Margarete lag wach, hörte Tropfen zählen und dachte: “Jeder Tropfen ein Schritt.” Sie nahm die Kerze, hielt die Flamme mit der Hand gegen Zugluft und der Gang vor ihr war ein Seil, an dem die Dunkelheit hing. Vom Zimmer der Töchter her kam ein Rascheln. Kein Angstgeräusch, ein vertrautes. Ihre Finger wurden kalt. Sie ging an der Tür blieb sie stehen.
Ein Spaltlicht, der roch wie Wachs und wie Haut, ein Schatten, dann noch einer, dann ein Atemzug, der nicht allein war. Margarete sah nicht viel, aber genug für einen Riss. Es waren keine Bilder, die man vorzeigen kann. Es waren Gewissheiten, die man nicht mehr ablegt. Die Kerze knisterte, als ob sie fröhre, und Margarete wandte sich ab, und das Haus begann langsam und ganz in eine andere Zeit zu rutschen, die Zeit, nach der es kein davor mehr gibt.
Am Morgen band sie ihr Haar straffer, als sei der Schmerz, ein Band, das Held. Sie sprach kein Wort. Sie lächelte beim Tischgebet. Sie schnitt das Brot. Sie reichte die Schüssel. Nur die Hände verrieten sie, denn sie bewegten sich, als hielten sie ein unsichtbares Ball fest. In ihrem Innern setzte ein Mühlstein an, und jedes Korn, das hineinfiel, wurde zu Mehl aus Zorn.
Der Herbst trck das Laub wie verbrannte Briefe über den Hof. Der Wind riss Äste von den Birnbäumen und die Krähen frasen die letzten Früchte, als wollten sie Zeugen tilgen. Margarete Blum ging durch die Räume wie eine Fremde. Sie legte Tücher über Spiegel, ohne zu wissen, warum. Sie entzündete mehr Kerzen als nötig. Sie hörte das Haus atmen.
Friedrich bemerkte ihr Schweigen. Er sprach zu ihr von Erträgen, von Wetter, von Politik im Landtag. Sie nickte, doch ihre Augen waren wie Fenster, die verriegelt blieben. Klara spürte die Spannung, aber sie hielt sie für Eifersucht. Agnes spürte sie auch, doch für sie war es wie ein Gewitter in weiter Ferne. Sie dachte, es werde vorbeiziehen, doch es zog nicht vorbei.
Das Schweigen von Margarete war kein Wetter, sondern eine Saat. Jede Stunde, in der sie die Lippen presste, grub eine Furche tiefer in ihr Herz. Jede Nacht, die sie aufrecht im Bett saß, webte Fäden in ein unsichtbares Netz. Die Schwestern, so verschieden, waren doch nun Verbündete in einem Geheimnis, dass sie nicht aussprachen.
Klara suchte Nähe mit Gesten, Agnes mit Worten und beide banden sich an denselben Mittelpunkt, den Vater. Es war ein Tanz ohne Musik, aber die Schritte wiederholten sich und das Haus lernte den Rhythmus. Die Dorfgemeinde sah nichts oder wollte nicht sehen. Man sprach von den schönen Töchtern des Hofes, von der Würde der Mutter, vom Ansehen des Vaters.
Man sprach von Erträgen und von der neuen Straße nach Würzburg. Niemand fragte, warum die Glocke des Hofes nachts klang, obwohl niemand sie zog. Niemand fragte, warum die Mädchen bleicher wurden und warum Margarete sonntags im Kirchgang die Augen geschlossen hielt, selbst während der Predigt. Einmal im November kam Phara.
Er brachte Gebetszettel und sprach über Advent. Margarete reichte Tee und sah ihn nicht an. Klara lächelte zu viel. Agnes stellte eine Frage über den Propheten Hosea. Friedrich hörte zu und in seinem Blick lag eine Zufriedenheit. die nicht ins Zimmer paßte. Der Pfarrer segnete, ging und draußen im Hof bellte der Hund dreimal wie ein Echo.
In dieser Nacht schlief Margarete nicht. Sie hörte die Schritte im Flur, hörte das Knistern von Holz, hörte das Flüstern. Ihr Herz schlug gegen die Rippen, als wollte es entkommen. Sie nahm das Rosenkranzkreuz, drückte es fest in die Hand, bis Blutstropfen in die Linien der Handfläche rann. Sie verstand.
Gott schwieg, das Haus sprach. Von da an war ihr Entschluss kein Gedanke mehr, sondern ein Körper in ihr. Er wuchs wie ein Kind, unaufhaltsam, mit jeder Mahlzeit, jedem Gebet, jeder Nacht. Ihr Blick wurde schärfer, ihre Bewegung langsamer, ihre Stimme leiser. Man hätte sagen können, sie altere schneller.
Doch in Wahrheit sammelte sie nur Kraft. Die Schwestern ahnten nichts. Sie lachten beim Brot backen, sie summten beim Nähen, sie stritten um Kleinigkeiten. Nur manchmal, wenn das Licht schräg ins Zimmer fiel, huschte ein Schatten zwischen ihnen, ein Schatten mit dem Gesicht der Mutter. So kam der Winter. Schnee legte sich auf die Dächer und die Stille wurde schwerer. Unter der Stille aber wuchs ein Wille.