Die Kammer war genauso eingerichtet, wie Friedrich es beschrieben hatte. Aber was Dr. Bollmann erstarren ließ, lag auf dem Bett. Es war ein Körper, oder das, was von einem Körper übrig war. Die sterblichen Überreste waren in ein sauberes, weißes Leichentuch gehüllt und mit frischen Kräutern und getrockneten Blumen bedeckt. Der Schädel war teilweise sichtbar, ebenso Teile der Knochen an Armen und Beinen. Die Haut war zu einer lederartigen Substanz mumifiziert.
„Sie ruht sich aus“, sagte Friedrich hinter ihm, und seine Stimme klang stolz, als würde er ein kostbares Familienerbstück präsentieren. „Mutter sagt, bald wird sie wieder sprechen können, nicht nur nachts. Dann wird sie uns zeigen, wie wir richtig leben sollen.“
Dr. Bollmann war ein Mann der Wissenschaft, aber was er sah, erschütterte seine rationale Weltanschauung. Die Familie hatte Martha Kraus nicht begraben lassen. Sie hatten eine andere Leiche beigesetzt und die echte Martha in ihrem Zimmer behalten und behandelten sie, als wäre sie noch am Leben.
„Sie ist nicht tot“, unterbrach ihn Margarete, die in der Türöffnung stand, mit plötzlicher Schärfe. Ihre Augen glänzten mit einem fiebrigen Licht. „Sie spricht mit uns. Sie gibt uns Anweisungen. Sie sorgt für uns. Tote können das nicht.“
Dr. Bollmann bemerkte weitere Details, die seine Beunruhigung verstärkten. An der Wand hingen kleine Zettel mit handgeschriebenen Notizen. Er trat näher heran und las: „Mutter sagt: Friedrich muss mehr essen. Mutter sagt, Anna soll weniger weinen. Mutter sagt, Wilhelm zweifelt zu viel.“
„Das sind ihre täglichen Anweisungen“, erklärte Margarete stolz.
In diesem Moment verstand Dr. Bollmann, dass die Familie Kraus nicht nur unter Wahnvorstellungen litt, sie waren zu etwas geworden, was er sich nie hätte vorstellen können, zu Wächtern über einen Zustand zwischen Leben und Tod.
Heinrich erschien in der Türöffnung. „Sie haben gesehen“, sagte er einfach. „Jetzt verstehen Sie, warum wir nicht wollen, dass Fremde sich in unsere Angelegenheiten einmischen.“
„Herr Kraus“, begann Dr. Bollmann, aber Heinrich hob die Hand.
„Mutter spricht“, sagte Heinrich und lauschte einer Stimme, die nur er zu hören schien. Nach einem Moment nickte er. „Sie sagt, sie sind willkommen, aber sie müssen versprechen, unser Geheimnis zu bewahren. Die Menschen draußen würden nicht verstehen. Sie würden versuchen, uns zu trennen.“
Dr. Bollmann verließ das Kraus’sche Anwesen mit dem Gefühl, aus einem Albtraum erwacht zu sein.
Zurück in Klaustal suchte er sofort Pastor Hartmann und Gemeindeschreiber Weber auf. Was er ihnen in den folgenden dreißig Minuten berichtete, ließ beide Männer verstummen.
„Sie behalten den Körper. In ihrem Haus?“, fragte Pastor Hartmann schließlich ungläubig.
„Nicht nur das“, erwiderte Dr. Bollmann. „Sie behandeln ihn, als wäre Martha Kraus noch am Leben. Sie sprechen mit ihr, bringen ihr Essen, fragen sie um Rat. Die Kinder glauben wirklich, dass ihre Großmutter ihnen antwortet.“
„Das ist unmöglich“, schüttelte Weber den Kopf.
„Wir müssen die Kreisbehörden informieren“, erklärte Weber entschieden. „Das ist ein Fall für die Bezirksregierung in Goslar.“
„Wenn wir jetzt eingreifen“, vollendete Pastor Hartmann, „zerstören wir nicht nur ihre Warnwelt, sondern auch noch ihr Weihnachtsfest, die psychologischen Folgen für die Kinder…“
„Ihr Weihnachtsfest!“, unterbrach Dr. Bollmann scharf. „Diese Kinder feiern Weihnachten mit einem verwesenden Körper. Glauben Sie wirklich, dass wir das noch einen Tag länger tolerieren können?“
Schließlich einigten sie sich auf einen Kompromiss. Am ersten Weihnachtstag würden sie gemeinsam zum Kraus’schen Hof gehen, nicht als offizielle Delegation, sondern als besorgte Gemeindemitglieder, die ein letztes Gespräch führen wollten. Falls dieses Gespräch scheiterte, würden sie am Tag nach Weihnachten die Kreisbehörden informieren.
Der Weihnachtsmorgen brachte dichten Nebel über Klaustal. Als die kleine Delegation sich auf den Weg zum Kraus’schen Hof machte, war das Anwesen in unheimlicher Stille gehüllt. Kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Die Fenster waren wie immer verhängt, aber heute schien das Gebäude vollkommen leblos.