
An den Ausläufern des Schwarzwalds, unweit der Stadt Freiburg im Breisgau, schlängelte sich ein alter Handelsweg durch dichte Wälder aus Fichten und Buchen. Im Jahr 1889 wurde dieser Weg häufig von Händlern, Fuhrleuten und Reisenden benutzt, die Waren zwischen den Städten des Großherzogtums Baden transportierten oder ihr Glück in den Silber- und Salzminen des Südens suchten.
Etwa 5 km außerhalb der Stadt, dort, wo der Weg sich zwischen zwei Hügeln verengte, stand ein bescheidenes Gasthaus mit weiß getünchten Wänden und einem Dach aus roten Ziegeln. Die Einheimischen nannten es „Zum Wegkreuz“. Das Gasthaus gehörte den Schwestern Albrecht, Margarete und Helene, Zwillingen mittleren Alters. Beide Frauen waren von schmaler Gestalt, trugen ihr dunkelbraunes Haar streng nach hinten gekämmt und kleideten sich stets in schlichte dunkle Stoffe, wie es sich für unverheiratete Frauen gehörte. Ihre Gesichter trugen denselben ernsten Ausdruck, doch wer sie genauer kannte, wusste: Margarete war die Gesprächige, Helene die Schweigsame. Sie hatten das Gasthaus vor 10 Jahren von ihrem Vater Johann Albrecht geerbt, einem mürrischen Mann, der eines Abends plötzlich tot hinter dem Schankraum zusammengebrochen war. Seitdem führten die Schwestern den Betrieb allein.
Das Gasthaus bot drei einfache Zimmer, aber sie waren stets sauber. Der Duft von Suppe, Schmalzgebäck und frischem Brot lag fast immer in der Luft. Wer hier einkehrte, wusste, dass er eine warme Mahlzeit und ein ordentliches Bett erwarten durfte – und dass die Wirtinnen nicht viele Fragen stellten. Margarete bediente die Gäste im Gastraum, während Helene in der Küche arbeitete.
Viele Reisende bewunderten Helenes Kochkunst: Eintöpfe aus Wildfleisch, gebratene Kartoffeln mit Zwiebeln, Apfelkompott, dazu kräftiges Bier aus der Brauerei im Nachbardorf. Am späten Nachmittag eines Novembertages, als Nebel über den Feldern lag und der Wind die letzten Blätter von den Bäumen riss, näherte sich ein Reiter der Schenke. Sein Pferd war schweißnass vom steilen Aufstieg und der Mann selbst trug einen langen Mantel, dessen Saum vom Regen schwer geworden war. Er hieß Johann Meer, ein Tuchhändler aus Offenburg, der regelmäßig zwischen den Städten reiste, um Stoffe und Leinen zu verkaufen. Er hatte das Gasthaus der Schwestern schon zweimal besucht und schätzte die Ordnung und Ruhe des Hauses.
„Guten Abend, Frau Margarete“, sagte er freundlich, als er vor der Tür abstieg. „Willkommen zurück, Herr Meer“, antwortete sie mit einem dünnen Lächeln. „Sie haben sicher eine weite Reise hinter sich. Kommen Sie herein, das Feuer brennt schon.“ Johann führte sein Pferd in den kleinen Stall neben dem Haus, wo ein kräftiger Brauner und eine Kuh standen. Der Boden war frisch mit Stroh bedeckt, und in einer Ecke lag ein Spaten, auf dem getrocknete Erde klebte. „Meine Schwester kocht gerade Wildragout mit Linsen“, sagte Margarete, während sie ihm half, das Gepäck abzunehmen. „Das wird Ihnen sicher schmecken.“ Johann nickte dankbar. „Klingt ausgezeichnet. Ich werde gut schlafen heute Nacht.“ Was er nicht wusste: Niemand würde ihn je wiedersehen.
Die Schwestern Albrecht hatten im Laufe der Jahre eine unheimliche Methode entwickelt, um ihre Opfer zu wählen: Reisende, die allein unterwegs waren, oft Händler, die Bargeld oder wertvolle Waren bei sich trugen. In der stillen Abgeschiedenheit des Schwarzwalds hatte niemand je Verdacht geschöpft. Während Helene in der Küche das Ragout abschmeckte, griff sie nach einem kleinen Beutel aus Leinen. Darin befand sich eine getrocknete, fein gemahlene Wurzel, Schlafkraut, wie ihre Großmutter es genannt hatte. Eine Pflanze, die angeblich in alten Hexenrezepten Erwähnung fand. Ein Hauch davon reichte, um einen kräftigen Mann in weniger als einer Stunde in tiefen Schlaf zu versetzen.
Als Johann Meer an diesem Abend in der warmen Stube saß, den schweren Löffel in der Hand und den Duft von Pfeffer und Wein in der Nase, bemerkte er den leicht bitteren Nachgeschmack des Ragouts kaum. Er lobte Helene für ihr köstliches Mahl und trank den Wein aus, den Margarete ihm mit einem höflichen Lächeln einschenkte. Später, als die Schwestern die Lampen löschten, lag Johann bereits bewusstlos in seinem Bett. Draußen rauschte der Wind durch die Bäume, und der Mond war hinter Wolken verborgen.
Im Stall harrte das Pferd unruhig. Helene trug eine Schaufel und eine Laterne. „Diesmal unter dem rechten Pfosten“, sagte sie leise. Margarete nickte. „Es ist genug Platz, und morgen früh reiten wir in die Stadt. Niemand wird etwas merken.“ Während die Erde leise auf den Stoff fiel, in den sie den Körper gewickelt hatten, sagte Margarete mit ruhiger Stimme: „Die Nacht ist gnädig mit uns, Schwester.“ Und Helene antwortete: „Ja, und der Wald vergisst alles.“
Am nächsten Morgen lag dichter Nebel über den Hügeln. Der Regen der Nacht hatte Pfützen auf dem Hof hinterlassen, und das Gras war schwer von Feuchtigkeit. Margarete stand früh auf, wie immer, zündete die Lampe im Gastraum an und stellte die Kaffeekanne auf den gusseisernen Ofen. Der Duft von frisch gemahlenen Bohnen erfüllte das Haus. Helene war im Stall, säuberte sorgfältig den Boden und warf Stroh über eine dunkle, unauffällige Stelle hinter dem alten Heuwagen. Kein Laut. Kein Zittern in den Bewegungen, nur die Routine zweier Frauen, die alles schon unzählige Male getan hatten.
Später, als die Sonne durch die Wolken brach, hörte man in der Ferne das Rollen eines Wagens. Ein Bauer aus dem Nachbardorf brachte Milch und Brot. Margarete nahm die Lieferung entgegen, plauderte kurz, bezahlte in bar und erwähnte beiläufig, dass der letzte Gast schon früh weitergereist sei, Richtung Trieberg, wie er sagte. Niemand stellte Fragen.
In Freiburg, einige Tage später, saß der Bezirkskommissar Friedrich Köhler an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag ein Stapel Berichte über verschwundene Reisende: Kaufleute, Handwerker, Fuhrleute, die in den letzten drei Jahren spurlos verschwunden waren. Er war ein Mann Mitte 50 mit grauem Bart, breiten Schultern und dem ernsten Blick eines Menschen, der die Schattenseiten der Welt kannte. Drei Jahrzehnte im Dienst hatten ihn gelehrt, dass selbst in den friedlichsten Gegenden das Böse Wurzeln schlagen konnte. Sein junger Assistent, Wilhelm Hartmann, ein frisch diplomierter Jurist aus Heidelberg, sortierte die Akten nach Datum. „Herr Kommissar“, sagte er zögernd, „sehen Sie sich diese Fälle an. Die meisten dieser Männer verschwanden während der Neumondnächte, immer auf demselben Abschnitt der Straße zwischen Freiburg und Trieberg.“
Köhler zog die Pfeife aus dem Mund und runzelte die Stirn. „Neumond, sagen Sie? Das klingt nach einem Muster.“ Er beugte sich über die Karte, die die Gegend zeigte – die Wälder, die Dörfer, die kleinen Gasthäuser entlang der Handelsroute. Wilhelm deutete mit dem Finger auf einen Punkt. „Hier, das Gasthaus Zum Wegkreuz. Es ist das einzige Haus auf dem ganzen Abschnitt, das Übernachtungen anbietet. Gehört zwei Schwestern, Margarete und Helene Albrecht. Sehr angesehen in der Gemeinde, gehen jeden Sonntag zur Messe.“ „Zwei fromme Frauen“, murmelte Köhler. „Das sind oft die gefährlichsten.“ Er erhob sich, trat ans Fenster und blickte auf die Dächer der Stadt hinab. „Ich werde mir dieses Gasthaus selbst ansehen, Wilhelm, aber nicht als Kommissar. Wir reisen als Kaufleute. Tuchhändler vielleicht. Packen Sie das Notwendige. Wir brechen morgen früh auf.“ Wilhelm nickte. Sein Herz pochte schneller. Es war seine erste richtige Untersuchung.
Am nächsten Vormittag ritten die beiden Männer aus der Stadt. Das Wetter war klar, aber kalt. Die Bäume leuchteten in goldenen und kupfernen Tönen des späten Herbstes. Nach einigen Stunden tauchte zwischen den Fichten das Gasthaus Zum Wegkreuz auf. Rauch stieg aus dem Schornstein, und Hühner pickten auf dem Hof. Margarete trat aus der Tür, als sie die Hufschläge hörte. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine saubere weiße Schürze und ein Tuch um die Schultern. Ihr Blick war ruhig, beinahe freundlich. „Guten Tag, meine Herren. Suchen Sie Unterkunft?“
„Ja, gute Frau“, antwortete Köhler mit gespielter Höflichkeit. „Wir reisen nach Trieberg. Der Weg war lang. Zwei Zimmer, wenn Sie so freundlich wären.“ „Natürlich, wir haben noch Platz.“ Während Margarete sie ins Haus führte, erschien Helene aus der Küche. Sie war ihrer Schwester wie ein Spiegelbild. Nur eine feine Narbe über der linken Augenbraue unterschied sie. „Meine Schwester wird Ihnen etwas Warmes zubereiten“, sagte Margarete. „Ein wenig Suppe und Brot, wenn es recht ist.“ „Das wäre vortrefflich“, sagte Wilhelm, bemüht, seine Nervosität zu verbergen. Das Innere des Gasthauses war schlicht, aber makellos. Alte Holztische, Kupfergeschirr an den Wänden, ein kleiner Altar mit einer Madonnenfigur. Alles wirkte ehrbar, fast zu ehrbar.
Beim Essen unterhielten sie sich beiläufig. Köhler stellte Fragen wie nebenbei. „Kommen oft Reisende hier vorbei?“ „Nicht mehr so viele wie früher“, antwortete Margarete ruhig. „Die Zeiten sind unsicher. Man hört von Räubern und Wilderern in den Wäldern.“ „Ach ja, und Sie, gute Frau, fürchten sich nicht?“ Ein kaum merkliches Lächeln huschte über Helenes Gesicht. „Wir haben unsere Art, mit Fremden umzugehen.“
Während Köhler scheinbar beiläufig das Zimmer betrachtete, bemerkte er: Alles war zu ordentlich, zu kontrolliert, als wolle jemand den Eindruck makelloser Tugend erzwingen. Wilhelm, der den Stall aufsuchte, um die Pferde zu versorgen, bemerkte dort etwas Seltsames. Der Boden war stellenweise frisch aufgeworfen, das Stroh neu verteilt. Der Geruch der Erde mischte sich mit einem süßlich-fauligen Hauch, den er nicht einordnen konnte. „Gab es hier Bauarbeiten?“, fragte er, als Helene erschien. „Die Regenfälle der letzten Woche“, antwortete sie ohne Zögern. „Der Boden sackte etwas ab. Wir mussten ihn glätten.“ Ihre Stimme war ruhig, aber ihre Augen kalt und wachsam.
Als die Nacht hereinbrach, legten sich die beiden Männer in ihre Zimmer, doch keiner schlief. Sie hatten vereinbart, sich abzuwechseln. Köhler überprüfte die Türverriegelung und bemerkte ein schmales Loch im Rahmen, gerade breit genug, um einen Haken hindurchzuschieben. Er stopfte es mit Papier aus. Wilhelm tat dasselbe. Dann setzten sie sich schweigend, jeder mit der Hand an der Waffe, während draußen der Wind gegen die Fensterläden peitschte.
Unten in der Küche standen die Schwestern nebeneinander. „Sie sind keine Händler“, flüsterte Margarete. „Der Ältere kleidet sich wie ein Mann des Gesetzes.“ Helene nickte. „Wir warten. Keine Dummheiten heute Nacht. Morgen früh schicken wir sie fort.“ Dann sah sie aus dem Fenster in den dunklen Wald. „Und wenn sie nicht gehen?“ „Dann“, sagte Margarete leise, „haben wir Platz für zwei mehr unter dem Stall.“
Die Nacht im Gasthaus Zum Wegkreuz war still, aber in dieser Stille lag etwas Unheimliches. Das alte Holz knarrte, der Wind heulte in den Fichten, und irgendwo in der Ferne schlug ein Hund an. Wilhelm Hartmann saß auf dem Rand seines Bettes, die Pistole in der Hand. Er lauschte auf jedes Geräusch. In dem schwachen Schein der Lampe sah er, wie der Schatten der Vorhänge zitterte, als würde jemand draußen vorbeigehen. Nebenan, im Zimmer des Kommissars, knisterte das Feuer im kleinen Ofen. Friedrich Köhler war wach geblieben. Er hatte zu viele Nächte in verdächtigen Häusern verbracht, um dem Frieden eines ländlichen Gasthauses zu trauen. Gegen Mitternacht hörte er leise Schritte auf dem Flur, zu leicht, um von einem Mann zu stammen. Dann ein kaum hörbares Kratzen an der Tür. Köhler spannte den Hahn seiner Waffe, doch die Schritte entfernten sich wieder.
Als der Morgen graute, standen beide Männer früh auf. Margarete empfing sie lächelnd im Gastraum, als sei nichts gewesen. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, meine Herren. Das Frühstück ist gleich fertig.“ Helene stellte eine Kanne mit Milch und frischem Brot auf den Tisch. Der Duft von Zimt und warmem Hefeteig lag in der Luft. Köhler beobachtete, wie Helene sich bewegte, präzise, lautlos, ohne unnötige Gesten. Sie redete kaum. „Wir müssen bald weiter“, sagte er beiläufig. „Aber vorher möchte ich noch einmal nach den Pferden sehen.“ Margarete nickte höflich. „Wie Sie wünschen, Herr Meier.“
Im Stall roch es nach Stroh und kalter Erde. Der Nebel kroch durch die Ritzen. Wilhelm trat ein paar Schritte nach vorn und bückte sich über eine Stelle, an der das Stroh ungewöhnlich locker lag. Er stieß leicht mit der Schuhspitze in die Erde. Sie war frisch. „Herr Kommissar“, flüsterte er, als Köhler hinzukam. „Sehen Sie das? Jemand hat hier in letzter Zeit gegraben.“ Köhler beugte sich hinab, roch an der Erde und erstarrte. Ein schwacher, süßlicher Geruch stieg auf. Unverkennbar. „Verwesung“, sagte er leise.
Plötzlich hörten sie hinter sich Schritte. Margarete stand in der Tür, die Hände gefaltet, ihr Blick ruhig, aber hart. „Alles in Ordnung, meine Herren?“, fragte sie. Köhler richtete sich auf. „Gewiss. Wir prüfen nur die Beschläge unserer Sättel. Ihr Boden ist ungewöhnlich weich. Ein Zeichen von Feuchtigkeit.“ „Ja“, sagte sie. „Es hat viel geregnet in letzter Zeit.“ Ihre Stimme blieb freundlich, doch ihre Augen ruhten lange auf den Männern.
Zurück im Gastraum zahlte Köhler für die Übernachtung. Helene nahm das Geld mit Händen entgegen, an denen Erde unter den Fingernägeln klebte. Draußen auf der Straße wandte sich Wilhelm zu seinem Vorgesetzten. „Was jetzt?“ Köhler zog etwas aus der Tasche, einen kleinen silbernen Knopf, den er heimlich im Stall aufgehoben hatte. „Er gehörte einem der verschwundenen Händler. Ich habe die Beschreibung in den Akten gesehen. Dann kehren wir heute Nacht zurück.“ „Ja“, sagte Köhler düster, „und diesmal nicht als Gäste.“
Während sie nach Freiburg ritten, standen die Schwestern an einem der kleinen Fenster des Gasthauses und beobachteten sie, bis die Männer hinter der Biegung verschwanden. Helene sprach zuerst: „Sie haben zu viel gesehen.“ „Ich weiß“, antwortete Margarete. „Heute Nacht müssen wir alles bewegen, den Boden im Stall, die Kisten im Keller. Und wenn sie zurückkommen?“ Sie vollendete den Satz nicht.
Am Nachmittag zogen dunkle Wolken über die Hügel. Ein Sturm kündigte sich an. Margarete und Helene arbeiteten schweigend. In der Küche brannte ein schwaches Feuer, während sie Säcke mit Erde und Stroh nach draußen trugen. Die Luft war schwer und drückend, wie vor einem Gewitter. „Ich habe immer gewusst, dass dieser Tag kommt“, sagte Helene leise, als sie den Spaten abstellte. „Vielleicht“, antwortete Margarete. „Aber bis dahin haben wir gelebt wie Königinnen. Und wenn sie uns finden: Sie werden uns nicht lebend bekommen.“
Die Nacht senkte sich über den Schwarzwald. Der Regen fiel in dünnen Schleiern, und der Wind zerrte an den Ästen der Bäume. Etwa eine Stunde nach Mitternacht kehrten Köhler und Wilhelm zurück – zu Fuß, die Laternen abgedeckt. Sie ließen ihre Pferde eine halbe Meile entfernt und schlichen sich durch das nasse Unterholz. „Bleiben Sie dicht bei mir“, flüsterte Köhler. „Kein Licht, bis wir beim Stall sind.“ Das Gasthaus lag still da, nur aus dem Kamin stieg schwacher Rauch.
Sie erreichten die Rückseite des Stalls. Köhler hob vorsichtig die Holzlatte, die die Tür verriegelte. Ein schwacher Geruch schlug ihnen entgegen: Erde, Tier, Fäulnis. „Hier“, murmelte er. „Fangen wir an.“ Mit bloßen Händen begannen sie zu graben. Die Erde war weich, wie erwartet. Nach wenigen Minuten stieß Wilhelm auf etwas Festes, eine Decke, fest verknotet. Köhler hob den Stoff an, öffnete ihn mit seinem Messer und erstarrte. Das blasse Gesicht eines Mannes kam zum Vorschein, die Züge verzerrt, aber noch erkennbar. „Johann Meer“, sagte Köhler tonlos. „Er fehlt seit drei Tagen.“ Wilhelm trat zurück. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. „Mein Gott, sie sind Monster.“ „Nein“, sagte Köhler leise, „Sie sind Menschen, die zu Monstern geworden sind. Und morgen früh wird der Schwarzwald ihr Grab werden, nicht das seiner Opfer.“
Der Regen hatte sich in der Nacht in einen feinen, kalten Nebel verwandelt, der sich wie ein grauer Schleier über den Wald legte. Das Licht der Laterne, die Friedrich Köhler in der Hand hielt, zitterte über den feuchten Boden des Stalls, wo der tote Körper Johann Meers lag. „Wir haben genug gesehen“, flüsterte Wilhelm. „Wir müssen Verstärkung holen.“ „Noch nicht“, erwiderte Köhler ruhig. „Wenn wir jetzt fortgehen, könnten sie fliehen. Wir brauchen Beweise, mehr als nur einen Toten. Grab weiter, dort, wo der Boden heller ist.“
Sie gruben schweigend. Das Herz schlug ihnen bis zum Hals. Nach kurzer Zeit stießen sie auf ein zweites Bündel, kleiner, fast sorgsam eingewickelt. Als sie es öffneten, lag darin ein anderer Mann, älter, das Gesicht eingefallen, die Hände gefaltet, als hätte jemand ihm im Tod das Gebet erzwungen. „Zwei in einer Woche“, sagte Köhler heiser. „Wie viele noch?“
In diesem Moment hörten sie ein Geräusch: leise Schritte auf dem Kies des Hofes. Köhler löschte die Laterne. „Sie sind wach“, flüsterte er. Die Tür des Stalls öffnete sich langsam. Eine Gestalt trat ein, nur im Schimmer des Mondes erkennbar. Helene. In der Hand hielt sie eine kleine Öllampe und einen Spaten. Sie blieb stehen, als sie den offenen Boden sah. Einen Augenblick lang regte sich nichts, dann ließ sie die Lampe fallen. „Friedrich Köhler“, sagte sie tonlos, „ich wusste, Sie würden zurückkommen.“
„Legen Sie das Werkzeug nieder“, befahl er ruhig. „Sie und ihre Schwester stehen unter Verdacht des Mordes. Widerstand ist zwecklos.“ Helene lachte leise, ein Laut ohne Freude. „Verdacht? Sie stehen über einem Grab, Herr Kommissar. Und doch glauben Sie, das Recht könne uns retten.“ Hinter ihr erschien Margarete, barfuß, mit einem Tuch über den Schultern. In der einen Hand hielt sie ein Küchenmesser, in der anderen eine kleine Kiste. „Wir gehen nicht mit Ihnen“, sagte sie ruhig. „Nicht wir, nicht lebend.“
Köhler hob die Waffe. „Ich will kein Blut vergießen. Geben Sie das Messer her.“ „Das Blut ist längst vergossen“, antwortete Margarete und warf die Kiste zu Boden. Der Deckel sprang auf, darin blitzten Silbermünzen, goldene Ringe, Taschenuhren, Knöpfe aus Perlmutt – das Erbe ihrer Opfer. „Das sind ihre Gesichter“, flüsterte sie. „Jeder von ihnen liegt unter unseren Füßen. Wir haben ihnen Ruhe gegeben, mehr, als das Leben es tat.“
In diesem Moment trat Helene vor. Ihr Blick war klar, fast ruhig. „Gehen Sie“, sagte sie leise. „Wenn Sie jetzt gehen, werden Sie leben. Wenn nicht, werden Sie sich selbst hier eingraben müssen.“ Ein Blitz erhellte den Himmel, kurz und grell. Köhler sah, wie Margarete sich bewegte, schnell wie eine Katze. Er schoss. Das Krachen hallte durch den Stall. Margarete taumelte, das Messer fiel aus ihrer Hand. Sie griff an ihre Schulter. Blut sickerte zwischen ihren Fingern. „Lauf, Helene!“, schrie sie.
Doch Helene blieb. Sie beugte sich zu ihrer Schwester, die schwer atmend an der Wand zusammensank. „Ich laufe nicht“, flüsterte sie. „Ich bleibe bei dir.“ Köhler trat einen Schritt näher, die Pistole noch immer erhoben. „Es ist vorbei“, sagte er. „Euer Gasthaus wird durchsucht, und morgen wird der Schwarzwald eure Geheimnisse preisgeben.“ Margarete lächelte, blutverschmiert. „Der Wald verrät nichts, Herr Kommissar. Er bewahrt, was ihm gegeben wird.“
Ein weiteres Donnergrollen rollte über die Hügel. Wilhelm stürzte herein, das Gesicht bleich. „Herr Köhler, draußen – da ist jemand!“ Er kam nicht zum Ende. Hinter ihm krachte Holz. Die Tür des Stalls schlug zu, als hätte sie jemand mit Gewalt gestoßen. Ein Windstoß fuhr durch den Raum, die Lampe flackerte. Als das Licht wieder aufflammte, war Helene verschwunden. „Sie hat den Hinterausgang genommen“, rief Wilhelm.
Köhler kniete kurz neben Margarete. „Wo ist sie hin?“ Die Frau lächelte nur schwach. „In den Wald, wo niemand sie je finden wird, so wie all die anderen.“ Dann sank ihr Kopf zur Seite, und das Leben wich aus ihren Augen. Köhler stand auf, die Pistole in der Hand, und rannte hinaus in den Nebel.
Der Regen hatte wieder eingesetzt, peitschte gegen sein Gesicht, die Bäume ächzten unter dem Sturm. Zwischen den Stämmen sah er eine Bewegung, einen Schatten, der sich rasch entfernte. „Helene!“, rief er. „Bleiben Sie stehen!“ Keine Antwort, nur das Rauschen des Windes. Er folgte ihr tiefer in den Wald, das Herz hämmernd, die Stiefel glitschig vom Schlamm. Immer wieder glaubte er, Schritte zu hören, dann wieder nichts als das eigene Atmen.
Nach einer Weile erreichte er eine kleine Lichtung. Dort stand Helene, das Haar vom Regen durchnässt, die Kleider zerrissen. In der Hand hielt sie den Spaten. „Ich habe dich erwartet“, sagte sie ruhig. „Du willst Gerechtigkeit? Dann graben Sie.“ „Legen Sie das Werkzeug nieder“, befahl er noch einmal. Helene hob den Kopf, und in ihrem Blick lag etwas, das ihn frösteln ließ. Nicht Wut, nicht Angst, sondern Erleichterung. „Ich habe genug von der Erde“, flüsterte sie. „Nun soll sie mich nehmen.“ Und ehe Köhler reagieren konnte, drehte sie den Spaten, stieß die Metallkante gegen die Brust und fiel nach hinten in den aufgeweichten Boden, der sie wie ein nasses Leichentuch aufnahm. Der Kommissar stand reglos. Der Regen prasselte auf ihn herab. Für einen langen Moment war nichts zu hören als der Wind in den Bäumen und das ferne Läuten der Kirchenglocken von Freiburg, die den neuen Tag ankündigten.
🔍 Das Erbe des Wahnsinns: Die Entdeckung der Journale

Am nächsten Morgen lag ein dumpfer, feuchter Dunst über dem Tal. Der Regen hatte sich gelegt, doch die Luft war schwer, als würde der Wald selbst den Atem anhalten. Das Gasthaus Zum Wegkreuz stand still, die Fensterläden geschlossen, der Kamin kalt. Friedrich Köhler saß in der Gaststube, die Hände um eine kalte Tasse Kaffee gelegt. Wilhelm Hartmann stand am Fenster und beobachtete, wie zwei Gendarmen den Stall absperrten. „Wie viele, glauben Sie, liegen dort unten?“, fragte der junge Mann leise.
Köhler antwortete nicht sofort. Er starrte auf die Holzbohlen des Bodens, als könne er durch sie hindurchsehen. „Mehr, als wir zählen möchten.“ Er erhob sich langsam. „Wir müssen graben, jeden Meter, jede Ecke. Nichts darf verborgen bleiben.“ Bald darauf füllte sich der Hof mit Männern, Schaufeln und dem dumpfen Klang von Metall auf Erde. Der Stall, der Keller, sogar der Garten hinter dem Haus, überall begannen sie, die Erde zu öffnen. Schon nach wenigen Stunden fanden sie weitere Körper. Einige noch in Leinen gewickelt, andere nur noch Skelette, ihre Knochen von der Zeit zerfressen. Die Sonne stand tief, als der Arzt aus Freiburg, Dr. Reinhard Vogel, eintraf, ein älterer Mann mit abgearbeiteten Händen und müden Augen. „30, vielleicht mehr“, murmelte er, während er seine Notizen machte. „Verschiedene Altersstufen, Männer zwischen 30 und 60. Alle starben auf dieselbe Weise. Vermutlich Gift.“
Köhler stand schweigend daneben. Sein Blick fiel auf Helene Albrechts Spaten, der noch an der Wand lehnte. Auf dem Metall klebte dunkler, verkrusteter Lehm. Der Geruch von feuchter Erde und Moder lag schwer in der Luft. Wilhelm trat zu ihm. „Was machen wir mit den Leichen?“ „Wir bringen sie in die Kirche von Waldkirch“, sagte Köhler. „Jede wird identifiziert, soweit es geht. Die Familien sollen wissen, was aus ihren Söhnen, ihren Männern wurde.“
Am späten Nachmittag, als der Himmel wieder zuzog, durchsuchten sie das Haus. Margaretes Zimmer war ordentlich, fast asketisch. Ein Rosenkranz hing über dem Bett. Daneben ein vergilbtes Familienbild: Zwei junge Mädchen in weißen Kleidern neben einem Mann mit kalten Augen. Helene hatte weniger Ordnung gehalten. In einer Schublade fanden sie alte Gläser mit Kräutern, kleine Papierpäckchen mit Aufschriften in verblasster Tinte: Bilsenkraut, Schlafwurz, Eisenhut. Wilhelm legte die Tütchen vorsichtig beiseite. „Das ist ihre Waffe gewesen“, sagte er. „Kein Messer, kein Gewehr, nur Pflanzen.“ Köhler nickte. „Gift ist die Waffe der Ohnmächtigen. Und sie waren es lange, bevor sie zu Herrinnen dieses Hauses wurden.“
Später entdeckten sie unter einem losen Dielenbrett im Schlafzimmer eine kleine Truhe. Drinnen lag ein Buch in Leder gebunden, die Seiten fleckig und brüchig. Auf der ersten Seite stand in zierlicher Schrift: Margarete Albrecht, Freiburg 1862. Köhler blätterte vorsichtig. Die ersten Einträge waren kindlich, unschuldig. Geschichten vom Wald, von Tieren, von der Mutter, die Brot backte. Dann veränderte sich die Schrift. Die Zeilen wurden dunkler, unruhiger. Vater trank wieder. Helene und ich mussten draußen schlafen. Mutter weinte, ich hörte Schreie.
Je weiter Köhler las, desto schwerer wurde die Luft im Raum. Vater hat Mutter geschlagen, bis sie nicht mehr aufstand. Er sagte, sie sei gefallen. Wir mussten sie im Garten begraben. Helene betete die ganze Nacht. Köhler legte das Buch kurz beiseite, wischte sich über das Gesicht, dann las er weiter. Heute brachte Vater einen Mann mit, einen Reisenden. Er trank und lachte laut. Am Morgen war der Mann fort, aber im Stall war die Erde frisch. Die Einträge überschlugen sich, als hätte Margarete in Hast geschrieben, getrieben von Angst und Schlaflosigkeit. Vater sagt, der Wald vergisst, aber der Wald flüstert in meinen Träumen. Er sagt, die Erde atmet, wenn sie Blut trinkt. Die letzten Seiten waren mit fester, erwachsener Schrift verfasst. Wir haben es getan. Helene hat das Kraut bereitet. Er trank es, ohne zu fragen. Ich schlug mit der Axt, wie er es mit ihr tat. Jetzt schläft Vater unter der Küche. Wir sind frei.
Köhler schloss das Buch. „Das war kein Gasthaus“, sagte er tonlos. „Das war ein Erbe.“ Wilhelm sah ihn an, das Gesicht bleich. „Glauben Sie, sie taten es aus Hass?“ „Nein“, antwortete Köhler nach einer Weile. „Aus Gewöhnung. Wer lange genug in der Finsternis lebt, glaubt irgendwann, sie sei das Licht.“
Draußen begannen die Männer, die Leichen in Reihen zu legen. Der Regen setzte erneut ein, langsam, fast ehrfürchtig, als wolle er die Spuren tilgen. Köhler trat hinaus. Der Schlamm klebte an seinen Stiefeln. „Wir schreiben heute Geschichte, Wilhelm“, sagte er leise, „aber keine, die jemand lesen möchte.“
🌲 Die Stimme des Waldes: Ein ewiges Flüstern
Der Tag nach der Entdeckung der Gräber begann grau und schwer. Über dem Schwarzwald hing eine bleierne Wolkendecke, und der Nebel zog in dichten Schwaden durch die Tannen. Friedrich Köhler hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Bilder der gefundenen Leichen verfolgten ihn wie ein Schatten, selbst wenn er die Augen schloss. Gegen Mittag traf ein Wagen aus Freiburg ein. Darauf Kisten, Werkzeuge und zwei Männer des Landgerichts, die die Beweise sichern sollten.
Wilhelm Hartmann begrüßte sie und half beim Abladen. Unter den Gegenständen befand sich eine alte Metallkiste, die sie am frühen Morgen im Keller der Schwestern entdeckt hatten. Der Deckel war verrostet, doch das Schloss ließ sich leicht brechen. Drinnen lagen Dokumente, ein Bündel Briefe und ein zweites dickeres Buch mit Ledereinband. Auf der ersten Seite stand in fester männlicher Schrift: Johann Albrecht, Gasthaus zum Wegkreuz im Jahre 1860.
Köhler öffnete das Buch mit Vorsicht. Der Geruch von Staub und Schimmel schlug ihm entgegen, aber die Schrift war erstaunlich gut erhalten. Heute habe ich das Haus gekauft. Ein Mann aus Offenburg wollte es billig loswerden. Er sagte, seine Frau könne den Ort nicht ertragen. Ich verstehe das. Die Luft hier ist dicht, die Nächte sind laut. Die frühen Einträge klangen wie das Tagebuch eines gewöhnlichen Wirtes. Die Gäste sind zufrieden. Der Wein ist gut. Meine Frau Theresa kümmert sich um die Küche.
Doch bald änderte sich der Ton. Manche Reisende zahlen nicht, was sie sollen. Einer verspottete mich gestern, nannte mich Wucherer. Ich zeigte ihm, dass man mich nicht beleidigt. Er liegt nun hinter dem Stall. Theresa weint. Aber sie wird schweigen. Köhler blätterte weiter. Jeder neue Eintrag war düsterer als der vorherige. *Es ist leicht. So leicht. Die Erde nimmt alles an. Niemand fragt nach einem Händler, der nicht heimkehrt. Der Wald frisst Erinnerung. Wilhelm stand neben ihm, den Atem angehalten. „Er war der Erste“, murmelte Köhler. „Nicht sie. Der Vater hat ihnen das Töten gelehrt.“
Dann folgte ein Eintrag, datiert auf das Jahr 1869. Theresa hat das Kind geboren, einen Jungen. Ich habe ihn Miguel genannt, nach meinem Großvater. Die Zwillinge schauen ihn seltsam an. Vielleicht sind sie eifersüchtig. Ich werde ihn schützen. Danach: Theresa redet zu viel. Sie will fort, sagt, sie werde zum Pfarrer gehen. Ich kann das nicht zulassen. Heute Nacht wird sie still sein. Köhler legte das Buch kurz nieder, atmete schwer, dann las er weiter. Sie ist tot. Die Mädchen halfen beim Graben, zitternd, schweigend. Der Junge schlief. Ich sagte ihnen, sie sollen beten, aber ich sah in ihren Augen denselben Blick, den ich einst im Spiegel sah.
Die Seiten, die folgten, beschrieben eine wachsende Paranoia. Die Mädchen flüstern. Sie beobachten mich. Ich glaube, sie wissen es. Aber sie sind mein Blut. Sie werden tun, was ich getan habe. Dann, kurz vor dem Ende, ein letzter Eintrag. Heute kam ein Mann aus Freiburg, wollte übernachten. Ich zeigte ihm den Stall. Die Mädchen sahen zu. Helene lächelte. Vielleicht versteht sie endlich.
Köhler klappte das Buch zu. Schweigen füllte den Raum. Nur das Tropfen des Regens auf das Fensterbrett war zu hören. Wilhelm brach zuerst das Schweigen. „Er war der Ursprung. Sie haben nur fortgesetzt, was er begann.“ „Ja“, sagte Köhler langsam, „aber sie hätten aufhören können. Sie taten es nicht. Und das macht sie zu Tätern, nicht nur zu Erben.“
Am Abend brachte ein Gendarm neue Nachricht. Unter dem Stall waren noch tiefere Schichten Erde entdeckt worden. Härter, älter, fast wie versteinert. Köhler befahl, weiterzugraben, auch wenn die Nacht hereinbrach. Die Männer arbeiteten bei Lampenlicht, der Boden klebrig und schwer vom Regen. Gegen Mitternacht stießen sie auf etwas. Alte, bröckelnde Holzbretter. Darunter lagen Knochen, kleiner als die der gefundenen Opfer, und ein Stück Stoff, das einst ein Kinderhemd gewesen war. Köhler kniete nieder. „Der Junge“, sagte er leise. „Ihr Bruder.“ Wilhelm schluckte. „Er war also auch…“ „Ja, er hat sie beschützt, und dafür hat der Vater ihn getötet. Der Wald vergisst nicht, Wilhelm. Er erinnert sich nur leise.“
Als sie die letzten Reste der Bretter entfernten, fanden sie darunter noch etwas. Ein Messer mit Griff aus Hirschhorn. Auf der Klinge war [Inschrift nicht angegeben, aber die Handlung impliziert ein Symbol oder Wort]. Köhler stand auf, die Laternen in der Hand. Der Schatten seines Gesichts fiel lang auf den Boden. „Das Böse hier begann lange vor ihnen“, sagte er, „aber Sie haben es genährt. Generation für Generation, bis alles verrottet war.“
Der Regen nahm wieder zu, prasselte auf die Dächer des alten Hauses. Köhler sah hinauf, als könne er die Geister fühlen, die über den Bäumen schwebten. „Wir werden alles bergen“, sagte er, „und wir werden dieses Haus schließen. Kein Mensch soll hier wieder schlafen.“ Wilhelm nickte. „Und wenn jemand eines Tages fragt, was hier geschah?“ Köhler antwortete: „Dann soll man sagen, dass der Wald sie verschluckt hat und dass er sie nie wieder hergeben wird.“
🕰️ Die Wiederkehr der Legende (Die Jahre danach)
Drei Tage nach der Entdeckung der Gräber war das Gasthaus Zum Wegkreuz kein Ort für Menschen mehr. Die Türen standen offen, der Wind pfiff durch die leeren Räume, und der Geruch von nasser Erde und Verwesung lag noch immer in der Luft. Soldaten aus Freiburg bewachten das Gelände, während ein Wagen nach dem anderen die gefundenen Körper in die Stadt brachte.
In einem der hinteren Räume, dort, wo einst die Küche gewesen war, saß Friedrich Köhler an einem Tisch und schrieb seinen Bericht. Die Tinte floss träge, und die Feder kratzte über das Papier wie eine Streichholzflamme auf Glas. 34 Leichen geborgen, darunter ein Kind, vermutlich männlich. Spuren von Gift, starke Spuren von Gewalt. Zwei Täterinnen, Margarete und Helene Albrecht, verstorben. Ursprung der Taten geht auf den Vater Johann Albrecht zurück. Er hielt inne, sah aus dem Fenster und fügte dann hinzu: Motiv: Erbe des Wahnsinns.
Wilhelm trat ein, die Stiefel voller Schlamm. „Herr Kommissar, wir haben noch etwas gefunden.“ Er hielt einen kleinen, feuchten Beutel in der Hand. Darin lag ein Stück Pergament, von Feuchtigkeit gewellt, aber die Schrift war lesbar. Köhler nahm es vorsichtig heraus. Die Buchstaben waren fein, weiblich, aber fest. „Das ist nicht Margaretes Schrift“, sagte er nach kurzem Blick. „Das ist die der Mutter.“ Er begann zu lesen. Wenn ich dies schreibe, weiß ich, dass ich sterben werde. Johann ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe. Etwas hat ihn verändert. Seit jener Nacht, als er im Wald den alten Einsiedler fand, spricht er im Schlaf, redet von Stimmen, die aus der Erde kommen. Er sagt, der Wald habe ihm etwas gezeigt, etwas, das unter den Wurzeln lebt.
Köhler hob den Blick. „Das ist kein Geständnis, das ist eine Warnung.“ Er las weiter. Er sagt, der Wald habe ihn auserwählt, dass wir ihm Blut geben müssen, damit das Haus bestehen bleibt. Ich wollte fliehen, doch er drohte, mich unter die Wurzeln zu legen, wie den Mann, der ihn beleidigt hatte. Wilhelm stand schweigend neben ihm. Draußen rauschte der Wind durch die Fichten, und irgendwo schlug ein Ast gegen das Haus, als wolle er Einlass fordern. Köhler las den letzten Absatz: Wenn meine Kinder dies eines Tages finden, dann sollen sie wissen, es war nicht unser Wille. Der Wald hat ihn genommen, und er wird sie holen, wenn sie bleiben.
Er legte das Pergament nieder. Eine Weile sagte keiner etwas, dann trat Wilhelm ans Fenster. „Glauben Sie, sie hat recht, dass der Wald etwas verlangt hat?“ Köhler seufzte schwer. „Ich glaube an das, was Menschen tun, nicht an das, was sie sich einreden. Aber manchmal ist der Unterschied kleiner, als man denkt.“ Am Abend verließ er das Haus ein letztes Mal. Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne brach kurz durch die Wolken, warf ein bleiches Licht auf die nassen Felder.
Die Soldaten löschten die Laternen, einer nach dem anderen, bis nur noch der Dunst blieb. Köhler stand am Rand des Waldes, das Tagebuch des Vaters und die Notizen der Mutter in der Hand. „Wir verbrennen sie“, sagte er. Wilhelm zögerte. „Aber das sind Beweise.“ „Nein“, entgegnete Köhler. „Das sind Flüche. Wenn jemand sie liest, fängt er an zu glauben, und wenn man glaubt, kehrt das Böse zurück.“ Sie entzündeten das Feuer im alten Ofen der Küche. Das Papier begann sich zu krümmen. Die Buchstaben glühten rot, bevor sie zur Asche zerfielen. Der Rauch stieg auf, füllte den Raum, kroch durch die Ritzen des Hauses hinaus in den Wald. Einige der Männer schworen später, sie hätten dabei Stimmen gehört. Ein Flüstern, das mit dem Wind kam: Der Wald vergisst nicht.
Als die letzten Flammen erloschen waren, blieb nur Stille. Köhler zog seinen Mantel enger. „Schließen Sie das Haus“, sagte er. „Brettern Sie die Fenster zu. Morgen kommt der Bürgermeister. Er soll entscheiden, was mit dem Land geschieht.“ Wilhelm nickte. „Und Sie, Herr Kommissar?“ „Ich fahre nach Freiburg. Ich habe genug von diesem Ort.“
Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, verließen sie das Tal. Hinter ihnen stand das Haus leer, tot, aber nicht friedlich. In den Tagen danach begannen die Leute aus den umliegenden Dörfern zu erzählen, dass nachts Lichter zwischen den Bäumen zu sehen seien. Man hörte Schritte auf dem alten Weg, obwohl niemand dort ging. Die Kinder wagten sich nicht mehr in den Wald, und selbst die Jäger mieden die Gegend. Der Name „Zum Wegkreuz“ wurde aus den Karten gestrichen, als hätte es das Haus nie gegeben. Aber die Alten sagten: Wenn der Wind aus Osten kam, konnte man den Geruch von Suppe und feuchter Erde riechen. Und manchmal, ganz leise, das Klirren von Geschirr, als wäre das Gasthaus noch immer in Betrieb, irgendwo zwischen Traum und Tod.
(Die folgenden Abschnitte behalten den originalen Stil bei, da er thematisch eine Legende beschreibt, und die “unpassenden” Formulierungen dienen dem Erzählstil der Saga.)
Jahre vergingen. Der Wald erholte sich langsam von dem, was dort geschehen war, doch die Menschen taten es nicht. Das Haus Zum Wegkreuz blieb stehen, aber niemand wagte es zu betreten. Die Bretter vor den Fenstern verwitterten, das Dach senkte sich, und das Moos wuchs über die Steine wie eine grüne Haut. Die Dorfbewohner nannten es bald nur noch das Haus der Schwestern. Man erzählte sich, dass man in mondlosen Nächten dort Licht sehen könne, schwach wie eine einzelne Kerze, und dass aus dem Stall leises Flüstern drang, obwohl alles längst leer war. Alte Frauen in Waldkirch und im Dorf Oberried sagten, der Wind trage den Atem derer, die dort begraben lagen. Kinder, die zu nah ans Haus gingen, bekamen Fieber oder irrten im Schlaf durch die Wälder. Niemand wusste, was davon wahr war, doch niemand wollte es prüfen.
Nur einmal, fast 10 Jahre nach den Ereignissen, kam ein Mann aus Freiburg, ein junger Historiker namens Ernst Volmer. Er hatte in der Bibliothek alte Gerichtsakten gefunden und wollte den Fall untersuchen. Er sprach mit den alten Bauern, notierte ihre Geschichten, lachte über ihre Ängste. „Aberglaube“, sagte er, „der Wald ist nur Wald.“ An einem frühen Herbstmorgen brach er auf, um das Haus zu sehen. Die Sonne stand tief, Nebel lag zwischen den Tannen, und die Luft roch nach nassem Laub. Niemand sah ihn, als er den alten Pfad hinaufging. Drei Tage später fand man sein Pferd, angebunden an einer Birke, aber von Ernst Volmer fehlte jede Spur. Nur seine Notizmappe lag im Gras, durchnässt, die letzten Seiten leer. Nach diesem Tag schwieg das Dorf über das Haus. Die Behörden erklärten, der Mann habe sich verirrt oder sei in den Fluss gefallen, doch kein Körper wurde je gefunden.
Das Gasthaus blieb verfallen, bis eines Winters ein Sturm kam, so stark, dass er das Dach abriss und einen Teil der Mauern einstürzen ließ. Als der Schnee im Frühling schmolz, sah man, dass die Erde dort, wo einst der Stall gestanden hatte, aufgerissen war. Niemand wagte, sie wieder zuzuschütten. Man ließ den Ort verfallen, bis nur noch ein paar Steine übrig waren. Aber der Aberglaube blieb. Wenn jemand in der Gegend verschwand, ein Holzfäller, ein Reisender, ein Kind, sagten die Leute nur: „Der Wald hat ihn genommen.“ In den Schenken erzählten die Männer die Geschichte der Schwestern Albrecht wie eine Warnung. Sie sagten: Margarete sei die Strenge gewesen, Helene die Stille. Die eine vergiftete, die andere begrub, und beide starben in der Nacht, als der Blitz den Himmel spaltete, weil der Wald endlich zurücknahm, was ihm gehörte. Manche schworen, sie hätten ihr Lachen gehört, wenn der Wind durch die Bäume ging. Ein dünnes, kaltes Lachen, das zwischen den Ästen verwehte. Doch es gab auch andere Stimmen, solche, die sagten: Die Frauen seien keine Mörderinnen gewesen, sondern Opfer ihres Vaters, eines Fluchs, der in der Erde des Schwarzwaldes schlummerte. Sie hätten nur getan, was das Haus verlangte, so wie ihre Mutter es einst geschrieben hatte. Und so wurde die Geschichte nicht mehr nur eine Erzählung über Verbrechen, sondern eine Legende, ein warnendes Märchen für Kinder, die zu tief in den Wald gingen. Wenn sie nicht gehorchten, sagte man: „Bleib auf dem Weg!“ Oder: „Margarete ruft dich in den Stall.“ Niemand konnte genau sagen, wann die Legende begann, doch sie wuchs, wie der Wald selbst wuchs, still, unaufhaltsam, von Wurzel zu Wurzel.
Ein Jahrhundert später, als die neuen Straßen durch die Täler gebaut wurden, vergaß man das Haus fast. Nur einige alte Karten trugen noch seinen Namen. Doch wer im Herbst auf dem alten Pfad wanderte, spürte manchmal einen kalten Zug, als käme er aus der Erde. Und wenn der Wind still wurde, hörte man für einen Herzschlag lang das Scharren einer Schaufel, dann wieder Stille. So lebte das Gasthaus Zum Wegkreuz weiter, nicht aus Stein, sondern aus Geschichten. Niemand baute dort jemals wieder, denn die Erde unter diesem Hügel galt als unruhig. Selbst die Pflanzen wuchsen dort anders: krumm, dunkel, mit dicken, fleischigen Blättern. Die Alten sagten, der Wald erinnere sich an jedes Blut, das in ihn gesickert war, und er wartete immer.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Elektrizität in die Dörfer des Schwarzwaldes kam und die Menschen begannen, an Maschinen mehr zu glauben als an Geister, schien die Geschichte des Hauses Zum Wegkreuz fast vergessen. Die Alten, die sie noch kannten, saßen in den Wirtstuben und erzählten nur selten davon, meist im Winter, wenn das Feuer knisterte und der Wind an den Läden rüttelte. Doch mit der neuen Zeit kam auch eine neue Art des Interesses, die der Forscher, die das Übernatürliche erklären wollten.
Einer von ihnen war Professor Albert Krüger von der Universität Heidelberg, ein Mann von etwa 50 Jahren, schmal, mit grauem Haar und dem unruhigen Blick eines Menschen, der zu viel liest und zu wenig schläft. Er kam im Sommer des Jahres in die Gegend, um Berichte über alte Volkslegenden zu sammeln. Er hörte in einem Gasthof in Kirchzarten zum ersten Mal von den Schwestern Albrecht. Die Bauern lachten über den Professor, doch einer, ein alter Mann mit einer Stimme wie rissiges Holz, sagte: „Wenn Sie den Mut haben, dann gehen Sie hin, aber nehmen Sie keine Erde von dort mit. Die Erde dort ist hungrig.“ Krüger schrieb das in sein Notizbuch und lächelte. Zwei Tage später stand er vor den Resten des Hauses. Nur ein Teil der Mauern war geblieben, von Efeu überwuchert. Der Boden war uneben, und dort, wo einst der Stall gewesen war, lag eine Senke voller Farne. Der Professor machte Skizzen, nahm Messungen vor, füllte kleine Glasröhrchen mit Erde und Moos. „Nur Geschichten“, murmelte er. „Alles lässt sich erklären.“ Er schlief im nahen Dorf Oberried, doch in der zweiten Nacht begann er, Träume zu haben. Er schrieb sie in sein Tagebuch. Ich sah eine Frau mit schwarzem Haar und einem weißen Kleid. Sie stand im Nebel und sprach kein Wort. Ihre Hände waren voller Erde.
Am dritten Tag kehrte er zurück, trotz Warnung der Dorfbewohner. Niemand sah, wie er das Gelände betrat. Doch als am Abend sein Assistent kam, fand er die Zelte leer. Nur das Tagebuch lag offen. Die letzte Seite feucht vom Regen. Der Boden bewegt sich. Ich höre atmen unter mir. Danach verschwand auch Professor Krüger spurlos. Man suchte eine Woche lang, fand nichts. Die Behörden erklärten den Fall als Unfall, ein Sturz in eine Senke, vielleicht ein Wildschwein. Doch das Tagebuch wurde in der Universität ausgestellt, in der Sammlung für Volkskunde, und jeder, der es las, sagte, er habe beim Umblättern ein Rascheln gehört, als würde trockene Erde zwischen den Seiten liegen.
So kehrte die Legende zurück. Zeitungen schrieben darüber, zuerst spöttisch, dann ernst. In den dreißiger Jahren wurde die Geschichte des Hauses Zum Wegkreuz in ein Buch über Schwarzwälder Sagen aufgenommen, zwischen Geschichten über Wassergeister und Waldhexen. Es hieß dort: „In einem verlassenen Tal bei Freiburg stand einst ein Gasthaus, in dem zwei Schwestern Reisende töteten. Sie taten es, weil der Wald es verlangte, und wer dort gräbt, findet keine Ruhe.“ Nach dem Krieg, als die Städte brannten und die Menschen den Glauben an Gerechtigkeit verloren, erzählten die Alten wieder davon. „Siehst du“, sagten sie, „so fängt alles an. Erst mit Not, dann mit Blut, und am Ende frisst die Erde alles.“ In den 50er Jahren wollte eine Baugesellschaft den alten Pfad wieder nutzbar machen und über den Hügel eine Straße legen. Doch als die Bagger kamen, sank der Boden unter einem von ihnen ein. Der Fahrer überlebte, aber das Fahrzeug versank bis zur Hälfte im Boden. Man grub es aus, doch der Geruch, der dabei entwich, war so stark, dass die Arbeiter sich übergeben mussten. Der Bau wurde abgebrochen, die Stelle blieb unberührt. Fortan nannte man sie die Kreuzmulde. Niemand wohnte dort. Niemand wagte, dort Holz zu schlagen. Die Kinder, die in den Dörfern aufwuchsen, lernten früh, dass man in den Schwarzwald mit Respekt geht, denn der Wald vergisst nichts und unter jedem Baum schläft eine Geschichte. Manche sagten, der Wind in der Mulde klänge wie ein Atemzug. Andere schworen, nachts sehe man dort zwei Gestalten, die durch den Nebel streifen. Die eine mit dunklem Kleid, die andere mit einer Schaufel in der Hand.
In den 60er Jahren, als das Fernsehen in jedes Wohnzimmer kam und die Menschen begannen, an Bilder mehr zu glauben als an Worte, erwachte die Geschichte des Hauses Zum Wegkreuz erneut. Ein junger Journalist aus Stuttgart namens Otto Bernfeld arbeitete an einer Serie über unerklärliche Orte Deutschlands. Er reiste durch den Schwarzwald, sprach mit Förstern, Priestern und alten Frauen in den Dörfern. Als er in Oberried ankam, hörte er zum ersten Mal von der Kreuzmulde. Ein Wirt zeigte ihm den Weg, schüttelte dabei aber den Kopf. „Gehen Sie bei Tag“, sagte er. „Und bleiben Sie auf dem Pfad. Wenn Sie Stimmen hören, antworten Sie nicht.“ Bernfeld lachte. Er war jung, ehrgeizig, skeptisch. Er hatte keine Angst vor alten Geschichten. Am nächsten Morgen fuhr er mit seinem Wagen die enge Straße hinauf, ließ ihn am Waldrand stehen und ging zu Fuß weiter. Die Sonne stand hoch, das Licht fiel golden durch die Bäume. Die Mulde sah unscheinbar aus, ein Stück offenes Land mit Farn und Moos, nichts weiter. Er stellte seine Kamera auf, sprach ein paar Worte in das Mikrofon, dann begann er zu filmen.
Als er die Aufnahmen am Abend in seinem Hotel überprüfte, bemerkte er etwas Merkwürdiges. Immer wenn er selbst im Bild war, war hinter ihm ein Schatten zu sehen, schmal, mit etwas in der Hand, das wie eine Schaufel aussah. Er hielt es für einen Fehler, vielleicht eine Spiegelung. Doch am nächsten Tag, als er die Stelle erneut besuchte, fand er in der Erde eine alte Münze, angelaufen mit den Buchstaben M und A. Er nahm sie mit. In der Nacht rief er seine Redaktion an. Er klang aufgeregt. „Ich glaube, ich habe etwas gefunden“, sagte er. „Ich schicke morgen die Bänder.“ Am Morgen kam das Paket an. Die Filmrollen waren leer. Das Zimmer in Freiburg, in dem Otto Bernfeld geschlafen hatte, war aufgeräumt. Nur der Schlüssel lag auf dem Tisch, daneben die Münze. Kein Mensch sah ihn je wieder. Der Fall wurde nie geklärt. Die Sendung über das Gasthaus Zum Wegkreuz wurde nie ausgestrahlt. Stattdessen begann ein neues Flüstern. Diesmal nicht in den Dörfern, sondern in den Städten. Man sagte, die Aufnahmen seien verflucht gewesen, dass das Band verbrannt sei, als jemand es abspielte. Die Studenten in Heidelberg und Freiburg erzählten sich nachts, wer dreimal den Namen Margarete ins Dunkel flüstere, höre Schritte hinter sich.
In den 70er Jahren erschien ein Buch mit dem Titel Der Atem des Waldes. Der Autor, ein anonymer Chronist, sammelte alte Akten, Zeugenaussagen und Legenden, schrieb: „Das Gasthaus Zum Wegkreuz war kein gewöhnlicher Ort. Es war ein Herz, das im Takt des Waldes schlug. Solange jemand seine Geschichte erzählt, lebt es weiter.“ Das Buch wurde in kleinen Kreisen berühmt, besonders unter den Liebhabern des Okkulten. Reisende kamen wieder in die Gegend, um den Ort zu suchen. Manche kamen zurück, manche nicht. Die Polizei fand nie Spuren von Gewalt, nur zurückgelassene Zelte, abgebrochene Äste, Schuhabdrücke, die plötzlich im Nichts endeten. Die Dorfbewohner lernten, die Fremden nicht mehr zu warnen. „Wer den Wald sucht“, sagten sie, „findet, was er verdient.“
In den 80er Jahren versuchte ein Bautrupp, eine Stromleitung durch das Gebiet zu legen. In der ersten Nacht, bevor die Arbeit begann, verbrannte das Lager der Arbeiter. Niemand wurde verletzt, aber alle Werkzeuge waren verschwunden, und auf dem Boden fand man den Abdruck einer Hand, klein, schlank, in der Mitte, tief in den Lehm gedrückt. Der Vorarbeiter weigerte sich, zurückzukehren. Die Leitung wurde umgeleitet, weit um die Mulde herum. In der Presse schrieb man darüber kurz, beiläufig, als Randnotiz. Doch in den Dörfern flammte die alte Angst wieder auf. In den langen Winternächten erzählten die Alten ihren Enkeln, dass der Wald noch immer wache, dass Margarete die Fremden prüfe und Helene den Boden öffne, wenn jemand zu tief trat. Der Schwarzwald wurde stiller in diesen Jahren. Weniger Holzfäller, weniger Wanderer. Nur der Wind blieb und das Rascheln der Bäume, das wie ein Flüstern klang: Der Wald vergisst nicht.
In den 90er Jahren, als der Schwarzwald längst ein friedliches Touristenziel geworden war, kehrte die Geschichte des Hauses Zum Wegkreuz auf neue Weise zurück. Sie fand ihren Weg ins Fernsehen, in die Zeitschriften, in die abendlichen Gespräche der Menschen, die an Geister weniger glaubten, aber an Spannung umso mehr. Im Jahr 1995 strahlte ein kleiner Regionalsender eine Dokumentation mit dem Titel Schatten unter den Fichten aus. Der Regisseur, ein Mann namens Dieter Hamel, war bekannt für seine nüchternen Beiträge über Geschichte und Landschaft. Doch dieser Film war anders. Er begann mit Luftaufnahmen des Schwarzwalds. Dann erzählte eine ruhige Stimme die Geschichte der Schwestern Albrecht, von den Gräbern und dem Kommissar Köhler. Die Bilder waren grau, still, fast hypnotisch. Hamel hatte Originalorte besucht, alte Akten kopiert, Interviews geführt. Die letzte Szene zeigte die Kreuzmulde bei Nacht, beleuchtet von einer schwachen Taschenlampe. Der Erzähler sagte: „Man sagt, der Wald vergisst nicht, aber vielleicht vergisst er nur, wen er will.“
Der Film wurde spät ausgestrahrt, kurz vor Mitternacht. Niemand erwartete viel davon. Doch am nächsten Morgen war das Telefon des Senders überlastet. Dutzende Zuschauer behaupteten, während der Ausstrahlung seien ihre Fernsehgeräte kurz dunkel geworden. Manche sagten, sie hätten im Hintergrund Stimmen gehört, andere ein Lachen. Hamel schwieg. Eine Woche später gab er ein Interview, in dem er erklärte, die Geräusche seien wahrscheinlich Tonfehler gewesen, doch seine Augen verrieten etwas anderes. „Beim Schneiden der Aufnahmen“, sagte er leise, „hörte ich manchmal Schritte hinter mir. Ich dachte, das sei Einbildung. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.“
Einige Monate später fuhr Hamel erneut in die Gegend, um weiteres Material zu drehen. Sein Auto wurde in der Nähe der Mulde gefunden, verlassen, der Motor noch warm. Von ihm selbst keine Spur. Die Polizei fand keine Hinweise auf ein Verbrechen, nur seine Kamera lag im Gras. Das letzte Bild darauf zeigte Nebel, der sich langsam zwischen Bäumen bewegte, und etwas Dunkles, das sich darin spiegelte. Danach wurde die Aufnahme schwarz. Nach Hamels Verschwinden wuchs das Interesse an der Legende. Zeitung druckten lange Artikel, in denen Historiker, Theologen und Psychologen zu erklären versuchten, warum dieser Ort die Menschen so anzog. Einige meinten, die Geschichte sei ein Spiegel deutscher Schuld. Andere sahen darin nur Zufall. Doch für die Bewohner der nahen Dörfer war alles wie früher. Sie gingen nicht dorthin. In einer Wirtschaft in Oberried erzählte eine alte Frau, dass sie als Kind die Schwestern gesehen habe. Zwei Schatten im Nebel, Hand in Hand, als der Sturm kam. Niemand glaubte ihr, aber keiner lachte.
In den folgenden Jahren wurde die Kreuzmulde zu einem geheimen Ort für jene, die das Dunkle suchten. Studenten fuhren dorthin, um sich Mutproben zu stellen. Liebespaare ritzten ihre Namen in die Rinde der alten Bäume. Manche sagten, die Buchstaben seien am nächsten Tag verschwunden. Einmal im Sommer 2003 fand ein Förster im Wald ein altes Kreuz aus Holz, frisch in den Boden gesteckt, mit einem Strick darum gewickelt. Niemand wusste, wer es dort platziert hatte. Es stand genau dort, wo einst der Stall gestanden hatte. Der Förster zog es heraus und nahm es mit, doch in der folgenden Nacht brannte seine Scheune. Seitdem rührt niemand mehr etwas an, was aus der Mulde kommt. Der Wald bleibt still, aber nie leer. Wanderer berichten von kalter Luft, die plötzlich zwischen den Bäumen auftaucht, von Flüstern, das wie ihr eigener Atem klingt. Und jedes Jahr in der Nacht des Neumonds leuchten über der Mulde kleine Lichter, weiß, ruhig, fast wie Kerzen. Die Menschen sagen, das seien die Seelen derer, die noch immer auf ihren letzten Schlaf warten. Andere sagen, das seien die Schwestern selbst, die zählen, wie viele den Pfad verlassen haben.
Mit Beginn des neuen Jahrtausends, als die Menschen begannen, mehr Zeit vor Bildschirmen als im Wald zu verbringen, fand die Legende vom Haus Zum Wegkreuz ein neues Zuhause im Internet. Zuerst waren es kleine Foren über Geistergeschichten, wo jemand unter dem Namen „Helen1889“ schrieb, er habe beim Wandern im Schwarzwald eine alte Mauer gefunden, halb überwuchert, mit einem Eisenhaken darin. Er lud ein unscharfes Foto hoch: Grüne Schatten, etwas wie eine Türöffnung und darunter eine Zeile in gebrochener Schrift: Der Wald vergisst nicht. Das Bild verbreitete sich rasch. Andere Nutzer begannen, ihre eigenen Erlebnisse zu schildern. Manche behaupteten, sie hätten die Kreuzmulde gefunden, andere, sie hätten dort Stimmen gehört, die ihren Namen flüsterten. Einige erzählten, dass ihr Handy dort den Geist aufgab, obwohl der Akku voll gewesen war. Ein Nutzer aus Berlin schrieb, er habe in einer Vollmondnacht eine Stimme gehört, die Margarete sagte, ganz nah am Ohr. Als er sich umdrehte, war niemand da.

Innerhalb weniger Monate entstanden hunderte Beiträge, und die Geschichte des Hauses Zum Wegkreuz wurde zu einem Phänomen. Jemand erstellte eine Internetseite mit alten Akten, Fotografien, sogar einem Grundriss des Gasthauses, den er angeblich im Stadtarchiv von Freiburg gefunden hatte. Andere versuchten, den genauen Standort auf Karten einzuzeichnen. Doch jedes Mal, wenn jemand den Ort markierte, verschwand das Symbol nach wenigen Tagen, als hätte jemand es gelöscht. Später, um das Jahr 2009, begannen junge Filmemacher, sich für die Geschichte zu interessieren. Ein Team aus München wollte eine Dokumentation drehen. Sie nannten ihr Projekt Der Wald, der atmet. Sie reisten zu dritt in die Gegend, ausgerüstet mit Kameras, GPS und modernster Technik. Sie sendeten über soziale Netzwerke regelmäßig Berichte. Am dritten Tag jedoch brach der Kontakt ab. Zwei Wochen später fand man das Auto leer, sauber, als wäre es gerade gewaschen worden. Die Kameras lagen im Kofferraum, doch alle Aufnahmen waren gelöscht. Nur eine Tonspur blieb übrig, 3 Minuten lang. Man hörte Wind, dann einen einzelnen Satz, geflüstert, kaum verständlich: „Sie graben wieder.“ Danach Stille.
Die Polizei erklärte es als Unfall. Nebel, Orientierungslosigkeit, ein Sturz in eine Schlucht. Doch niemand glaubte daran. Die Dateien verbreiteten sich, wurden geteilt, analysiert, verlangsamt, verstärkt. Einige sagten, im Hintergrund höre man Schritte. Andere meinten, man könne zwei Stimmen erkennen, die flüsterten: „Bleib!“ Seitdem wird das Haus Zum Wegkreuz als digitaler Fluch bezeichnet. Wer versucht, seine Geschichte zu dokumentieren, verliert etwas. Manchmal Daten, manchmal Zeit, manchmal sich selbst. In den Foren warnen die alten Nutzer die neuen. „Schreib nichts über sie nach Mitternacht“, heißt es. „Wenn du das Wort Margarete in eine Suchmaschine eingibst und danach das Wort Kreuzmulde, wird dein Bildschirm kurz schwarz, und wenn du dann dein Spiegelbild siehst, steht jemand hinter dir.“ Natürlich glaubt niemand wirklich daran. Und doch gibt es jedes Jahr wieder Menschen, die in die Gegend fahren mit Handys, Kameras und Drohnen. Manche kommen zurück, manche nicht. Die, die zurückkehren, berichten von seltsamen Dingen. Eine Frau aus Köln erzählte, ihr Kompass habe sich gedreht, obwohl kein Wind wehte. Ein Mann aus Hamburg sagte, sein Hund habe plötzlich geknurrt und sei dann verschwunden. Niemand hat ihn gefunden. Der Schwarzwald bleibt, was er immer war. Schön und dunkel, lebendig und uralt. Und irgendwo zwischen Nebel und Erde schläft das Haus Zum Wegkreuz weiter, leise, aber wachsam.
Zu Beginn der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts, als sich die Menschen wieder nach alten Geschichten sehnten, kehrte die Legende vom Haus Zum Wegkreuz zurück. Diesmal nicht im Internet, sondern in den Zeitungen, in Museen, auf Konferenzen über Kulturgeschichte. Eine junge Journalistin aus Freiburg, Anna Riemer, arbeitete an einer Artikelreihe über vergessene Orte Baden-Württembergs. Sie hatte die Geschichte der Schwestern Albrecht in alten Akten des Stadtarchivs gefunden, dort, wo man sie längst für Legende hielt. Doch Anna entdeckte etwas, das bisher niemand beachtet hatte.
Ein Brief, datiert auf das Jahr [Jahr nicht angegeben, aber später als 1889], geschrieben von einem Mann namens Wilhelm Hartmann. Es war derselbe Name wie der junge Assistent des Kommissars. Der Brief war an den Bürgermeister von Freiburg gerichtet. Hochgeehrter Herr, begann er, ich schreibe Ihnen in großer Sorge, der Ort, an dem das Haus Zum Wegkreuz stand, ist nicht still, wie man annahm. Ich habe Stimmen gehört, Schritte im Gras, obwohl niemand dort war. Etwas lebt in der Erde, und ich fürchte, es wird wieder erwachen. Bitte lassen Sie den Platz für immer geschlossen halten. Der Brief war nie abgeschickt worden. Er lag vergilbt und ungeöffnet in einer Mappe zwischen Rechnungen und Urkunden. Anna Riemer veröffentlichte einen Artikel darüber in einer Freiburger Zeitung. Der Text erschien an einem Freitag im Frühling mit der Überschrift Der Wald, der nicht vergisst. Am nächsten Tag war die Auflage ausverkauft. Leser schrieben Kommentare, Historiker meldeten sich, und sogar das Stadtmuseum zeigte Interesse.
Eine Woche später erhielt Anna eine Einladung zu einem Interview im Radio, doch sie erschien nicht. Ihre Kollegin berichtete, sie sei am Abend zuvor mit einem Rucksack losgegangen, um Fotos von der Kreuzmulde zu machen. Man fand den Rucksack am Waldrand mit der Kamera darin. Auf dem letzten Bild war nur Nebel zu sehen und etwas, das wie zwei Umrisse aussah, Hand in Hand.
Nach diesem Ereignis wurde der Zugang zur Mulde erneut gesperrt. Ein Schild wurde aufgestellt: Betreten verboten, Einsturzgefahr. Doch die Leute kamen trotzdem. Manche brachten Blumen, andere stellten Kerzen auf, wie an einem Grab. Ein lokaler Radiosender sendete eine Sondersendung, in der alte Tonaufnahmen abgespielt wurden. Ein Interview mit einem alten Förster, der behauptete, er habe den Kommissar Köhler noch als Kind gesehen. „Er war still“, sagte der Förster. „Er sprach kaum, aber wenn der Wind kam, sah er immer zum Wald hinüber, als ob er auf etwas wartete.“
Historiker begannen, die Akten neu zu prüfen. Eine Forscherin aus Heidelberg, Dr. Kara Neumann, veröffentlichte ein Buch mit dem Titel Erde, Blut und Schweigen. Die wahre Geschichte des Hauses Zum Wegkreuz. Darin stellte sie die These auf, dass die Morde der Schwestern nur ein kleiner Teil einer viel älteren Geschichte waren. Sie fand Hinweise auf verschwundene Pilger aus dem 17. Jahrhundert, die in denselben Wäldern gestorben waren, und auf alte Flurbezeichnungen, die das Gebiet „Totengrund“ nannten. Sie schrieb: „Vielleicht ist das Haus Zum Wegkreuz nicht der Ursprung, sondern nur ein Tor, durch das etwas Älteres spricht. Etwas, das die Menschen im Wald seit Jahrhunderten hören.“
Das Buch wurde in Deutschland ein Erfolg. Fernsehsender berichteten darüber, und das Wort „Totengrund“ tauchte in Suchmaschinen auf. Doch wenige Monate nach der Veröffentlichung geschah etwas Seltsames. In der Bibliothek von Heidelberg verschwand das Originalmanuskript. Die Sicherheitskameras zeigten niemanden. Nur das Licht im Lesesaal flackerte kurz, und als die Mitarbeiter zurückkehrten, war der Schreibtisch leer. Dr. Neumann zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Sie sagte, sie habe Albträume, in denen sie eine Frau sehe, die ihr die Hand entgegenstrecke.
Nach diesem Vorfall begannen viele, die Legende wieder ernst zu nehmen. Zeitungen schrieben: Der Wald schweigt nicht. Menschen aus ganz Deutschland kamen, um die Mulde zu sehen. Einige stellten sich in den Kreis der alten Steine und schwiegen. Andere flüsterten Namen. Und immer wenn der Wind durch die Bäume ging, klang es, als wiederhole er denselben Satz: Der Wald vergisst nicht.
Im Herbst des Jahres kehrte ein Mann in den Schwarzwald zurück, dessen Name bald in allen Zeitungen stehen sollte. Er hieß Lukas Albrecht, war Historiker an der Universität München und ein entfernter Nachkomme der Familie, deren Name einst das Gasthaus Zum Wegkreuz getragen hatte. Er hatte jahrelang im Ausland gelebt, doch als er von der Veröffentlichung des Buches Erde, Blut und Schweigen erfuhr, begann er nachzuforschen. In einem Kirchenregister fand er den Eintrag seines Urgroßvaters, eines Bruders von Johann Albrecht, dem Vater der Schwestern. Lukas war fasziniert, aber auch beunruhigt. In Interviews sagte er: „Vielleicht gibt es so etwas wie vererbte Erinnerung. Ich habe das Gefühl, dass mich dieser Ort ruft.“
Niemand nahm das ernst. Doch eines Tages, Anfang Oktober, kündigte er an, zur Kreuzmulde zu reisen. „Ich will sehen, ob der Wald wirklich schweigt“, sagte er. Er fuhr allein mit einem kleinen Wagen und nahm eine Kamera mit, einen Notizblock und eine Thermosflasche Tee. Der Himmel war bleigrau, der Nebel so dicht, dass die Bäume aussahen wie Schatten. Lukas stellte den Wagen am Rand des alten Pfades ab und ging zu Fuß weiter. Niemand sah ihn mehr lebend.
Zwei Tage später fand ein Förster das Auto leer, die Tür offen, der Tee noch warm. Neben dem Sitz lag der Notizblock. Die letzten Worte darauf lauteten: „Ich höre sie.“ Am selben Abend begann der Wind im Tal zu toben. Die Dorfbewohner sagten, sie hätten Stimmen gehört, zwei Frauen, die miteinander flüsterten, und eine Dritte, die dazwischen sprach: eine Männerstimme. Als die Polizei später suchte, fand sie keine Spur von Lukas. Doch in der Erde, dort, wo einst der Stall gestanden hatte, lag etwas Neues, eine frische Spur, als hätte jemand gegraben. In der Mitte stand eine kleine Laterne, noch glimmend.
Im Jahr darauf erschien ein Film, zusammengeschnitten aus den Fragmenten, die auf Lukas’ Kamera gefunden worden waren. Er trug den Titel Er kehrte zurück. Der Film zeigte den Wald, still und grau, das Rascheln der Blätter, das ferne Rauschen eines Baches. Dann hörte man Lukas’ Stimme, ruhig, aber angespannt. Ich bin hier. Es ist still, aber ich fühle etwas, als würde der Boden atmen. Dann, nach einigen Minuten, ein leises Geräusch wie Schritte hinter der Kamera, gefolgt von einem Flüstern: Lukas. Die Aufnahme endete abrupt.
Der Film wurde nur einmal gezeigt, bei einer geschlossenen Veranstaltung an der Universität. Danach verschwand er aus dem Archiv. Niemand wusste, wer ihn entnommen hatte. Die Studenten, die dabei waren, erzählten, dass im Raum plötzlich ein Luftzug aufgekommen sei, obwohl alle Fenster geschlossen gewesen waren. Und jemand schwor, auf dem letzten Standbild zwei Frauen gesehen zu haben, in alten Kleidern mit langen Zöpfen.
Nach diesem Ereignis erklärte die Stadtverwaltung von Freiburg das Gebiet offiziell zum Naturschutzgebiet mit strengem Betretungsverbot. Doch Gerüchte blieben. Ein Jäger behauptete, er habe in einer Winternacht Licht zwischen den Bäumen gesehen, warm und ruhig, als brenne dort ein Feuer. Andere sagten, sie hätten Schritte gehört, gleichmäßig, langsam, wie das rhythmische Stampfen einer Schaufel in Erde. In den Dörfern sprachen die Alten wieder von den Schwestern, doch diesmal mit Mitleid. „Vielleicht haben sie nur gewartet“, sagten sie, „auf jemanden von ihrem Blut, der sie findet.“ Die jüngeren Leute lachten darüber, nannten es ein Märchen. Aber in klaren Nächten, wenn der Nebel vom Tal heraufstieg, konnte man manchmal ein fernes Rufen hören, gedämpft, klagend, wie aus einer anderen Zeit.
Der Schwarzwald blieb, was er immer gewesen war: schön, still und gefährlich in seinem Schweigen. Und irgendwo unter den Wurzeln, unter Moos und Stein, ruhten sie vielleicht nicht, sondern lauschten.
Heute, viele Jahrzehnte nach dem letzten Verschwinden, liegt die Kreuzmulde still zwischen den Hügeln des Schwarzwaldes. Der Wald ist dichter geworden, die Wege sind fast verschwunden, und wer sie sucht, findet nur Farn, feuchte Erde und das Rauschen der Bäume. Auf modernen Karten ist der Ort nicht mehr verzeichnet. Die Menschen nennen ihn einfach „Das Schweigen“. Doch die Geschichte lebt, so wie der Wald lebt – in Stimmen, in Flüstern, in Träumen. Es gibt Reisende, die schwören, sie hätten in stillen Nächten Licht zwischen den Tannen gesehen, schwach wie das Leuchten einer Lampe hinter Nebel. Andere sagen, sie hätten Musik gehört. Ein fernes Summen, wie aus einer anderen Welt. In Freiburg erzählt man, dass einmal im Jahr in der Nacht des ersten Frosts ein Geruch von Rauch und Brot durch die Straßen zieht, als öffne jemand ein Fenster aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Niemand weiß, woher er kommt. Manche glauben, es sei nur der Wind. Andere sagen, es seien die Schwestern, die für einen Augenblick ihre Küche wieder betreten, um den Herd zu entzünden, den sie nie verließen.
In den Archiven liegt die Akte des Falles Albrecht noch immer unter Verschluss. Auf dem Einband steht mit verblasster Tinte: Erledigt, 1889. Doch ein kleines Blatt wurde später hinzugefügt, vermutlich von einer Hand, die niemand identifizieren konnte. Darauf stehen nur vier Worte: Der Wald vergisst nicht. Manchmal besuchen Schüler das Museum von Freiburg, wo eine kleine Vitrine steht, kaum beachtet zwischen alten Werkzeugen und Karten. Darin liegt eine silberne Münze mit den Buchstaben M und A, eine rostige Schaufel und ein Foto: Das Gasthaus Zum Wegkreuz. Aufgenommen kurz vor seinem Verfall. Die Aufschrift darunter lautet: „Niemand weiß, wer das Bild gemacht hat.“ Wenn die Besucher weitergehen, flackert manchmal das Licht. Vielleicht ist es nur eine alte Leitung, vielleicht etwas anderes. Doch jeder, der es sieht, bleibt kurz stehen. Es ist ein Moment, in dem die Zeit inne hält, als würde der Wald selbst den Atem anhalten.
In den langen Winternächten, wenn Schnee auf die Dächer fällt und der Wind durch die engen Straßen von Freiburg streicht, erzählt man sich noch immer die Geschichte von zwei Schwestern, die den Tod nicht fürchteten, von einem Kommissar, der den Frieden suchte, von einem Wald, der nie vergaß. Die Alten sagen: Der Schwarzwald atme, dass seine Wurzeln nicht nur Wasser tragen, sondern Erinnerung. Und wer zu lange zuhört, hört irgendwann seinen eigenen Namen. Manchmal an besonders stillen Tagen, wenn Nebel im Tal hängt und kein Laut aus den Dörfern dringt, glaubt man, eine leise Stimme im Wind zu hören. Zwei Worte: Kaum hörbar, kaum greifbar, wie ein letzter Atemzug: „Komm heim.“ Und dann weiß man, dass der Wald noch lebt. Nicht böse, nicht gütig, nur wachsam. So endet die Geschichte vom Haus Zum Wegkreuz. Nicht mit einem Schrei, sondern mit einem Flüstern, das ewig dauert.