(1852) Die makabre Geschichte der Familie Kraus: Großmutter redete immer noch in ihrem Grab

Noch am selben Abend kehrte Weber zum Hof zurück, um selbst zu beobachten, ob die berichteten Geräusche zu hören waren. Er positionierte sich etwa zweihundert Meter vom Haus entfernt hinter einer Gruppe von Fichten und wartete. Kurz nach Mitternacht hörte auch er die Stimmen.

Was er in seinem Bericht festhielt, war so präzise wie beunruhigend. Gegen ein Uhr war deutlich eine weibliche Stimme zu hören, die in einem Tonfall sprach, als führe sie ein normales Gespräch. Gelegentlich waren auch andere leisere Stimmen zu vernehmen, die zu antworten schienen. Die Unterhaltung dauerte etwa fünfzehn Minuten und endete abrupt.

Weber war ein rationaler Mann, aber was er an diesem Abend hörte, ließ ihn an seinen eigenen Sinnen zweifeln. Die Stimme war zweifellos die von Martha Kraus. Aber Martha Kraus war tot und begraben.

Pastor Wilhelm Hartmann wurde am nächsten Morgen von Gemeindeschreiber Weber aufgesucht. Der Geistliche, ein besonnener Mann, hörte sich den Bericht mit wachsender Sorge an. Seine erste Reaktion war, wie zu erwarten, eine rationale Erklärung zu suchen.

„Trauer kann seltsame Formen annehmen“, erklärte Pastor Hartmann. „Ich habe erlebt, dass Menschen nach dem Verlust nahe Angehöriger Stimmen zu hören glauben. Der Wind durch alte Balken kann Geräusche erzeugen, die der Geist zu Bekanntem formt.“

Er versprach Weber, die Familie Kraus aufzusuchen und ein seelsorgerisches Gespräch zu führen.

Der Besuch des Pastors am 21. September 1852 verlief anders, als beide Männer erwartet hatten. Heinrich Kraus empfing den Geistlichen höflich, aber mit einer Kühle, die Hartmann irritierte. Die übrige Familie verhielt sich wie bei Webers Besuch, schweigsam und seltsam angespannt.

Hartmann sprach die Familie direkt auf die Berichte über nächtliche Stimmen an. Heinrich antwortete mit derselben knappen Erklärung.

„Mutter sprach oft nachts. Wir haben uns daran gewöhnt. Manchmal meinen wir, noch sie zu hören.“

Auf Hartmanns Frage, ob die Familie Hilfe bei der Verarbeitung der Trauer benötige, reagierten alle mit verständnislosen Blicken. Margarete sprach zum ersten Mal:

„Wir brauchen keine Hilfe. Mutter ist bei uns.“

Die Art, wie sie das sagte, nicht als Metapher für liebevolle Erinnerung, sondern als schlichte, unerschütterliche Tatsache, beunruhigte den Pastor zutiefst.

Der jüngste Sohn Friedrich zeigte während des Besuchs ein Verhalten, das Hartmann später als „auffällig ängstlich“ beschrieb. Der Junge blickte mehrmals zur Decke, als würde er Geräusche aus dem Obergeschoss hören, die für andere nicht wahrnehmbar waren.

Hartmann bat darum, eine Andacht zum Gedenken an Martha Kraus abhalten zu dürfen. Heinrich stimmte zu, bestand aber darauf, dass sie im Erdgeschoss stattfinde. Während des kurzen Gottesdienstes bemerkte Hartmann, dass alle Familienmitglieder ihre Blicke starr auf den Boden gerichtet hielten, als würden sie vermeiden wollen, nach oben zu schauen.

Nach der Andacht ging Hartmann mit Heinrich allein auf den Hof, um ein privates Gespräch zu führen. Heinrich zeigte sich zunächst verschlossen, wurde aber nach längerem Drängen etwas mitteilsamer.

„Mutter hatte ihre Eigenarten“, sagte er schließlich. „Sie wusste Dinge, die andere nicht wussten. Sie hatte ihre Art, die Familie zusammenzuhalten.“

Als Hartmann nachfragte, was er damit meine, wurde Heinrich wieder wortkarg.

„Manche Frauen haben Gaben“, murmelte er nur noch. „Mutter sorgte dafür, dass wir zusammen blieben, auch jetzt noch.“

Hartmann verließ den Hof mit gemischten Gefühlen. In seinem Tagebuch notierte er: Die Familie Kraus zeigt Anzeichen einer ungesunden Fixierung auf die Verstorbene. Möglicherweise haben sie nie richtig Abschied genommen. Die Berichte über Stimmen sind vermutlich Projektionen ihrer Unfähigkeit zu trauern. Seine Erklärung beruhigte die Gemeinde zunächst. Doch Hartmann selbst war nicht völlig überzeugt.

Der Oktober 1852 brachte einen frühen Winter nach Klaustal. Die Bäume verloren rasch ihre Blätter und ein hartnäckiger Nebel legte sich über die Täler des Harzes. Für die Familie Kraus begann eine Zeit, die später als die „Monate der Stille“ bezeichnet werden sollte.

Related Posts

Our Privacy policy

https://worldnews24hr.com - © 2025 News