Das Haus selbst schien diese Atmosphäre zu verstärken. Die Räume im Erdgeschoss – eine große Küche, eine Stube und eine kleine Kammer – waren sparsam eingerichtet und peinlich sauber gehalten. Auffällig war, dass alle Fenster im Obergeschoss schwere, dunkle Vorhänge hatten, die auch tagsüber meist zugezogen blieben.
Martha Kraus hatte eine besondere Gewohnheit entwickelt. Jeden Abend nach dem Gebet ging sie allein in ihre Kammer und sprach dort leise vor sich hin. Die Familie hatte sich an diese Routine gewöhnt und betrachtete sie als Teil von Marthas zunehmender Altersverwirrtheit. Heinrich erklärte später den Behörden: „Seine Mutter habe mit den Schatten gesprochen“, eine Aussage, die er nie weiter erläuterte.
Die Wintermonate von 1851 auf 1852 waren besonders hart gewesen. Mehrere Wochen lang lag der Hof unter einer dicken Schneedecke, praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. In dieser Zeit wurde Martha Kraus zunehmend schwermütig und sprach oft von unerledigten Angelegenheiten. Sie bestand darauf, dass bestimmte Gegenstände – eine kleine Holzschatulle, ein vergilbtes Notizbuch und ein Silberkreuz – immer in ihrer unmittelbaren Nähe bleiben mussten.
Als der Frühling kam und die Wege wieder passierbar waren, zeigten sich erste Anzeichen von Marthas Verfall. Sie vergaß häufig Namen und verwechselte Personen, sprach aber weiterhin jeden Abend in ihrer Kammer, allerdings jetzt nicht mehr leise, sondern in einem Ton, der durch das ganze Haus zu hören war. Der Tod kam im Februar 1852 nach einer kurzen Krankheit. Pastor Hartmann führte eine unauffällige Beerdigung durch, bei der nur wenige Dorfbewohner anwesend waren.
Die Familie Kraus zeigte auch bei der Beisetzung jene eigentümliche Fassung, die Außenstehende als kalt empfanden. Nach der Beerdigung kehrte auf dem Hof eine Stille ein, die noch drückender war als zuvor.
Die ersten Berichte über ungewöhnliche Aktivitäten erreichten die Gemeindeverwaltung in der zweiten Septemberwoche 1852. Johann Müller suchte den Gemeindeschreiber auf und berichtete von nächtlichen Stimmen, die er seit einigen Wochen aus der Richtung des Kraus’schen Hofes zu hören glaubte.
„Es klingt nach Gesprächen“, berichtete Müller, „aber immer ist eine Stimme deutlich lauter als die anderen. Diese lautere Stimme erkannte ich zweifelsfrei als die von Martha Kraus.“
Was Müllers Bericht besonders beunruhigend machte, war die Regelmäßigkeit der Beobachtungen. Die Stimmen waren immer zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden zu hören, meist gegen zwei oder drei Uhr. Sie kamen eindeutig aus dem Inneren des Kraus’schen Hauses, nicht etwa vom Friedhof.
Der Gemeindeschreiber Weber beschloss, die Angelegenheit diskret zu untersuchen. Am 18. September 1852 suchte er Heinrich Kraus auf. Heinrich empfing Weber in der sparsam eingerichteten Stube. Die Familie verhielt sich außergewöhnlich still. Weber notierte später, dass die Atmosphäre im Hause derart gedrückt war, „als befinde man sich in einer Kapelle während eines Gottesdienstes.“
Auf die Frage nach den nächtlichen Geräuschen reagierte Heinrich zunächst mit Schweigen. Dann erklärte er knapp:
„Seine Mutter habe in ihren letzten Lebensmonaten oft nachts gesprochen, und die Familie höre gelegentlich noch Echos dieser Gewohnheit. Das Haus erinnert sich“, waren seine genauen Worte.
Margarete Kraus sprach während des gesamten Besuchs kein einziges Wort. Die Kinder saßen regungslos auf einer Bank an der Wand und blickten zu Boden. Besonders auffällig war das Verhalten des jüngsten Sohnes Friedrich. Mehrmals schien er den Mund öffnen zu wollen, als wolle er etwas sagen, schloss ihn aber jedes Mal wieder, ohne einen Laut von sich zu geben.
Weber bat darum, das Haus besichtigen zu dürfen, was Heinrich nach kurzem Zögern gestattete. Die Räume im Erdgeschoss zeigten nichts Ungewöhnliches. Im Obergeschoss führte Heinrich ihn durch alle Zimmer, bis auf eines.
„Die Kammer meiner Mutter ist verschlossen“, erklärte Heinrich, „aus Respekt vor ihrem Andenken.“
Was Weber jedoch bemerkte, war ein schwacher, aber deutlicher Geruch im Obergeschoss. Es war nicht der Geruch von Verwesung oder Fäulnis, sondern etwas anderes, ein moschusartiger, schwerer Duft, der ihn an alte Kirchen oder lang ungeöffnete Truhen erinnerte.