Die Schwestern waren immer höflich, betonte Bürgermeister Wilhelm Kräer in seiner Aussage. Sie zahlten ihre Steuern pünktlich, nahmen an den wichtigsten Dorffesten teil, wenn auch nur kurz. Sie spendeten sogar für die Reparatur des Kirchendachs im letzten Winter.
Die erste offizielle Erklärung, die die Behörden der Öffentlichkeit präsentierten, war bewusst Waage gehalten. Man sprach von ungewöhnlichen Funden im Keller der alten Mühle und einer möglichen Verbindung zu mehreren Vermissten. Die grausamen Details wurden zunächst zurückgehalten, zum Teil aus Ermittlungsgründen, zum Teil aber auch, um eine Massenpanik zu verhindern.
In den Tagen nach der Entdeckung kursierten im Dorf die wildesten Gerüchte. Die Weberschwestern seien in Wahrheit Männer gewesen, die sich als Frauen verkleidet hätten. Sie hätten einen Hexenzirkel geleitet, sie seien Spioninnen im Auftrag der Franzosen. Jede Spekulation schien plausibler als die Wahrheit.
Die lokale Zeitung der Freudenstädter Bote berichtete am 10. Juni 1899 zurückhaltend. In Zusammenhang mit mehreren Vermissten im Schwarzwaldgebiet haben die Behörden zwei Frauen zur Fandung ausgeschrieben. Die Schwestern J und M. Weber werden gebeten, sich bei der nächsten Gendarmeriestation zu melden, um bei der Aufklärung mehrerer ungeklärter Fälle zu helfen. Der Artikel erwähnte weder den unterirdischen Gang noch die Funde im Keller der Mühle.
Diese Informationen blieben vorerst der Öffentlichkeit verborgen. Für viele Dorfbewohner war die naheliegendste Erklärung, dass die Schwestern Weber Opfer eines Verbrechens geworden waren. Jemand hatte sie entführt oder ermordet und den Keller ihrer Mühle für finstere Zwecke missbraucht.
Diese Theorie wurde besonders von jenen vertreten, die regelmäßigen Kontakt mit den Schwestern gehabt hatten. Sie waren anständige Frauen beharrte Martha Schneider, die Verkäuferin im Dorfladen. vielleicht ein wenig seltsam, aber nicht bösartig. Wenn etwas Schreckliches in ihrem Keller geschehen ist, dann waren sie nicht die Täterinnen, sondern die Opfer. Diese Sichtweise fand Unterstützung beim örtlichen Pfarrer Theodor Kleinschmidt, der die Schwestern als gottesfürchtig und bescheiden beschrieb. Sie besuchten zwar selten den Gottesdienst, erklärten aber zu Hause zu beten. Ich kann mir
nicht vorstellen, daß christliche Frauen zu solchen Taten fähig wären. Die Behörden hingegen verfolgten eine andere Spur. Die Tatsache, dass die Schwestern kurz vor der Entdeckung des unterirdischen Ganges verschwunden waren, sprach gegen die Theorie, dass sie Opfer waren. Hinzu kamen die verpfendeten Wertsachen von Dr.
Schäfer und mehrere Augenzeugen, die die Schwestern mit verschiedenen später vermissten Männern gesehen hatten. Eine Woche nach der Entdeckung gab Untersuchungsbeamter Weber eine offizielle Pressekonferenz. Ohne alle Details preis zu geben, bestätigte er, dass im Keller der Webermühle mehrere modifizierte Räume gefunden worden sein, die offenbar der vorübergehenden Unterbringung von Personen dienten.
Die Räume seien mit schweren Eisentüren gesichert gewesen, die nur von außen zu öffnen waren. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Schwestern Weber an der Entführung und möglicherweise Tötung mehrerer Männer beteiligt waren, erklärte Weber. Die Fandung nach den beiden Frauen läuft auf Hochtouren.
Die Pressekonferenz löste eine Welle der Bestürzung aus, die weit über den Schwarzwald hinausreichte. Mehrere überregionale Zeitungen griffen die Geschichte auf, allerdings mit stark sensationalistischen Übertreibungen. Die Berliner Morgenpost titelte: “Schwarzwaldhexen locken 28 Männer in den Tod. In Schönmünsch selbst setzte ein Prozess kollektiver Verdrängung ein.
Viele Dorfbewohner begannen ihre Erinnerungen an die Schwestern Weber umzudeuten. Plötzlich waren sie immer schon unheimlich und abstoßend gewesen. Niemand wollte zugeben, ihr freundliche Worte mit ihnen gewechselt zu haben. “Es ist ein bekanntes Phänomen,” notierte der Psychologe Dr.
Richard Fogt, der 1952 eine Studie über den Fall durchführte. Wenn eine Gemeinschaft mit einer so erschütternden Wahrheit konfrontiert wird, neigen die Menschen dazu, ihre eigenen Erinnerungen zu verfälschen, um sich von den Tätern zu distanzieren. Besonders betroffen waren jene Dorfbewohner, die den Schwestern direkt oder indirekt geholfen hatten.