Heinrich entwickelte daraufhin eine neue Theorie. Martha war besonders, weil sie als erste gestorben war und mehr Zeit gehabt hatte, sich an ihren neuen Zustand zu gewöhnen. Die anderen würden mit der Zeit ebenfalls lernen, in diesem Zustand zu existieren.
Der Wendepunkt kam, als Heinrich vorschlug, alle drei Leichen zu einer Familie zu vereinen. Er wollte die Knochen von Wilhelm, Anna und Margarete sammeln und mit Marthas Überresten vermischen.
„In diesem Moment begriff ich, dass Vater völlig verrückt geworden war“, schrieb Friedrich. „Ich sah zum ersten Mal klar, was aus uns geworden war. Wir waren nicht mehr Menschen. Wir waren Diener von Toten geworden.“
Friedrichs Flucht war dramatisch gewesen. In einer Nacht, als Heinrich in der Höhle mit seinen toten Familienmitgliedern sprach, hatte der junge Mann seine wenigen Besitztümer zusammengepackt und war in die Dunkelheit hinausgelaufen.
„Ich wusste nicht einmal mehr, wie man sich normal verhält“, gestand Friedrich. „Ich hatte so lange nur mit Toten gesprochen, dass ich vergessen hatte, wie Gespräche mit Lebenden funktionieren.“
„Ich weiß nicht, was aus Vater geworden ist“, schloss Friedrich seinen Brief. „Er ist vielleicht noch immer dort in der Höhle mit seinen Toten. Er hat immer gesagt, dass er nie allein sein würde, solange Großmutter bei ihm ist. Ich glaube, er meinte das ernst.“
Friedrich bat Pastor Hartmann, niemals zu versuchen, ihn zu finden. „Ich lerne noch, wie man unter Lebenden lebt“, schrieb er. „Manchmal nachts höre ich noch ihre Stimmen, Großmutter, Mutter, Wilhelm, Anna. Sie rufen meinen Namen und fragen, warum ich sie verlassen habe. Ich weiß, dass das nicht real ist, aber es fühlt sich real an. Vielleicht werde ich nie ganz frei von ihnen sein.“
Pastor Hartmann leitete den Brief an die Behörden weiter und eine neue Suchexpedition wurde organisiert. Sie fanden die Höhle, die Friedrich beschrieben hatte, aber sie war verlassen. Auf dem Steinvorsprung, wo offenbar die Toten gelegen hatten, fanden sie nur noch Reste.
Das beunruhigendste Detail waren die Wandzeichnungen. Sie zeigten primitive Darstellungen von Menschen. Zuerst eine Familie von fünf Personen, dann vier, dann drei, dann zwei. Ganz am Ende war nur noch eine einzelne Figur gezeichnet, umgeben von vier liegenden Gestalten. Darunter stand in derselben krakeligen Schrift, die schon in der Köhlerhütte gefunden worden war: Familie für immer zusammen. Heinrich wartet.
Heinrich Kraus blieb verschwunden, ebenso wie die Überreste seiner Familie.
Friedrich Kraus lebte noch weitere zwanzig Jahre in Bremen. Er heiratete nie und sprach nie über seine Herkunft. In seinen späteren Jahren entwickelte Friedrich die Gewohnheit, nachts durch seine kleine Wohnung zu wandern und leise zu sprechen. Nachbarn hörten gelegentlich seine Stimme durch die dünnen Wände, aber nie antworten.
Als Friedrich 1884 starb, fand man in seiner Wohnung Hunderte von Briefen, die er an seine tote Familie geschrieben, aber nie abgeschickt hatte. Der letzte Brief war an seine Großmutter gerichtet.
„Liebe Großmutter Martha, ich bin jetzt alt und müde. Bald werde ich zu euch kommen. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass ich weggelaufen bin. Ich hoffe, die Familie ist endlich vereint. Ich höre eure Stimmen manchmal noch, besonders nachts, wenn es ganz still ist. Ich weiß jetzt, dass das nur in meinem Kopf ist, aber es fühlt sich real an. Vielleicht ist das genug.“
In den Archiven der Kreisregierung Goslar liegt noch heute ein ungelöster Fall: Die Akte der Familie Heinrich Kraus, verschollen seit dem Winter 1852. Der Fall wurde nie geschlossen, weil man nie sicher war, ob alle Mitglieder der Familie tot waren. Und vielleicht ist das die wahre Tragödie der Familie Kraus: nicht, dass sie mit dem Tod nicht umgehen konnten, sondern dass sie nie verstanden haben, was es wirklich bedeutet, zu leben.