Margarete Kraus antwortete zunächst ausweichend, dann mit wachsender Schärfe. Großmutter sei tot und begraben und es gehöre sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Als Friedrich insistierte, verhängte Heinrich eine Strafe. Der Junge durfte das Haus für eine Woche nicht verlassen. Diese Strafe wurde immer wieder verlängert, bis Friedrich praktisch zum Gefangenen im eigenen Haus wurde.
Doch Friedrich war ein neugieriges Kind und die Geheimnisse seiner Familie übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. An einem der ersten Novemberabende, als seine Eltern und Geschwister mit der Arbeit im Stall beschäftigt waren, schlich er sich in das Obergeschoss.
Die späteren Aussagen Friedrichs, die erst Jahre später dokumentiert wurden, als er als junger Mann das elterliche Anwesen verlassen hatte, zeichnen ein verstörendes Bild. Marthas Kammer war nicht leer, wie er erwartet hatte. Sie war genauso eingerichtet, wie sie zu Lebzeiten gewesen war. Auf dem Bett lag Kleidung bereit. Auf dem Nachttisch standen ein Wasserglas und eine kleine Schale mit Brot. Die Holzschatulle, das vergilbte Notizbuch und das Silberkreuz lagen ordentlich auf dem Schreibtisch arrangiert.
Aber was Friedrich am meisten erschreckte, war der schwere, süßliche Geruch, der in dem Raum hing. Ein Geruch, den er gut kannte, weil es der Geruch seiner Großmutter gewesen war. Friedrich blieb nur wenige Minuten in der Kammer, aber diese Zeit reichte aus, um sein Weltbild zu erschüttern.
Als er zurück ins Erdgeschoss schlich, wartete seine Familie bereits auf ihn. Heinrich war bleich vor Zorn, aber es war Margarete, die das Wort ergriff. Ihre Stimme war ruhig, aber kalt wie Winterluft.
„Du warst oben“, sagte sie. „Es war keine Frage. Du hast gesehen, was du nicht sehen solltest.“
Friedrich nickte stumm.
„Dann weißt du jetzt, dass Großmutter noch bei uns ist, und du weißt, dass wir alle tun müssen, was nötig ist, damit das so bleibt.“
Was genau Margarete mit diesen Worten meinte, wurde Friedrich erst in den folgenden Nächten klar: Die Familie hatte seit Marthas Tod eine neue Routine entwickelt. Eine Routine, die Friedrich nun als vollwertiges Mitglied teilen sollte.
Der erste Dezember 1852 brachte einen schweren Schneesturm über den Harz. Als der Sturm sich legte, meldeten sich mehrere Dorfbewohner bei den örtlichen Behörden, um von ungewöhnlichen Beobachtungen zu berichten. Johann Müller berichtete von einer dramatischen Veränderung in den Geräuschen. Die Stimmen waren nicht nur lauter geworden, sondern schienen auch zu verschiedenen Tageszeiten aufzutreten.
„Es ist nicht mehr nur nachts“, berichtete er Gemeindeschreiber Weber. „Manchmal höre ich die Stimmen am helllichten Tag, als würde die ganze Familie gleichzeitig sprechen.“
Jetzt klangen sie angespannt, manchmal sogar streitlustig. „Es ist, als gäbe es Meinungsverschiedenheiten“, erklärte Müller. „Die Stimme der alten Frau klingt ärgerlich. Und die anderen scheinen zu widersprechen.“
Weber beschloss erneut, einen offiziellen Besuch auf dem Kraus’schen Hof zu machen. Als er am 5. Dezember dort eintraf, fand er eine Familie vor, die sich dramatisch verändert hatte. Heinrich Kraus wirkte gealtert und müde. Margarete erschien nur kurz und verschwand dann wieder. Die Kinder waren zunächst gar nicht zu sehen.
Während dieses Gesprächs bemerkte Weber deutlich Geräusche aus dem Obergeschoss. Es klang, als würden mehrere Personen gleichzeitig leise sprechen, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
Am Abend positionierte sich Weber wieder bei den Fichten, um die nächtlichen Stimmen zu beobachten. Was er hörte, bestätigte Müllers Berichte. Die Stimmen klangen nicht mehr wie eine harmonische Familienunterhaltung, sondern wie eine angespannte Diskussion. Marthas Stimme war deutlich zu hören und klang tatsächlich ärgerlich, fast herrisch.
„Die Familie Kraus führt offenbar nächtliche Zusammenkünfte durch, bei denen sie so tun, als würde die verstorbene Martha teilnehmen“, notierte Weber, doch er ahnte, dass seine rationale Erklärung nicht ausreichte.