerade zwölf Jahre alt geworden war.

Was die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner erregte, waren die nächtlichen Geräusche, die vom Kraus’schen Anwesen zu hören waren. Zunächst beschrieben die Nachbarn – soweit man bei der Entfernung von Nachbarn sprechen konnte – ein monotones Gemurmel, das in den frühen Morgenstunden aus Richtung des Hofes zu vernehmen war. Der nächstgelegene Nachbar, Johann Müller, dessen eigener Hof etwa anderthalb Kilometer entfernt lag, berichtete dem Gemeindeschreiber von Stimmen, die sprächen, wenn alle schlafen sollten.

Die Kraus-Familie selbst zeigte sich bei den ersten Befragungen wortkarg. Heinrich Kraus erklärte lediglich, seine Mutter Martha, die im hohen Alter von achtundsiebzig Jahren im vergangenen Winter verstorben war, habe in ihren letzten Monaten oft verwirrt gesprochen. Die Familie habe sich daran gewöhnt, auch nach ihrem Tod gelegentlich noch Stimmen zu hören. Ein Phänomen, das der Dorfpfarrer zunächst als normale Trauerreaktion einstufte.

Doch was in den folgenden Wochen geschah, ließ diese einfache Erklärung zunehmend fragwürdig erscheinen. Die Geräusche verstärkten sich nicht nur, sondern nahmen einen spezifischen Charakter an. Mehrere Zeugen berichteten unabhängig voneinander, dass die Stimme deutlich als die der verstorbenen Martha zu identifizieren war – eine Frau, die für ihre markante, etwas heisere Sprechweise im ganzen Dorf bekannt gewesen war.

Der Gemeindeschreiber Friedrich Weber, ein methodischer Mann, der detaillierte Aufzeichnungen über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse in seinem Zuständigkeitsbereich führte, notierte in seinem Bericht vom 15. Oktober 1852: „Die Familie zeigt eine auffällige Ruhe angesichts der Berichte. Während die Nachbarschaft zunehmend beunruhigt ist, reagieren die Mitglieder der Familie Kraus mit einer Gelassenheit, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet.“

Ein Detail sollte sich als besonders bedeutsam erweisen: Martha Kraus war bereits seit dem 12. Februar 1852 auf dem Friedhof von Klaustal begraben. Ihr Grab, gekennzeichnet durch ein einfaches Holzkreuz mit der Inschrift Martha Kraus, 1774–1852, Ruhe in Frieden, lag etwa fünfzig Meter vom Hauptweg entfernt, umgeben von alten Eichen. Was die örtlichen Behörden zunächst nicht wussten: Die Stimme, die die Nachbarn hörten, sprach nicht nur – sie führte Gespräche.

Das Leben der Familie Kraus war über Jahrzehnte von einer fast erdrückenden Routine geprägt gewesen. Martha Kraus hatte nach dem frühen Tod ihres Mannes im Jahr 1831 die Führung des Haushalts übernommen und war zur unumstrittenen Autorität der Familie geworden. Nachbarn beschrieben sie als eine Frau von unnachgiebiger Strenge, die ihre Familie mit eiserner Hand regierte.

Ihre Schwiegertochter Margarete sprach nur selten, und nur dann, wenn sie direkt angesprochen wurde. Die Kinder bewegten sich durch das Haus, als würden sie ständig darauf achten, keinen Lärm zu verursachen. Pastor Wilhelm Hartmann, der die Familie über Jahre hinweg beobachtet hatte, notierte in seinem Tagebuch mehrfach Bedenken über die unnatürliche Stille im Kraus’schen Haushalt. Bei seinen seltenen Besuchen fiel ihm auf, dass Gespräche abrupt endeten, wenn er den Raum betrat.

Das Haus selbst schien diese Atmosphäre zu verstärken. Die Räume im Erdgeschoss – eine große Küche, eine Stube und eine kleine Kammer – waren sparsam eingerichtet und peinlich sauber gehalten. Auffällig war, dass alle Fenster im Obergeschoss schwere, dunkle Vorhänge hatten, die auch tagsüber meist zugezogen blieben.

Martha Kraus hatte eine besondere Gewohnheit entwickelt. Jeden Abend nach dem Gebet ging sie allein in ihre Kammer und sprach dort leise vor sich hin. Die Familie hatte sich an diese Routine gewöhnt und betrachtete sie als Teil von Marthas zunehmender Altersverwirrtheit. Heinrich erklärte später den Behörden: „Seine Mutter habe mit den Schatten gesprochen“, eine Aussage, die er nie weiter erläuterte.

Die Wintermonate von 1851 auf 1852 waren besonders hart gewesen. Mehrere Wochen lang lag der Hof unter einer dicken Schneedecke, praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. In dieser Zeit wurde Martha Kraus zunehmend schwermütig und sprach oft von unerledigten Angelegenheiten. Sie bestand darauf, dass bestimmte Gegenstände – eine kleine Holzschatulle, ein vergilbtes Notizbuch und ein Silberkreuz – immer in ihrer unmittelbaren Nähe bleiben mussten.

Als der Frühling kam und die Wege wieder passierbar waren, zeigten sich erste Anzeichen von Marthas Verfall. Sie vergaß häufig Namen und verwechselte Personen, sprach aber weiterhin jeden Abend in ihrer Kammer, allerdings jetzt nicht mehr leise, sondern in einem Ton, der durch das ganze Haus zu hören war. Der Tod kam im Februar 1852 nach einer kurzen Krankheit. Pastor Hartmann führte eine unauffällige Beerdigung durch, bei der nur wenige Dorfbewohner anwesend waren.

Die Familie Kraus zeigte auch bei der Beisetzung jene eigentümliche Fassung, die Außenstehende als kalt empfanden. Nach der Beerdigung kehrte auf dem Hof eine Stille ein, die noch drückender war als zuvor.

Die ersten Berichte über ungewöhnliche Aktivitäten erreichten die Gemeindeverwaltung in der zweiten Septemberwoche 1852. Johann Müller suchte den Gemeindeschreiber auf und berichtete von nächtlichen Stimmen, die er seit einigen Wochen aus der Richtung des Kraus’schen Hofes zu hören glaubte.

„Es klingt nach Gesprächen“, berichtete Müller, „aber immer ist eine Stimme deutlich lauter als die anderen. Diese lautere Stimme erkannte ich zweifelsfrei als die von Martha Kraus.“

Was Müllers Bericht besonders beunruhigend machte, war die Regelmäßigkeit der Beobachtungen. Die Stimmen waren immer zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden zu hören, meist gegen zwei oder drei Uhr. Sie kamen eindeutig aus dem Inneren des Kraus’schen Hauses, nicht etwa vom Friedhof.

Der Gemeindeschreiber Weber beschloss, die Angelegenheit diskret zu untersuchen. Am 18. September 1852 suchte er Heinrich Kraus auf. Heinrich empfing Weber in der sparsam eingerichteten Stube. Die Familie verhielt sich außergewöhnlich still. Weber notierte später, dass die Atmosphäre im Hause derart gedrückt war, „als befinde man sich in einer Kapelle während eines Gottesdienstes.“

Auf die Frage nach den nächtlichen Geräuschen reagierte Heinrich zunächst mit Schweigen. Dann erklärte er knapp:

„Seine Mutter habe in ihren letzten Lebensmonaten oft nachts gesprochen, und die Familie höre gelegentlich noch Echos dieser Gewohnheit. Das Haus erinnert sich“, waren seine genauen Worte.

Margarete Kraus sprach während des gesamten Besuchs kein einziges Wort. Die Kinder saßen regungslos auf einer Bank an der Wand und blickten zu Boden. Besonders auffällig war das Verhalten des jüngsten Sohnes Friedrich. Mehrmals schien er den Mund öffnen zu wollen, als wolle er etwas sagen, schloss ihn aber jedes Mal wieder, ohne einen Laut von sich zu geben.

Weber bat darum, das Haus besichtigen zu dürfen, was Heinrich nach kurzem Zögern gestattete. Die Räume im Erdgeschoss zeigten nichts Ungewöhnliches. Im Obergeschoss führte Heinrich ihn durch alle Zimmer, bis auf eines.

„Die Kammer meiner Mutter ist verschlossen“, erklärte Heinrich, „aus Respekt vor ihrem Andenken.“

Was Weber jedoch bemerkte, war ein schwacher, aber deutlicher Geruch im Obergeschoss. Es war nicht der Geruch von Verwesung oder Fäulnis, sondern etwas anderes, ein moschusartiger, schwerer Duft, der ihn an alte Kirchen oder lang ungeöffnete Truhen erinnerte.

Noch am selben Abend kehrte Weber zum Hof zurück, um selbst zu beobachten, ob die berichteten Geräusche zu hören waren. Er positionierte sich etwa zweihundert Meter vom Haus entfernt hinter einer Gruppe von Fichten und wartete. Kurz nach Mitternacht hörte auch er die Stimmen.

Was er in seinem Bericht festhielt, war so präzise wie beunruhigend. Gegen ein Uhr war deutlich eine weibliche Stimme zu hören, die in einem Tonfall sprach, als führe sie ein normales Gespräch. Gelegentlich waren auch andere leisere Stimmen zu vernehmen, die zu antworten schienen. Die Unterhaltung dauerte etwa fünfzehn Minuten und endete abrupt.

Weber war ein rationaler Mann, aber was er an diesem Abend hörte, ließ ihn an seinen eigenen Sinnen zweifeln. Die Stimme war zweifellos die von Martha Kraus. Aber Martha Kraus war tot und begraben.

Pastor Wilhelm Hartmann wurde am nächsten Morgen von Gemeindeschreiber Weber aufgesucht. Der Geistliche, ein besonnener Mann, hörte sich den Bericht mit wachsender Sorge an. Seine erste Reaktion war, wie zu erwarten, eine rationale Erklärung zu suchen.

„Trauer kann seltsame Formen annehmen“, erklärte Pastor Hartmann. „Ich habe erlebt, dass Menschen nach dem Verlust nahe Angehöriger Stimmen zu hören glauben. Der Wind durch alte Balken kann Geräusche erzeugen, die der Geist zu Bekanntem formt.“

Er versprach Weber, die Familie Kraus aufzusuchen und ein seelsorgerisches Gespräch zu führen.

Der Besuch des Pastors am 21. September 1852 verlief anders, als beide Männer erwartet hatten. Heinrich Kraus empfing den Geistlichen höflich, aber mit einer Kühle, die Hartmann irritierte. Die übrige Familie verhielt sich wie bei Webers Besuch, schweigsam und seltsam angespannt.

Hartmann sprach die Familie direkt auf die Berichte über nächtliche Stimmen an. Heinrich antwortete mit derselben knappen Erklärung.

„Mutter sprach oft nachts. Wir haben uns daran gewöhnt. Manchmal meinen wir, noch sie zu hören.“

Auf Hartmanns Frage, ob die Familie Hilfe bei der Verarbeitung der Trauer benötige, reagierten alle mit verständnislosen Blicken. Margarete sprach zum ersten Mal:

„Wir brauchen keine Hilfe. Mutter ist bei uns.“

Die Art, wie sie das sagte, nicht als Metapher für liebevolle Erinnerung, sondern als schlichte, unerschütterliche Tatsache, beunruhigte den Pastor zutiefst.

Der jüngste Sohn Friedrich zeigte während des Besuchs ein Verhalten, das Hartmann später als „auffällig ängstlich“ beschrieb. Der Junge blickte mehrmals zur Decke, als würde er Geräusche aus dem Obergeschoss hören, die für andere nicht wahrnehmbar waren.

Hartmann bat darum, eine Andacht zum Gedenken an Martha Kraus abhalten zu dürfen. Heinrich stimmte zu, bestand aber darauf, dass sie im Erdgeschoss stattfinde. Während des kurzen Gottesdienstes bemerkte Hartmann, dass alle Familienmitglieder ihre Blicke starr auf den Boden gerichtet hielten, als würden sie vermeiden wollen, nach oben zu schauen.

Nach der Andacht ging Hartmann mit Heinrich allein auf den Hof, um ein privates Gespräch zu führen. Heinrich zeigte sich zunächst verschlossen, wurde aber nach längerem Drängen etwas mitteilsamer.

„Mutter hatte ihre Eigenarten“, sagte er schließlich. „Sie wusste Dinge, die andere nicht wussten. Sie hatte ihre Art, die Familie zusammenzuhalten.“

Als Hartmann nachfragte, was er damit meine, wurde Heinrich wieder wortkarg.

„Manche Frauen haben Gaben“, murmelte er nur noch. „Mutter sorgte dafür, dass wir zusammen blieben, auch jetzt noch.“

Hartmann verließ den Hof mit gemischten Gefühlen. In seinem Tagebuch notierte er: Die Familie Kraus zeigt Anzeichen einer ungesunden Fixierung auf die Verstorbene. Möglicherweise haben sie nie richtig Abschied genommen. Die Berichte über Stimmen sind vermutlich Projektionen ihrer Unfähigkeit zu trauern. Seine Erklärung beruhigte die Gemeinde zunächst. Doch Hartmann selbst war nicht völlig überzeugt.

Der Oktober 1852 brachte einen frühen Winter nach Klaustal. Die Bäume verloren rasch ihre Blätter und ein hartnäckiger Nebel legte sich über die Täler des Harzes. Für die Familie Kraus begann eine Zeit, die später als die „Monate der Stille“ bezeichnet werden sollte.

Johann Müller berichtete, dass die nächtlichen Stimmen vom Kraus’schen Hof nicht aufgehört, sondern zugenommen hatten. Jetzt waren sie fast jede Nacht zu hören, manchmal bis in die frühen Morgenstunden hinein. Was die Berichte besonders beunruhigend machte, war die zunehmende Detailgenauigkeit. Müller behauptete, nicht nur Marthas Stimme, sondern auch die Antworten der anderen Familienmitglieder hören zu können.

„Es klingt, als würden sie sich über alltägliche Dinge unterhalten“, berichtete er Weber, „ganz normale Familiengespräche, nur dass eine der Stimmen von einer Toten stammt.“

Heinrich Kraus zeigte sich bei weiteren Befragungen zunehmend mürrisch. Er bestand darauf, dass seine Familie ein Recht auf Privatsphäre habe und dass die nächtlichen Gespräche niemanden etwas angingen.

„Meine Familie ist gesund“, erklärte er barsch. „Was wir in unserem eigenen Haus tun, geht niemanden etwas an. Wenn die Nachbarn Probleme mit Geräuschen haben, sollen sie ihre Fenster schließen.“

Margarete Kraus wurde in diesen Wochen nur selten außerhalb des Hofes gesehen. Jetzt übernahm Heinrich alle Besorgungen, während seine Frau praktisch unsichtbar blieb. Die wenigen Male, wenn Nachbarn sie zu Gesicht bekamen, beschrieben sie sie als verändert, dünner, blasser, mit einem Ausdruck, als würde sie ständig auf etwas lauschen.

Die Kinder der Familie zeigten ebenfalls auffällige Veränderungen. Wilhelm, der älteste Sohn, blieb nun ausschließlich auf dem Hof. Anna, das einzige Mädchen, das zuvor Kontakt zu den anderen jungen Frauen des Dorfes gehalten hatte, wurde nicht mehr gesehen. Besonders beunruhigend war das Verhalten des jüngsten Sohnes Friedrich. Er kam seit Wochen nicht mehr zur Schule.

Das Kraus’sche Anwesen selbst begann, Zeichen der Vernachlässigung zu zeigen. Der Hof wirkte ungepflegt, Werkzeuge blieben liegen. Besonders auffällig war, dass alle Fenster im Obergeschoss nun durchgängig mit dunklen Tüchern verhängt waren. Selbst tagsüber drang kein Licht aus Marthas ehemaliger Kammer oder den anderen Räumen im oberen Stockwerk. Das Haus wirkte, als hätte es seine Augen geschlossen.

Weber führte in diesen Wochen regelmäßige nächtliche Beobachtungen durch. Die Stimmen folgten einem Rhythmus. Sie begannen meist gegen Mitternacht, wurden gegen zwei Uhr morgens am lautesten und verstummten kurz vor Sonnenaufgang. An einem besonders klaren Novemberabend notierte Weber: Die Stimme der Verstorbenen ist heute besonders deutlich zu vernehmen. Sie scheint Anweisungen zu geben. Die anderen Stimmen antworten mit ,Ja, Mutter‘ oder ähnlichen Bestätigungen. Es ist, als würde ein normales Familiengespräch geführt, nur dass eine der Teilnehmerinnen seit neun Monaten tot ist.

Gegen zwei Uhr morgens wurde die Unterhaltung so laut, dass Weber einzelne Worte verstehen konnte. Er hörte Martha sagen: „Ihr vergesst eure Pflichten!“, gefolgt von gemurmelten Entschuldigungen. Dann wieder Marthas Stimme: „Friedrich muss lernen. Wilhelm muss verstehen. Anna darf nicht schwach werden.“

Doch Weber ahnte, dass seine rationale Erklärung nicht ausreichte, um das zu erfassen, was auf dem Kraus’schen Hof vor sich ging.

Friedrich Kraus, der jüngste Sohn der Familie, entwickelte in den Wochen nach seiner letzten Teilnahme am Schulunterricht eine Routine, die seine Geschwister und Eltern mit wachsender Unruhe beobachteten. Jeden Abend, wenn die Familie nach dem kargen Abendessen in der Küche versammelt war, starrte der zwölfjährige Junge zur Decke und lauschte Geräuschen, die nur er zu hören schien.

Was später aus verschiedenen Quellen rekonstruiert werden konnte, war ein Bild von Friedrichs Leben in den Monaten nach Marthas Tod, dass die offizielle Familienversion der Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen ließ. Der Junge hatte eine besonders enge Beziehung zu seiner Großmutter gehabt. Nach Marthas Tod hatte Friedrich zunächst normal reagiert. Die Veränderung begann Mitte September. Friedrich begann, seiner Mutter Fragen über Großmutters Kammer zu stellen. Er wollte wissen, warum die Tür verschlossen war und was mit Großmutters Sachen geschehen sei.

Margarete Kraus antwortete zunächst ausweichend, dann mit wachsender Schärfe. Großmutter sei tot und begraben und es gehöre sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Als Friedrich insistierte, verhängte Heinrich eine Strafe. Der Junge durfte das Haus für eine Woche nicht verlassen. Diese Strafe wurde immer wieder verlängert, bis Friedrich praktisch zum Gefangenen im eigenen Haus wurde.

Doch Friedrich war ein neugieriges Kind und die Geheimnisse seiner Familie übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. An einem der ersten Novemberabende, als seine Eltern und Geschwister mit der Arbeit im Stall beschäftigt waren, schlich er sich in das Obergeschoss.

Die späteren Aussagen Friedrichs, die erst Jahre später dokumentiert wurden, als er als junger Mann das elterliche Anwesen verlassen hatte, zeichnen ein verstörendes Bild. Marthas Kammer war nicht leer, wie er erwartet hatte. Sie war genauso eingerichtet, wie sie zu Lebzeiten gewesen war. Auf dem Bett lag Kleidung bereit. Auf dem Nachttisch standen ein Wasserglas und eine kleine Schale mit Brot. Die Holzschatulle, das vergilbte Notizbuch und das Silberkreuz lagen ordentlich auf dem Schreibtisch arrangiert.

Aber was Friedrich am meisten erschreckte, war der schwere, süßliche Geruch, der in dem Raum hing. Ein Geruch, den er gut kannte, weil es der Geruch seiner Großmutter gewesen war. Friedrich blieb nur wenige Minuten in der Kammer, aber diese Zeit reichte aus, um sein Weltbild zu erschüttern.

Als er zurück ins Erdgeschoss schlich, wartete seine Familie bereits auf ihn. Heinrich war bleich vor Zorn, aber es war Margarete, die das Wort ergriff. Ihre Stimme war ruhig, aber kalt wie Winterluft.

„Du warst oben“, sagte sie. „Es war keine Frage. Du hast gesehen, was du nicht sehen solltest.“

Friedrich nickte stumm.

„Dann weißt du jetzt, dass Großmutter noch bei uns ist, und du weißt, dass wir alle tun müssen, was nötig ist, damit das so bleibt.“

Was genau Margarete mit diesen Worten meinte, wurde Friedrich erst in den folgenden Nächten klar: Die Familie hatte seit Marthas Tod eine neue Routine entwickelt. Eine Routine, die Friedrich nun als vollwertiges Mitglied teilen sollte.

Der erste Dezember 1852 brachte einen schweren Schneesturm über den Harz. Als der Sturm sich legte, meldeten sich mehrere Dorfbewohner bei den örtlichen Behörden, um von ungewöhnlichen Beobachtungen zu berichten. Johann Müller berichtete von einer dramatischen Veränderung in den Geräuschen. Die Stimmen waren nicht nur lauter geworden, sondern schienen auch zu verschiedenen Tageszeiten aufzutreten.

„Es ist nicht mehr nur nachts“, berichtete er Gemeindeschreiber Weber. „Manchmal höre ich die Stimmen am helllichten Tag, als würde die ganze Familie gleichzeitig sprechen.“

Jetzt klangen sie angespannt, manchmal sogar streitlustig. „Es ist, als gäbe es Meinungsverschiedenheiten“, erklärte Müller. „Die Stimme der alten Frau klingt ärgerlich. Und die anderen scheinen zu widersprechen.“

Weber beschloss erneut, einen offiziellen Besuch auf dem Kraus’schen Hof zu machen. Als er am 5. Dezember dort eintraf, fand er eine Familie vor, die sich dramatisch verändert hatte. Heinrich Kraus wirkte gealtert und müde. Margarete erschien nur kurz und verschwand dann wieder. Die Kinder waren zunächst gar nicht zu sehen.

Während dieses Gesprächs bemerkte Weber deutlich Geräusche aus dem Obergeschoss. Es klang, als würden mehrere Personen gleichzeitig leise sprechen, aber die Worte waren nicht zu verstehen.

Am Abend positionierte sich Weber wieder bei den Fichten, um die nächtlichen Stimmen zu beobachten. Was er hörte, bestätigte Müllers Berichte. Die Stimmen klangen nicht mehr wie eine harmonische Familienunterhaltung, sondern wie eine angespannte Diskussion. Marthas Stimme war deutlich zu hören und klang tatsächlich ärgerlich, fast herrisch.

„Die Familie Kraus führt offenbar nächtliche Zusammenkünfte durch, bei denen sie so tun, als würde die verstorbene Martha teilnehmen“, notierte Weber, doch er ahnte, dass seine rationale Erklärung nicht ausreichte.

Mitte Dezember 1852 erreichte Pastor Hartmann ein Brief von Dr. Ernst Bollmann, einem Arzt aus Goslar. Heinrich Kraus hatte ihn aufgesucht und um Medikamente gebeten, die „die Stimmen leiser machen könnten.“ Dr. Bollmann hatte eine Untersuchung verlangt, die Heinrich abgelehnt hatte.

Am 18. Dezember 1852 trafen Dr. Bollmann, Pastor Hartmann und Weber am Kraus’schen Hof ein. Heinrich empfing sie mit schlecht verholener Feindseligkeit.

„Wir haben um keinen Besuch gebeten“, erklärte er barsch.

Dr. Bollmann bestand darauf, wenigstens die Kinder kurz zu sehen. Was sie sahen, schockierte selbst den erfahrenen Arzt. Margarete Kraus war kaum wiederzuerkennen, abgemagert, ihre Haut gelblich, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin. Die Kinder zeigten ähnliche Anzeichen von Erschöpfung. Am erschreckendsten war der Zustand Friedrichs.

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Pastor Hartmann versuchte ein anderes Herangehen.

„Heinrich, ich kenne deine Familie seit Jahren. Was hier vor sich geht, ist nicht normal. Deine Kinder brauchen Hilfe.“

Er bot an, sie vorübergehend bei anderen Familien im Dorf unterzubringen. Die Reaktion war explosiv.

„Niemand nimmt meine Familie auseinander!“, schrie Heinrich die Besucher an. „Wir gehören zusammen, hier in diesem Haus. Mutter hat es so gewollt und so wird es bleiben.“

Das Wort „Mutter“ schien eine sofortige Wirkung auf die anderen Familienmitglieder zu haben. Alle blickten gleichzeitig zur Decke, als hätten sie ein Geräusch gehört.

Dr. Bollmann nutzte diesen Moment, um Friedrich direkt anzusprechen.

„Junge, kannst du mir sagen, wie du dich fühlst?“

Friedrich blickte zwischen seinem Vater und dem Arzt hin und her, und sagte dann nur:

„Großmutter ist immer noch hier.“

Die drei Besucher tauschten bedeutsame Blicke aus. Es war offensichtlich, dass die Familie in einer Art psychologischem Zustand gefangen war, der professionelle Hilfe erforderte.

Dr. Bollmann kehrte am nächsten Morgen allein zum Kraus’schen Hof zurück. Er fand Margarete in der Küche, wo sie mechanisch Kartoffeln schälte.

„Mutter Martha ist noch bei uns“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Sie passt auf uns auf. Sie sorgt dafür, dass wir zusammen bleiben.“

„Aber ihre Schwiegermutter ist tot, Frau Kraus. Sie ist begraben.“

Margarete schüttelte langsam den Kopf und zum ersten Mal zeigte sich ein Ausdruck in ihren Augen: eine Art fanatische Gewissheit.

„Der Körper ist begraben, aber Mutter Martha ist hier.“ Sie blickte zur Decke. „Sie ist immer hier.“

Margarete führte Dr. Bollmann in die Stube, wo die drei Geschwister auf der Bank saßen.

Friedrich war der einzige, der bereit schien zu sprechen.

„Großmutter kommt jede Nacht zu uns“, begann der Junge mit piepsender Stimme zu erzählen. „Sie sagt, wir dürfen das Haus nicht verlassen, weil draußen schlechte Menschen sind, die Familien auseinanderreißen wollen.“

„Und ihr alle könnt eure Großmutter hören?“

Wilhelm und Anna nickten stumm.

„Sie ist in ihrer Kammer. Mutter bringt ihr jeden Tag Essen und Wasser. Großmutter ist sehr müde vom Sterben, aber sie wird wieder stark.“

„Friedrich“, unterbrach Wilhelm plötzlich mit heiserer Stimme, „Du redest zu viel.“

„Großmutter sagt, wir sollen ehrlich sein“, antwortete Friedrich trotzig.

„Großmutter sagt auch, dass wir vorsichtig sein sollen“, konterte Wilhelm und warf einen ängstlichen Blick zur Decke.

„Friedrich, kannst du mir zeigen, wo eure Großmutter ist?“

Der Junge blickte ängstlich zu seiner Mutter, die wie erstarrt da stand. Nach einem Moment nickte Margarete langsam.

„Mutter Martha möchte, dass er es sieht“, sagte sie. „Sie sagt, wenn er versteht, wird er uns in Ruhe lassen.“

Friedrich stand auf und führte Dr. Bollmann zur Treppe.

Was Dr. Bollmann in den nächsten Minuten erlebte, sollte ihn für den Rest seines Lebens verfolgen. Friedrich führte ihn zu einer Tür am Ende des Flurs, der Tür zu Marthas Kammer. Sie war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt.

„Großmutter schläft noch“, flüsterte Friedrich, bevor er die Tür öffnete. „Aber sie weiß, dass wir da sind.“

Dr. Bollmann öffnete die Tür und trat ein. Der süßliche, schwere Geruch, den er sofort bemerkte, war ihm als Arzt vertraut. Es war der Geruch von Verwesung, aber alt und irgendwie konserviert. Über dem Verwesungsgeruch lag ein anderer Duft: getrocknete Kräuter und Blumen.

Die Kammer war genauso eingerichtet, wie Friedrich es beschrieben hatte. Aber was Dr. Bollmann erstarren ließ, lag auf dem Bett. Es war ein Körper, oder das, was von einem Körper übrig war. Die sterblichen Überreste waren in ein sauberes, weißes Leichentuch gehüllt und mit frischen Kräutern und getrockneten Blumen bedeckt. Der Schädel war teilweise sichtbar, ebenso Teile der Knochen an Armen und Beinen. Die Haut war zu einer lederartigen Substanz mumifiziert.

„Sie ruht sich aus“, sagte Friedrich hinter ihm, und seine Stimme klang stolz, als würde er ein kostbares Familienerbstück präsentieren. „Mutter sagt, bald wird sie wieder sprechen können, nicht nur nachts. Dann wird sie uns zeigen, wie wir richtig leben sollen.“

Dr. Bollmann war ein Mann der Wissenschaft, aber was er sah, erschütterte seine rationale Weltanschauung. Die Familie hatte Martha Kraus nicht begraben lassen. Sie hatten eine andere Leiche beigesetzt und die echte Martha in ihrem Zimmer behalten und behandelten sie, als wäre sie noch am Leben.

„Sie ist nicht tot“, unterbrach ihn Margarete, die in der Türöffnung stand, mit plötzlicher Schärfe. Ihre Augen glänzten mit einem fiebrigen Licht. „Sie spricht mit uns. Sie gibt uns Anweisungen. Sie sorgt für uns. Tote können das nicht.“

Dr. Bollmann bemerkte weitere Details, die seine Beunruhigung verstärkten. An der Wand hingen kleine Zettel mit handgeschriebenen Notizen. Er trat näher heran und las: „Mutter sagt: Friedrich muss mehr essen. Mutter sagt, Anna soll weniger weinen. Mutter sagt, Wilhelm zweifelt zu viel.“

„Das sind ihre täglichen Anweisungen“, erklärte Margarete stolz.

In diesem Moment verstand Dr. Bollmann, dass die Familie Kraus nicht nur unter Wahnvorstellungen litt, sie waren zu etwas geworden, was er sich nie hätte vorstellen können, zu Wächtern über einen Zustand zwischen Leben und Tod.

Heinrich erschien in der Türöffnung. „Sie haben gesehen“, sagte er einfach. „Jetzt verstehen Sie, warum wir nicht wollen, dass Fremde sich in unsere Angelegenheiten einmischen.“

„Herr Kraus“, begann Dr. Bollmann, aber Heinrich hob die Hand.

„Mutter spricht“, sagte Heinrich und lauschte einer Stimme, die nur er zu hören schien. Nach einem Moment nickte er. „Sie sagt, sie sind willkommen, aber sie müssen versprechen, unser Geheimnis zu bewahren. Die Menschen draußen würden nicht verstehen. Sie würden versuchen, uns zu trennen.“

Dr. Bollmann verließ das Kraus’sche Anwesen mit dem Gefühl, aus einem Albtraum erwacht zu sein.

Zurück in Klaustal suchte er sofort Pastor Hartmann und Gemeindeschreiber Weber auf. Was er ihnen in den folgenden dreißig Minuten berichtete, ließ beide Männer verstummen.

„Sie behalten den Körper. In ihrem Haus?“, fragte Pastor Hartmann schließlich ungläubig.

„Nicht nur das“, erwiderte Dr. Bollmann. „Sie behandeln ihn, als wäre Martha Kraus noch am Leben. Sie sprechen mit ihr, bringen ihr Essen, fragen sie um Rat. Die Kinder glauben wirklich, dass ihre Großmutter ihnen antwortet.“

„Das ist unmöglich“, schüttelte Weber den Kopf.

„Wir müssen die Kreisbehörden informieren“, erklärte Weber entschieden. „Das ist ein Fall für die Bezirksregierung in Goslar.“

„Wenn wir jetzt eingreifen“, vollendete Pastor Hartmann, „zerstören wir nicht nur ihre Warnwelt, sondern auch noch ihr Weihnachtsfest, die psychologischen Folgen für die Kinder…“

„Ihr Weihnachtsfest!“, unterbrach Dr. Bollmann scharf. „Diese Kinder feiern Weihnachten mit einem verwesenden Körper. Glauben Sie wirklich, dass wir das noch einen Tag länger tolerieren können?“

Schließlich einigten sie sich auf einen Kompromiss. Am ersten Weihnachtstag würden sie gemeinsam zum Kraus’schen Hof gehen, nicht als offizielle Delegation, sondern als besorgte Gemeindemitglieder, die ein letztes Gespräch führen wollten. Falls dieses Gespräch scheiterte, würden sie am Tag nach Weihnachten die Kreisbehörden informieren.

Der Weihnachtsmorgen brachte dichten Nebel über Klaustal. Als die kleine Delegation sich auf den Weg zum Kraus’schen Hof machte, war das Anwesen in unheimlicher Stille gehüllt. Kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Die Fenster waren wie immer verhängt, aber heute schien das Gebäude vollkommen leblos.

Weber klopfte an die Tür. Keine Antwort. Pastor Hartmann rief nach Heinrich. Stille.

Dr. Bollmann ging um das Haus herum und blickte durch ein Fenster im Erdgeschoss. „Das Haus ist leer“, rief er den anderen zu.

Das Innere des Kraus’schen Hauses bot ein Bild, das die fünf Männer noch lange verfolgen sollte. In der Küche standen noch fünf Teller auf dem Tisch. Die Reste einer Mahlzeit waren darauf zu sehen, aber alles war gefroren. Einer der Teller war sauberer als die anderen und enthielt nur Brotkrümel, als hätte jemand sehr vorsichtig daraus gegessen.

„Sie haben tatsächlich einen Platz für Martha gedeckt“, murmelte Pastor Hartmann.

Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Gebetbuch und daneben befanden sich mehrere handgeschriebene Zettel. Dr. Bollmann las die Zettel vor.

„Mutter sagt: Zeit zu gehen. Mutter sagt: Fremde verstehen nicht. Mutter sagt: neuen Ort finden.“

Die Handschrift war Margaretes, aber die Botschaften klangen, als würde Martha tatsächlich Anweisungen geben.

Weber führte die Gruppe ins Obergeschoss. Marthas Kammer bot einen anderen Anblick. Die Tür stand weit offen. Das Bett war leer.

„Sie haben sie mitgenommen“, stellte Dr. Bollmann fest. „Sie haben den Körper mitgenommen.“

Auf dem Nachttisch fanden sie einen Brief adressiert an: Die Herren, die uns nicht verstehen wollen. Pastor Hartmann öffnete ihn mit zitternden Händen und las vor.

„Wir waren glücklich hier, bis Sie kamen und uns störten. Mutter Martha hat uns erklärt, dass Menschen wie Sie niemals verstehen werden, was Familie bedeutet. Sie glauben, Tod sei ein Ende, aber für unsere Familie ist es nur ein anderer Zustand des Zusammenseins. Wir gehen an einen Ort, wo wir in Frieden leben können. Mutter Martha kennt diesen Ort aus ihren jungen Jahren. Dort wird niemand uns trennen wollen. Suchen Sie uns nicht. Wir wollen nicht gefunden werden. Unsere Familie ist vollständig, auch wenn Sie das nicht begreifen können. Heinrich Kraus. Für die Familie.“

Unter dem Brief lag ein weiteres Dokument, ein Blatt aus Margaretes Tagebuch.

Mutter Martha ist heute früh zu uns gekommen und hat gesagt, dass die Zeit zum Fortgehen gekommen ist. Sie hat uns gezeigt, wie wir sie vorsichtig einpacken müssen für die Reise. Sie ist leichter geworden in den letzten Monaten, so dass Wilhelm sie tragen kann. Friedrich hat geweint, weil er Angst vor der Reise hatte, aber Mutter Martha hat ihm zugeflüstert, dass sie ihn beschützen wird. Wir nehmen nur das Nötigste mit. Mutter Martha sagt, wo wir hingehen, brauchen wir nicht viele Sachen. Sie kennt einen Ort in den tiefen Wäldern, wo ihre Familie früher gelebt hat. Dort können wir für immer zusammen bleiben, ohne dass Fremde uns stören.

Weber durchsuchte systematisch alle Zimmer. In Heinrichs und Margaretes Kammer fand er ein weiteres Tagebuch, das Margarete offenbar seit Marthas Tod geführt hatte. Die Einträge zeichneten ein verstörendes Bild von einer Familie, die sich Schritt für Schritt von der Realität entfernt hatte.

Mutter Martha erklärt uns heute, dass sie nicht wirklich gestorben ist. Sie ist nur in einen anderen Zustand übergegangen. Sie kann noch mit uns sprechen, aber wir müssen sehr aufmerksam sein, um sie zu hören.

Der letzte Eintrag stammte vom Tag vor dem Verschwinden.

Fremde waren hier. Der Arzt hat Mutter Martha gesehen. Sie ist sehr unruhig. Sie sagt, diese Menschen verstehen nicht, dass manche Familien besondere Bindungen haben. Sie will, dass wir zu dem Ort gehen, wo sie als Kind gelebt hat. In den tiefen Wäldern östlich von hier, wo ihr Vater einmal Köhler war. Dort wird uns niemand stören. Dort können wir für immer zusammen sein.

Weber organisierte eine sofortige Durchsuchung des Friedhofs. Das Grab von Martha Kraus war von innen aufgebrochen worden. Als sie den einfachen Holzsarg öffneten, fanden sie darin die sterblichen Überreste eines unbekannten Mannes mittleren Alters. Die Familie hatte eine andere Leiche beigesetzt, um ihr Geheimnis zu wahren.

Weber ordnete eine sofortige Benachrichtigung der Kreisbehörden an. Die Suche gestaltete sich schwierig. Der dichte Schnee hatte eventuelle Spuren verwischt. Am zweiten Tag der Suche fanden die Suchtrupps die ersten Hinweise. Etwa fünf Kilometer östlich von Klaustal entdeckten sie Fußspuren im Schnee, fünf verschiedene Schuhgrößen. Eine der Spuren war deutlich tiefer als die anderen, als würde die Person, die sie hinterlassen hatte, eine schwere Last tragen.

Die Spuren führten zu einer alten, halbverfallenen Köhlerhütte. In der Hütte lagen Reste von Nahrung und eine kleine Feuerstelle zeigte noch warme Asche. An der Wand waren mit Kohle primitive Zeichnungen gemacht worden. Strichmännchen, die eine Familie darstellten und immer wieder das Symbol eines Kreuzes. Unter den Zeichnungen stand in krakeliger Schrift: Familie für immer zusammen. Mutter sorgt für uns.

Aber die Familie selbst war verschwunden.

Nach drei Tagen intensiver Suche mussten die Behörden die Aktion einstellen. Kreisinspektor Wilhelm Hagen, der aus Goslar angereist war, um die Untersuchung zu leiten, zeigte sich ratlos.

„Eine ganze Familie kann nicht einfach spurlos verschwinden“, erklärte er, „besonders nicht mit der zusätzlichen Last, die sie bei sich haben.“

Dr. Bollmann äußerte eine beunruhigende Vermutung. „Vielleicht haben sie sich nicht versteckt. Vielleicht haben sie sich einen Ort gesucht, wo sie nicht gefunden werden wollen. Nicht von Lebenden.“

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Am 10. Januar 1853 wurde der Fall offiziell als ungelöst zu den Akten gelegt.

Im Frühjahr des Jahres 1862, zehn Jahre nach dem Verschwinden der Familie Kraus, erreichte Pastor Hartmann ein Brief, der ihn veranlassen sollte, seine Aufzeichnungen über den Fall noch einmal zu überdenken. Der Absender war Friedrich Kraus, der jüngste Sohn der Familie, der jetzt zweiundzwanzig Jahre alt war und unter dem angenommenen Namen Friedrich Weber in Bremen als Hafenarbeiter lebte. Sein Brief war das einzige direkte Zeugnis darüber, was mit der Familie nach ihrem Verschwinden geschehen war.

„Sehr geehrter Herr Pastor“, begann der Brief mit einer zittrigen Handschrift. „Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern, aber Sie waren der letzte Mensch außerhalb unserer Familie, der versucht hat, uns zu helfen. Ich schreibe Ihnen, weil ich glaube, dass ich es jemandem erzählen muss, bevor der Wahnsinn auch mich vollständig erfasst.“

Friedrich beschrieb, wie die Familie nach ihrer Flucht schließlich eine natürliche Höhle gefunden hatte, etwa zwanzig Kilometer südöstlich von Klaustal. Dort hatten sie sich für die nächsten drei Jahre niedergelassen.

„Großmutter zu tragen war schwerer geworden“, schrieb Friedrich, „nicht weil sie schwerer geworden wäre. Im Gegenteil, sie schien jeden Tag leichter zu werden, aber der Geruch war stärker geworden und manchmal fielen Teile von ihr ab. Vater sagte, das sei normal, weil sie sich für ihre neue Art des Lebens vorbereite.“

Martas mumifizierte Überreste lagen auf einem erhöhten Steinvorsprung. „Wir sprachen jeden Morgen und jeden Abend mit ihr“, schrieb Friedrich. „Vater stellte ihr Fragen über das, was wir tun sollten. Mutter übersetzte ihre Antworten für uns. Sie sagte: ,Großmutter spreche jetzt leiser, weil sie ihre Energie sparen müsse.‘ Aber sie höre alles und sorge noch immer für uns.“

Wilhelm wurde krank im dritten Jahr. Er bekam Fieber. „Er sagte Dinge wie: ,Großmutter ist tot und wir müssen zurück zu normalen Menschen.‘ Großmutter wurde sehr ärgerlich über ihn. Mutter sagte, Großmutter habe erklärt, Wilhelm zweifle zu sehr und das mache ihn schwach für böse Einflüsse.“ Wilhelm starb nach einer Woche Krankheit.

„Vater wollte ihn zu Martha legen, damit sie zusammen ruhen könnten. Aber der Verwesungsprozess bei Wilhelm war viel schneller als bei Martha. Der Geruch war unerträglich“, schrieb Friedrich. „Selbst Vater musste zugeben, dass Wilhelm anders war als Großmutter.“

Nach Wilhelms Tod begann die Familie endgültig auseinanderzufallen. Anna entwickelte Anzeichen derselben Fieberkrankheit und starb wenige Monate später. Margarete wurde zunehmend verwirrt und sprach nur noch mit Martha, ignorierte aber den Rest der Familie völlig.

„Mutter saß den ganzen Tag bei Großmutter und führte lange Gespräche mit ihr“, berichtete Friedrich. Margarete starb im vierten Jahr an Erschöpfung und Unterernährung. Heinrich reagierte auf ihren Tod mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit. „Er sagte nur, jetzt kann sie richtig mit Großmutter sprechen“, erinnerte sich Friedrich.

Heinrich entwickelte daraufhin eine neue Theorie. Martha war besonders, weil sie als erste gestorben war und mehr Zeit gehabt hatte, sich an ihren neuen Zustand zu gewöhnen. Die anderen würden mit der Zeit ebenfalls lernen, in diesem Zustand zu existieren.

Der Wendepunkt kam, als Heinrich vorschlug, alle drei Leichen zu einer Familie zu vereinen. Er wollte die Knochen von Wilhelm, Anna und Margarete sammeln und mit Marthas Überresten vermischen.

„In diesem Moment begriff ich, dass Vater völlig verrückt geworden war“, schrieb Friedrich. „Ich sah zum ersten Mal klar, was aus uns geworden war. Wir waren nicht mehr Menschen. Wir waren Diener von Toten geworden.“

Friedrichs Flucht war dramatisch gewesen. In einer Nacht, als Heinrich in der Höhle mit seinen toten Familienmitgliedern sprach, hatte der junge Mann seine wenigen Besitztümer zusammengepackt und war in die Dunkelheit hinausgelaufen.

„Ich wusste nicht einmal mehr, wie man sich normal verhält“, gestand Friedrich. „Ich hatte so lange nur mit Toten gesprochen, dass ich vergessen hatte, wie Gespräche mit Lebenden funktionieren.“

„Ich weiß nicht, was aus Vater geworden ist“, schloss Friedrich seinen Brief. „Er ist vielleicht noch immer dort in der Höhle mit seinen Toten. Er hat immer gesagt, dass er nie allein sein würde, solange Großmutter bei ihm ist. Ich glaube, er meinte das ernst.“

Friedrich bat Pastor Hartmann, niemals zu versuchen, ihn zu finden. „Ich lerne noch, wie man unter Lebenden lebt“, schrieb er. „Manchmal nachts höre ich noch ihre Stimmen, Großmutter, Mutter, Wilhelm, Anna. Sie rufen meinen Namen und fragen, warum ich sie verlassen habe. Ich weiß, dass das nicht real ist, aber es fühlt sich real an. Vielleicht werde ich nie ganz frei von ihnen sein.“

Pastor Hartmann leitete den Brief an die Behörden weiter und eine neue Suchexpedition wurde organisiert. Sie fanden die Höhle, die Friedrich beschrieben hatte, aber sie war verlassen. Auf dem Steinvorsprung, wo offenbar die Toten gelegen hatten, fanden sie nur noch Reste.

Das beunruhigendste Detail waren die Wandzeichnungen. Sie zeigten primitive Darstellungen von Menschen. Zuerst eine Familie von fünf Personen, dann vier, dann drei, dann zwei. Ganz am Ende war nur noch eine einzelne Figur gezeichnet, umgeben von vier liegenden Gestalten. Darunter stand in derselben krakeligen Schrift, die schon in der Köhlerhütte gefunden worden war: Familie für immer zusammen. Heinrich wartet.

Heinrich Kraus blieb verschwunden, ebenso wie die Überreste seiner Familie.

Friedrich Kraus lebte noch weitere zwanzig Jahre in Bremen. Er heiratete nie und sprach nie über seine Herkunft. In seinen späteren Jahren entwickelte Friedrich die Gewohnheit, nachts durch seine kleine Wohnung zu wandern und leise zu sprechen. Nachbarn hörten gelegentlich seine Stimme durch die dünnen Wände, aber nie antworten.

Als Friedrich 1884 starb, fand man in seiner Wohnung Hunderte von Briefen, die er an seine tote Familie geschrieben, aber nie abgeschickt hatte. Der letzte Brief war an seine Großmutter gerichtet.

„Liebe Großmutter Martha, ich bin jetzt alt und müde. Bald werde ich zu euch kommen. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass ich weggelaufen bin. Ich hoffe, die Familie ist endlich vereint. Ich höre eure Stimmen manchmal noch, besonders nachts, wenn es ganz still ist. Ich weiß jetzt, dass das nur in meinem Kopf ist, aber es fühlt sich real an. Vielleicht ist das genug.“

In den Archiven der Kreisregierung Goslar liegt noch heute ein ungelöster Fall: Die Akte der Familie Heinrich Kraus, verschollen seit dem Winter 1852. Der Fall wurde nie geschlossen, weil man nie sicher war, ob alle Mitglieder der Familie tot waren. Und vielleicht ist das die wahre Tragödie der Familie Kraus: nicht, dass sie mit dem Tod nicht umgehen konnten, sondern dass sie nie verstanden haben, was es wirklich bedeutet, zu leben.

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