Frühjahr des Jahres 1951. Zwischen den sanft geschwungenen Hügeln der schwäbischen Alp, dort, wo dichte Wälder nach Harz duften und der Wind über weite Streuobstwiesen streicht, erhob sich der weitläufige Hof Sonnenbruck. Ein Gehöft aus dunklem Fachwerk und schweren Schieferdächern, das seit Generationen der Familie Weber gehörte, einer angesehen wohlhabenden Dynastie.
deren Name in der Region fast so fest verwurzelt war wie die alten Buchen an den Hängen. Doch hinter den Mauern der Hofanlage, deren Balken im Abendlicht warm leuchteten, verbarg sich ein Geheimnis, das so tief und faulig war wie der Lehboden unter dem Kellergewölbe. Ein Geheimnis, das über Jahrzehnte vergraben blieb, bis es eines Tages wie ein verschimmelter Balken unter seinem eigenen Gewicht brach.
Der Hausherr Friedrich Weber war seit fünf Jahren Witw. Seit dem Tod seiner Ehefrau Anna Weber, die im eiskalten Winter 1946 an einer Lungenentzündung gestorben war, hatte sich der einst großzügige freundliche Landwirt verändert. Er war ein hochgewachsener Mann mit silbergrauem Haar und durchdringenden blauen Augen, die früher stets Wärme ausgestrahlt hatten, nun jedoch etwas eisiges, kontrollierendes in sich trugen.

Man sah ihn selten lächeln und wenn er es tat, wirkte es nie echt. Im großen Haupthaus lebten mit ihm seine drei Töchter. Kara, die älteste, Jahre alt, mit klassischer Schönheit, geschwungenen Lippen und grünen Augen, in denen früher Lebensfreude geleuchtet hatte. Helen 21, wilder, spontaner, mit Rabenschwarzem Haar und einer Art, die junge Männer im ganzen Umkreis nervös machte.
und Lena, die jüngstehn Jahre alt, ein Mädchen mit heller, fast zerbrechlicher Anmut, die in jedem Dorfbewohner einen Beschützerinstinkt weckte. Alle drei hatten im Klosterinternat der Benediktinerinnen von Boyon eine ausgezeichnete Ausbildung erhalten. Sie spielten Klavier, sprachen flüssig Französisch und waren berühmt für ihren tadellosen Anstand und ihre markellose Erscheinung. Doch seit dem Tod ihrer Mutter waren sie nie wieder dieselben gewesen.
Irgendetwas an ihnen war anders geworden. Die Bewohner des nah gelegenen Dorfes Lindenweiler flüsterten in den Gasthäusern, dass die Mädchen kaum noch das Haus verließen, dass sie jedem Verehrer kühl und teilnahmslos begegneten, dass sie in einer seltsamen Abgeschiedenheit lebten, als wäre der Hof Sonnenbruck eine Welt für sich.
eine, in die kein Außenstehender blicken durfte. Der Pfarrer des Dorfes, Pater Johannes Ritter, ein Mann mit rundlichem Gesicht und gütigen Augen, war der erste, der spürte, dass etwas nicht stimmte. In seinen später gefundenen Aufzeichnungen notierte er: “Seit dem Tod von Frau Anna liegt ein Schatten über dem Hof. Die Mädchen wirken verschreckt, beinahe verschlossen.
Und in ihren Blicken liegt eine Schwere, die nicht zu ihrem jungen Alter passt. Wenn ich mit ihnen spreche, wirken Sie, als wüßten sie mehr, als sie sagen dürfen. Etwas Unaussprechliches hängt zwischen ihnen. Friedrich Weber selbst hatte sich in jenen Jahren zu einem Mann entwickelt, den viele kaum wieder erkannten.
Er entließ sämtliche männlichen Knechte, die über Jahrzehnte treu für die Familie gearbeitet hatten und ersetzte sie durch ältere Frauen aus den Nachbardörfern. Die Begründung lautete, er wolle seine Töchter schützen. Doch die Wahrheit war viel finsterer. Eine der Frauen, die später im Zuge der Ermittlungen aussagten, war Margarete Hauf, die frühere Köchin des Hofes. Ihre Worte wurden wörtlich im Archiv des Amtsgerichts Tübingen festgehalten.
Herr Weber sah seine eigenen Töchter auf eine Art an, die mir den Magen umdrehte, besonders klarer. Ich wusste sofort, das ist kein Blick eines Vaters. Da war etwas Besitzergreifendes, unreines. Ich konnte es nicht beweisen, aber ich spürte es.
Nachts hörte ich manchmal Geräusche aus dem oberen Stockwerk, Schritte, Türen und manchmal Wein. Der Sommer jenes Jahres brachte die ersten Gerüchte, die wie giftige Funken durch die Region sprang. Man sprach hinter vorgehaltener Hand über unreine Dinge, über Streit, über die seltsame Abwesenheit der Mädchen bei Dorfesten. Einigen fiel auf, dass Friedrich die drei praktischen nicht mehr aus den Augen ließ.
Selbst beim Kirchgang hielt er sie so nah an sich, dass es fast schmerzhaft wirkte. Und immer hatte er eine Hand auf dem Arm einer der Töchter. Zu lange, zu fest, zu besitzergreifend. Niemand ahnte damals, daß dies nur der Anfang war, der Anfang einer Geschichte, die später unter dem Namen der Fall der verfluchten Erbinnen von Sonnenbruck in geheime Akten einging.
Was in jenem Frühjahr in der schwäbischen Alpgärte, war ein Schrecken, der bald die gesamte Region und schließlich ganz Deutschland erschüttern sollte. Der erste Hinweis darauf, daß im Hof Sonnenbruck etwas geschah, das jenseits jeder Vorstellungskraft lag, tauchte im August des Jahres 1951 auf. An einem regnerischen Dienstagmgen erhielt das Landratsamt reutling einen anonymen Brief.
Das Papier war feucht, die Tinte verschmiert, die Schrift zittrig, als habe die Verfasserin oder der Verfasser in großer Angst geschrieben. Die Nachricht bestand nur aus wenigen Zeilen. Auf dem Hof Weber geschehen Dinge gegen die Natur. Die drei Mädchen sind in Gefahr. Bitte handeln Sie, bevor es zu spät ist. Der Brief wurde abgeheftet, aber nicht weiter verfolgt.
Zu mächtig war der Name Weber. Zu sehr dominierte die Familie die Region und niemand wollte es sich mit Friedrich verscherzen. Doch das Schweigen hielt nicht lange an. Die Hebme des Dorfes, Anna Maria Fink, eine erfahrene Frau mit scharfem Blick, wurde im Herbst desselben Jahres dreimal mitten in der Nacht zum Hof Sonnenbruck gerufen, offiziell um Frauenkrankheiten der Töchter zu versorgen.
Doch was sie dort vorfand, verfolgte sie bis an ihr Lebensende. Bei ihrer späteren Aussage vor Gericht, fast drei Jahre nach dem Skandal schilderte sie: “Kara zeigten eindeutige Zeichen, dass sie vor nicht allzu langer Zeit entbunden hatten und zwar heimlich. Und bei Lena erkannte ich Symptome, die ich vorher nur bei Frauen gesehen hatte, die schwere Eingriffe hinter sich hatten.” Als ich Fragen stellte, wurde Herr Weber wütend.
Er drohte mir, sagte, ich solle meine Zunge hüten, sonst würde ich meine Arbeit verlieren und meinen Namen gleich mit. Im Dorf blieb der Ton währenddessen düster. Die Sonntagsmesse, einst ein Treffpunkt für Lachen und Getuschel, war zu einem Schauplatz verstohlener Blicke geworden.
Die drei Weberschwestern erschienen jede Woche gekleidet in tiefes Schwarz mit Schleiern, die ihre Gesichter verbargen. Sie setzten sich in die erste Reihe, direkt neben ihren Vater. Doch anders als früher empfingen sie nie die Kommunion. Sie verließen die Kirche unmittelbar nach dem letzten Segen. Pater Johannes schrieb in seinen Aufzeichnungen: “Sie wirkten wie drei Schatten, nicht wie junge Frauen, die beten, sondern wie Sünderinnen, die eine Strafe absitzen.
” Friedrichs Verhalten wurde ebenfalls immer merkwürdiger. Er begleitete seine Töchter selbst zum Bäcker, zur Post, ja sogar zum Schneider in der Nachbarstadt. Wenn jemand versuchte, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, stellte er sich dazwischen. Körperlich, bedrohlich. Es schien, als wolle er die Mädchen ganz für sich behalten.
Der Ladenbesitzer Karl Friedrich Rombach sagte später aus, er stand so dicht hinter ihnen, dass ich mich unwohl fühlte. Er strich Klara durchs Haar, rückte Helenes Schal zurecht, berührte ihre Schultern in einer Art, die mir sofort falsch vorkam. Ich schwöre, das war nicht väterlich. Der größte Einblick aber kam von einer jungen Frau namens Elisabeth Lisel Krötz, die es als einzige Dienstmarkt schaffte, länger als ein halbes Jahr auf dem Hof zu bleiben.
Ihre detaillierte Aussage wurde später als Schlüsselstück im gesamten Verfahren angesehen. Sie berichtete: “Nichts hörte ich Geräusche, nicht wie Schritte, mehr wie schluchzen, atmen, manchmal sogar etwas, das wie Flüstern klang. Einmal ging ich zur Küche, um Wasser zu holen. Da sah ich Herrn Weber, wie er aus Klaras Zimmer kam. Er knöpfte gerade sein Hemd zu.
Klara stand in der Tür, im Nachtkleid, bleich und mit Tränen im Gesicht. Ich wußte sofort, daß ich etwas gesehen hatte, dass ich nicht hätte sehen dürfen. Er schrie mich an, ich sle verschwinden, aber dieses Bild vergesse ich nie. Auch die medizinischen Unterlagen des Arztes Dr. Wilhelm Krämer gaben Anlass zur Sorge.
Zwischen Frühjahr und Winter 1951 behandelte er die Schwestern wegen schwerer Nervosität, depressiver Vimmung, unregelmäßiger Zyklen, unerklärlicher körperlicher Erschöpfung. In seinen privaten Aufzeichnungen, die seine Familie erst nach seinem Tod veröffentlichte, stand: “Die drei Mädchen stehen unter enormem psychischen Druck. Klara leidet an Albträumen. Helen hat tiefe Kratzspuren an den Armen.
Lena wirkt wie ein eingeschüchtertes Tier. Jedes Mal, wenn ich nach einer Ursache frage, starren sie zur Tür, als erwarte jemand, dass sie schweigen. Bis zum Winter wurde ihre Isolation vollkommen. Sie nahmen an keinem Dorff fest teil. Sie zeigten sich nicht mehr mit Freunden. Sie antworteten selten, wenn man sie auf dem Weg sah.
Die Bewohner Lindenweilers begannen, die Fensterläden des Hofes zu beobachten. Manchmal sah man nachts Licht flackern, manchmal hörte man entfernte Schreie, die sofort wieder verstummten. Doch niemand wagte, den Hof Sonnenbruck zu betreten. Niemand stellte Fragen.
Der Schrecken hatte eine Form angenommen, doch noch wusste niemand, wie groß er wirklich war. Was im Winter folgen würde, sollte alles bisher gehörte in den Schatten stellen. Der Winter 191 kam früh und hart über die schwäbische Alp. Schnee fiel in dicken, schweren Flocken, die den Hof Sonnenbruck binnen weniger Tage völlig von der Außenwelt abschnitten.
Die Wege waren unpassierbar, die Telefonleitungen fielen mehrfach aus und der ohnehin isolierte Hof wurde endgültig zu einer Festung aus Frost und Schweigen. Genau in dieser Zeit des Erzwungenen eingeschlossen seins erreichte das Grauen seinen Höhepunkt. Die einzige Dienstmarkt, die in dieser Phase noch auf dem Hof war, die junge Petra Altdorfer, verließ den Hof später halbwahnsinnig und lieferte den Ermittlern die schrecklichsten Schilderungen jener Monate.
In ihrer Aussage, die wörtlich im Amtsgericht vermerkt wurde, heißt es: “Herr Weber hatte einen festen Ablauf. Jeden Abend schickte er mich und die alte Waschfrau um Punkt 8 Uhr in unsere Kammern. Wir durften die Türen nicht öffnen, egal was wir hörten. Aber die Wände waren dünn und der Hof war still, zu still.
Ich hörte Klara flehen, ich hörte Helene Weinen. Manchmal hörte ich auch Herrn Weber, keuchend, zischend, murmelnd wie ein Besessener. Währenddessen dokumentierte Dr. Krämer einen drastischen Verfall der psychischen Gesundheit der Schwestern. Kara, einst selbstbewusst und elegant, entwickelte eine schwere Angstörung.
Sie verließ ihr Zimmer kaum noch, stand stundenlang zitternd am Fenster, als würde sie etwas Unsichtbares draußen erwarten. Helene begann laut Arztunterlagen in der dritten Person über sich selbst zu sprechen, als beobachte sie ihr eigenes Leben wie eine Fremde. Sie hat Schmerzen, sie darf nicht schreien. Er hört es sonst. Lena, die jüngste, zeigte Selbstverletzungen.
Sie riß sich Haarbüschel aus, weigerte sich zu essen und starrte manchmal minutenlang in eine dunkle Ecke des Raumes, als sähe sie etwas oder jemanden, den andere nicht erkennen konnten. Im Februar 1952 kam es dann zum Ereignis, das später nur als die Nacht der Blutflecken bezeichnet wurde. Die ehemalige Köchin Margarete Hauf, die für eine Notlage erneut an den Hof gerufen wurde, schilderte folgendes: Klara war hochschwanger, aber etwas stimmte nicht.
Ihr Bauch war zu groß, zu schwer, ihr Gesicht aschfahl. Sie zitterte, redete im Fieberwte ständig: “Gott straft uns, der Himmel sieht alles.” Als die Wehen einsetzten, wollte ich sofort den Arzt rufen. Aber Herr Weber packte mich am Arm und sagte: “Kein Fremder kommt ins Haus. Das ist eine Familienangelegenheit.
Ich mußte den ganzen Vorgang alleine durchführen und was in jener Nacht zur Welt kam, war nicht normal, nicht gesund, nicht menschlich, wie es hätte sein sollen. Die offiziellen Akten verschweigen die Details. Jede Zeile, die sich auf das Neugeborene bezieht, wurde vom Innenministerium geschwärzt. Doch alle, die anwesend waren, hinterließen Andeutungen in privaten Aufzeichnungen.
Der Gerichtsmediziner schrieb später betrunken und verzweifelt: “Ich habe Dinge gesehen, die Gott niemals gewollt hat.” Klaras Kind lebte nur wenige Stunden. Wohin Friedrich den kleinen Körper brachte, wusste niemand. Aber auf dem verschneiten Gelände des Hofes entdeckte man im Frühjahr mehrere frische flache Grabhügel, die nie offiziell untersucht wurden. Während dieser Zeit verlor Helene endgültig den Bezug zur Realität.
Petra Altdorfer berichtete. Ich fand sie einmal mitten in der Nacht im Innenhof. Barfuß im dünnen Nachthemd bei eisigem Schnee. Sie kniete im Sturm und grub mit bloßen Händen ein Loch. Ihre Finger waren wund. blutig. Sie murmelte lateinische Sätze rückwärts. Als ich sie berühren wollte, schrie sie: “Ich muß ihn begraben. Ich muss das Böse zurück in die Erde bringen.
” Gleichzeitig tauchten in den Kontoauszügen Friedrich Webers mehrere ungewöhnliche Zahlungen auf, große Summen an unbekannte Personen. Außerdem wurden Medikamente in Mengen beschafft, die nur darauf hindeuten konnten, dass Eingriffe, Abbrüche und Wurstbehandlung immer häufiger stattfanden. Doch der entscheidende Wendepunkt kam am 15.
April 1952, als Lena, die Jüngste, das Unmögliche wagte. In einem Moment, als Friedrich sich ganz auf Kara konzentrierte, deren Zustand inzwischen kritisch geworden war, kletterte Lena aus einem Seitenfenster ihres Zimmers und rannte barfüßig übergefrorenen Boden. 5 km lang, durch Wald, über vereiste Felder, verfolgt nur von ihrem eigenen rasenden Herzschlag.
Sie erreichte das Benediktinerinnenkloster kurz nach Mitternacht und brach im Eingangsbereich zusammen. Die Nonnen berichteten später, sie habe ausgesehen wie ein gefangenes Tier, das entkommen ist und noch nicht weiß, ob es frei oder verloren ist. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre Füße bluteten, ihre Lippen waren blau vor Kälte, doch das Schlimmste waren ihre Augen, zwei große leere Spiegel voller Angst.
Als man sie versorgt hatte und sie endlich sprechen konnte, sagte sie nur einen Satz: “Mein Vater ist nicht mehr mein Vater.” Und diese Worte waren erst der Anfang jener erschütternden Beichte, die Deutschland in seinen Grundfesten erschüttern sollte. Lena Weber wurde in jener Nacht halb bewusstlos in die kleine Krankenstube des Benediktinerinnenklosters gebracht.
Schwester Agatha, die dienstälteste Nonne, erzählte später, daß das Mädchen zitterte wie jemand, der tagelang im Schnee gelegen hatte. Ihre Lippen bebten ununterbrochen, ihre Hände krampften sich in die Decke, als fürchte sie, dass jemand sie jeden Moment zurückreißen würde.
Erst nach mehreren Stunden, als sie warm, gewaschen und notdürftig versorgt war, begann sie zu sprechen. Doch ihre ersten Worte waren ein Flüstern. Ein Flüstern, das selbst die erfahrenen Nonnen erschüttern sollte. Er ist nicht mehr mein Vater. Dieser Satz hing wie eine kalte Glocke im Raum. Die Oberin, Schwester Otilie setzte sich zu ihr Bett und forderte sie mit leiser Stimme auf, zu erzählen, was geschehen war.
Doch Lena konnte zunächst nur weinen, immer wieder stundenlang. Dann, kurz vor Morgengrauen, brach alles aus ihr heraus. Sie erzählte stückweise stockend zwischen hysterischem Lachen und Schluchzen. Schwester Ortilie ließ jedes Wort sorgfältig mitschreiben. Die Aufzeichnungen, Jahrzehnte später gefunden, bildeten die Grundlage für die spätere behördliche Untersuchung.
Nach dem Tod unserer Mutter begann Lena, wurde er anders, dunkler. Es war, als hätte etwas in ihm Wurzeln geschlagen, etwas, das ihn von innen aufraß. Am Anfang dachten wir, es wäre Trauer. Doch dann begann er uns anders anzusehen. Sie schilderte, wie Friedrich Weber zunächst Kara, die Älteste, in seine Gewalt nahm.
Wie er ihr einredete, sie müsse nun die Rolle der verstorbenen Anna übernehmen in allem. Klara hatte versucht, sich zu wehren. Sie war stark gewesen, stolz, eine Frau mit eisernem Willen. Doch Friedrich war stärker und er hatte Macht. Macht über den Hof, über den Namen, über das Leben der drei Mädchen. Er drohte sie alle zu verstoßen, ihnen jeden Schutz zu nehmen, sie der Welt auszuliefern.
Und in einer konservativen Gemeinde der 50er Jahre wußte jede Frau, was das bedeutete. Er sagte, wir seien nur dann sicher, wenn wir gehorchen. Flüsterte Lena. Nur dann dürfte niemand uns antasten. Nur er. Nach Kara war Helene an der Reihe. Lena schilderte die schrecklichen Nächte, in denen ihr Vater jeweils eine von ihnen auswählte und zu sich rief. Der Albtraum wurde zu einem System, einem perversen Ritual, einer Routine, die das Leben der Mädchen in Stücke riss.
Er machte uns zu Dingen, sagte Lena, zu etwas, das ihm gehörte, nicht zu Töchtern, zu Opfergaben. Doch das war nicht alles. Lena berichtete von Büchern im Dachboden, die ihr Vater plötzlich besessen studierte. alte Lederbände vergilbt und mit Symbolen verziert, die sie nicht verstand. Friedrich erzählte den Mädchen: “Sein Urgroßvater habe darin das Wissen der reinen Linie gesammelt.
Regeln und Rituale, die verhindern sollten, dass fremdes Blut die Familie Schwäche. Eines Tages zwang er die drei bei einem Reinigungsritual zu knien, während er aus einem der Bücher lateinische Formeln vorlaß und Kerzen entzündete. Kerzen aus schwarzem Wachs, das er eigens hatte, anfertigen lassen.
Lena beschrieb, er sagte, wir würden die Familie erneuern, dass nur wir das konnten, nur wir. seine eigenen Töchter. Während dieser Erzählung verstummten die Nonn mehrmals vor Entsetzen. Schwester Otilie unterbrach die Beichte mehrfach, betete, segnete das Mädchen. Doch Lena redete weiter, als müsste sie alles aus sich herauspressen, bevor ihr Herz daran zerbrach.
Sie berichtete von den Schwangerschaften, geheimgehalten, verborgen, vertuscht von Kindern, die nicht leben durften, von kleinen Gräbern im Obstgarten, die der Schnee verdeckte, von Kara, die längst den Verstand zu verlieren begann, von Helen, die sich nachts die Arme aufkratzte, um das Böse aus sich herauszuholen.
von sich selbst, wie sie betete, flehte, hoffte, dass jemand, irgendjemand den Hof betreten und sie retten würde. Doch niemand kam, niemand wagte es, nicht einmal der Pfarrer, der spürte, dass dort etwas Unheiliges geschah, aber nie genug Beweise hatte, um einzugreifen. In der Krankenstube erzählte Lena schließlich vom letzten Tropfen, der das Fass ihres Verstandes zum Überlaufen gebracht hatte.
Er sagte: “Kara trage in sich den Erben, den Vollkommenen, den der alles heilen würde, den, der unsere Mutter ersetzen würde, den er formen würde. Das Kind sollte heilig sein, rein. Aber ich habe gesehen, was in ihr wuchs.” Und es war: “E war falsch, es war gegen die Natur.” In diesem Moment begann Lena wieder hysterisch zu weinen. Die Schwestern mussten sie sidieren.
Doch bevor das Medikament wirkte, stieß sie einen letzten Satz hervor. Bitte, bitte holt meine Schwestern dort raus, bevor er uns alle zu Monstern macht. Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang informierten die Nonnen sowohl das Bium als auch das Landratsamt. Pater Johannes, der die Nachricht erhielt, soll blass geworden sein und sich sofort bekreuzigt haben.
Unmittelbar darauf begann die Mobilisierung jener Untersuchung, die bald als einer der düstersten Einsätze in die Geschichte Badenwürtemberbergs eingehen sollte. Was die Ermittler im Hof Sonnenbruck finden würden, übertraf jedoch jede Vorstellungskraft. Am Morgen des 20. April 1952 formierte sich vor dem Amtshaus in Tübing eine kleine, aber hochrangige Einsatzgruppe.
Eine Konstellation, die man sonst nur aus Fällen kannte, in denen Gefahr für Leib und Leben bestand oder für die öffentliche Ordnung. Der Fallweber, so war allen sofort klar, würde beides betreffen. Die Gruppe bestand aus dem Untersuchungsrichter Dr. Ernst Hallmann, einem Mann mit strengem Blick und scharfem Sinn für Details, dem Hauptmann der Landespolizei Gerhard Fels, dem Gerichtsmediziner Dr.
Alfons Berger sowie dem kirchlichen Beauftragten Pater Matthias Rehen, der vom Bistum Rottenburg entsandt worden war. Alle vier trugen ernste Gesichter, als sie in zwei schwarzen Dienstwagen den Weg hinauf zum Hof Sonnenbruck antraten. Niemand sprach während der Fahrt, nur der Motor knurrte und der kalte Wind rüttelte an den Scheiben, als wolle er sie warnen, nicht weiterzufahren.
Der Hof lag still, als sie ankam. Unnatürlich still. Die Obstbäume, deren Äste schwer vom Frost waren, standen wie stumme Zeugen um das Anwesen herum. Kein Hund bellte, keine Henne gackerte, keine Menschenseele zeigte sich und doch lag in der Luft ein Geruch, der die Männer sofort frösteln ließ.
Süßlich, modrig, ein Aroma von Vollnis und Blut, das vom Inneren des Hauses zu kommen schien. Dr. Halmann ordnete an, die Türen zu öffnen. Hauptmannfels klopfte dreimal laut dagegen. Dann rief er: “Herr Weber, Landespolizei, öffnen Sie sofort. Es folgte nichts, keine Schritte, kein Rascheln, nichts als Schweigen, dass ich wie ein Tuch über alles legte.
Gerade als ich Fels abwenden wollte, ging die Tür langsam auf. Friedrich Weber stand im Rahmen wie eine Statue, die zum Leben erwacht war. Sein Haar war sorgfältig gekämmt, sein Anzug markellos, doch sein Gesicht zeigte eine leere Starheit, die an etwas totes erinnerte. Seine Augen glänzten nicht vor Angst oder Überraschung, sondern vor einer unheimlichen, fanatischen Ruhe.
Meine Herren”, sagte er mit einer fast höflichen Stimme. “Ich wußte, daß sie kommen würden. Willkommen. Kommen Sie herein und lernen Sie meine Familie kennen.” Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Dr. Halmann spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.
Der Empfangsraum war dunkel, nur ein schwacher Lichtstrahl fiel durch einen Spalt im Vorhang. Der Geruch wurde stärker. Hauptmannfels griff instinktiv nach seinem Halfter. Friedrich bemerkte es und lächelte. Ein falsches, gespanntes Lächeln, das die Haut um seine Mundwinkel unnatürlich verzog. “Gewalt brauchen wir nicht”, sagte er. “Meine Töchter wissen, dass Gäste Respekt erwarten.
” Als er dies sagte, öffnete sich die Tür zum Salon. Helen trat ein oder viel mehr eine Hülle von Helen. Ihre Wangen waren eingefallen, ihr Haar stumpf und zerzaust, ihre Lippen blau vor Kälte. Ihr Blick war leer, als hätte man ihr die Seele herausgerissen und nur die Hülle gelassen. Sie bewegte sich steif, mechanisch, wie jemand, der wochenlang weder Schlaf noch Essen gehabt hatte.
Dr. Berger bemerkte frische Blutspuren an ihrem Unterarm. Sie hatte Kratzwunden, die tief genug waren, um Narben zu hinterlassen. Kurz darauf erschien Kara. Der Anblick traf die Männer wie ein Schlag in die Brust. Sie war hochschwanger, viel weiter, als es laut den Aussagen möglich gewesen wäre. Ihr Bauch spannte sich wie ein monströser Ballon. Ihre Haut war wachsig und blass, ihre Augen glasig.
Auf ihrem Nachthemd waren dunkle Flecken, die eindeutig Blut und Fruchtwasser waren. Als sie den Raum betrat, hielt sie sich den Bauch und murmelte etwas Unverständliches. Nur Pater Matthias verstand einzelne Worte: “Es war Latein, aber nicht das Latein der Kirche. Es klang eher wie verzerrte, verdrehte Fragmente aus einem Ritual.
Meine Clara”, sagte Friedrich mit fast liebevoller Stimme, tragende Mutter der reinen Linie. Dr. Hallmann schluckte schwer. Die Beamten ordneten an, das gesamte Haus zu durchsuchen. Friedrich wollte sich widersetzen, doch Hauptmann Fels trat so bedrohlich nahe an ihn heran, dass er zurückwich. Die Ermittler durchkämten die Zimmer im oberen Stockwerk.
Was sie dort fanden, ließ selbst die erfahrensten Männer verstummen. In Lenas Zimmer lagen noch blutige Fußabdrücke, die Spuren ihrer Flucht. Das Bett war zerrissen, die Matratze speckig und fleckig, als sei jemand wochenlang darin gefangen gewesen. In Helenes Zimmer hingen zerfetzte Kleidungsstücke an den Wänden wie Trophäen.
Auf dem Boden lag ein Notizbuch, dessen Seiten voller verstörter Kritzeleien waren. Spiralförmige Muster, Augen ohne Pupillen, Sätze wie “Er sieht uns und die Linie muss rein bleiben.” Am schlimmsten jedoch war Klaras Zimmer. Dort standen schwere Eisenringe an den Bettpfosten, eindeutige Fesselvorrichtungen.
Daneben befand sich ein Eimer, halb gefüllt mit einer bräunlich roten Flüssigkeit. Unter dem Bett fanden die Ermittler mehrere Stoffbündel. Dr. Berger öffnete eines und erstarrte. Darin befanden sich winzige Knochenfragmente, Kleinsteile, zu klein, um eindeutig zuzuordnen. Doch niemand mußte fragen, was es war. Niemand. Im Dachboden wurde es noch düsterer.
Dort fanden sie einen Raum, den die späteren Berichte als Schrein bezeichneten. An den Wänden hingen Fotografien der drei Mädchen seit ihrer Kindheit. Doch überall war die Mutter herausgeschnitten, ihr Gesicht durchstochen oder verbrannt. Auf einem Tisch standen Ritualgegenstände, Kerzen aus schwarzem Wachs, ein Kelch mit eingetrockneter dunkler Flüssigkeit und mehrere Glasgefäße, in denen sich Gewebeproben befanden. Dr.
Berger identifizierte sie später eindeutig als fetale Reste. Manche davon waren noch nicht vollständig verflüssigt. Doch der höchste Schrecken stand ihnen erst bevor. Denn während die Ermittler noch im Dachboden waren, begann im Erdgeschoss plötzlich ein Markerschütternder Schrei. Klara war zusammengebrochen und das, was folgen sollte, würde das Fundament dieses Falls für immer prägen.
Der Schrei, der aus dem Erdgeschoss drang, war so schrill, so durchdringend, dass die Männer im Dachboden für einen Moment erstarrten. Dann rannten sie die Treppe hinunter. Hauptmann Fels erreichte den Salon als erster und blieb abrupt stehen, als hätte er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Klara lag auf dem Boden. Ihr Körper krümte sich in grotesken Bögen.
Die Hände presen sich an den monströs gewölbten Bauch. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als erkenne sie etwas, das kein Mensch sehen sollte. Blut und Fruchtwasser bildeten eine dunkle Lache unter ihr, die sich langsam über die Dielen ausbreitete. Sie keuchte, wirkte, schrie wieder, ein Schrei, der wie das Heulen eines verwundeten Tieres klang.
Friedrich kniete neben ihr, jedoch nicht als Vater, sondern als etwas völlig anderes. Sein Gesicht war verzogen vor Ektase. Er flüsterte unverständlich, als bethte er eine Formel herunter. Es ist soweit. murmelte er. Der Erbe, der reine, der, der uns erlösen wird. Hauptmannfels stieß ihn grob beiseite. Friedrich fiel, rappelte sich jedoch sofort wieder auf und versuchte erneut, sich seiner Tochter zu nähern.
Erst als zwei Polizisten ihn packten und zu Boden drückten, knurrte er animalisch, als wäre er kein Mensch mehr, sondern ein Wesen, das man zu spät erkannt hatte. Dr. Berger kniete sich zu Kara. Er erkannte sofort, daß die Situation akut lebensbedrohlich war. “Sie muß sofort ins Krankenhaus”, rief er. “Sie hat einen Riss, wir verlieren sie.
” Doch der Weg ins Krankenhaus war mehr als eine Autostunde entfernt. Klara schrie erneut, dieses Mal kurz, hell, als spürte sie, dassß etwas in ihr zu zerreißen drohte. Blut spritzte. Helene stand wie versteinert an der Wand. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. während ihre Augen panisch von ihrer Schwester zu Friedrich sprang. Sie flüsterte immer wieder.
Er hat gesagt, es wird heilig sein. Heilig, heilig. Dr. Berger hatte keine Wahl. Er befahl, den Polizisten Decken zu holen und den Tisch freizuräumen. Wir müssen hier entbinden sofort. Es folgten Minuten, die sich in die Berichte wie ein Albtraum einbrannten. Klara schrie, krampfte, zitterte. Ihr Körper bog sich in unnatürlichen Winkeln. Friedrich brüllte vom Boden aus Befehle, Beschwörungen, Flüche.
“Ihr nehmt mir mein Werk. Ihr versteht nicht, was in ihr wächst.” Hauptmann Fels gab Befehl, ihm den Mund zu stopfen, und einer der Beamten tat es, ohne zu zögern. Das, was schließlich geboren wurde, sah Dr. Berger nie wieder in seinem Leben. Niemand sollte es sehen, niemand sollte es beschreiben.

Kein offizieller Bericht nennt Details. Alles wurde sofort unter Verschluss gestellt. Doch was bekannt ist, das Kind hatte schwere Fehlbildung. Es schrie nicht, es atmete kaum. Die Haut war von unnatürlicher Farbe, die Glieder krankhaft verformt. Dr.
Berger wickelte es schnell in ein Tuch, doch Friedrich riss sich in diesem Moment frei, stürzte sich auf den Arzt und brüllte: “Gebt ihn mir. Er gehört mir. Er ist der Erbe, mein Erbe.” Vier Beamte brauchten es, um ihn erneut zu Boden zu bringen. Das Kind starb wenige Minuten später. Klara verlor das Bewusstsein. Helene rutschte an der Wand hinunter und begann zu lachen.
Ein hohes, schrilles, vollkommen gebrochenes Lachen. Pat Matthias, der als letzter heruntergekommen war, überblickte die Szene und schlug sofort ein Kreuzzeichen. Er flüsterte: “Dies ist kein menschliches Werk.” Eine Stunde später war Friedrich gefesselt, fixiert und abgeführt. Noch im Hinausgehen schrie er den Männern hinterher: “Spuckend, tobend! Ihr habt die Linie zerstört, die Reinheit vernichtet, ihr seid Sünder, alle, alle.
” Dabei versuchte er, sich die Zunge zu beißen, als wolle er vermeiden, weitere Worte preis zu geben. Die Schwestern wurden getrennt, notorgt und mit Polizeiwagen weggebracht. Klara wurde ohnmächtig ins Klinikum Tübingen gebracht. Helene in eine geschlossene psychiatrische Abteilung. Lena, die im Kloster wartete, wurde unter Schutz gestellt. Doch trotz aller Maßnahmen war eines klar.
Der Albtraum war nicht vorbei. Er hatte sich nur verlagert von den Mauern des Hofes Sonnenbruck in die Krankenhäuser, Aktenräume und Gerichtsseele Badenwürtemberbergs. Und erst Wochen später sollte das volle Ausmaß dessen, was geschehen war, enthüllt werden. die nie veröffentlicht werden sollten. Aussagen, die selbst hart gesottene Beamte an ihre Grenzen brachten und ein Prozess, der nie als Prozess bezeichnet werden durfte, weil die Wahrheit zu gefährlich war.
Was nach dem Einsatz auf dem Hof Sonnenbruck folgte, war eine Phase, die selbst die erfahrensten Behörden des Landes an ihre Grenzen brachte. Die Ereignisse hatten ein solches Ausmaß, eine solche moralische und juristische Ungeheuerlichkeit, dass niemand wusste, wie man offiziell damit umgehen sollte. In den ersten Tagen herrschte absolutes Chaos.
Die Landespolizei versuchte, die Ermittlungen zu koordinieren. Das Gesundheitsamt war mit drei schwer traumatisierten jungen Frauen konfrontiert, deren Zustand zwischen Wahn, Schock und völliger Erschöpfung schwankte. Und das Bistum Rottenburg stand vor der Frage, ob die Ereignisse als Sünde, als Wahnsinn oder als dämonische Verirrung zu werten waren.
Friedrich Weber wurde zunächst ins zentrale psychiatrische Landeskrankenhaus in Weinsberg eingeliefert. Der leitende Psychiater Dr. Ernst Walch verfasste einen vertraulichen Bericht, der erst Jahrzehnte später in einem Archiv auftauchte. Darin heißt es, der Patient zeigt eine Mischung aus Größenwahnen, religiösem Fanatismus und genealogischer Obsession, wie ich sie in dieser Form noch nie erlebt habe.
Er spricht ununterbrochen von einer reinen Linie, von einer Auserwählung und von der Notwendigkeit, das Blut der Familie unvermischt weiterzuführen. Obwohl er aggressiv wirkt, ist er in der Lage, komplexe Argumentationsketten zu bilden. Seine Taten sind nicht Ausdruck geistiger Umnachtung, sie sind Ausdruck eines bewusst verfolgten Ziels.
Während Friedrich untersucht und evaluiert wurde, verbrachte Kara mehrere Wochen im Klinikum Tübing. Die Ärzte beschrieben ihren Zustand als absolut verwüstet. Ihre körperlichen Verletzungen waren schwer, aber noch schwerer wog der seelische Zusammenbruch. Sie sprach nicht mehr, aß kaum und reagierte weder auf Stimmen noch auf Schmerzreize. In den Akten wurde festgehalten.
Die Patientin zeigt Symptome eines tiefgreifenden psychischen Traumas. Die Amnesie der letzten Jahre könnte eine Schutzreaktion sein. Eine vollständige Rekonstruktion ihrer Erinnerung erscheint unwahrscheinlich. Helene wurde unterdessen in die geschlossene Abteilung des Sanatoriums Hirsau gebracht, wo sie zwischen klaren und völlig dissoziativen Phasen hin und her wechselte.
An guten Tagen erkannte sie ihre Umgebung, an schlechten Tagen hielt sie sich für ein kleines Mädchen und an manchen Tagen sprach sie in zunehmender Intensität lateinische Phrasen, die weder die Ärzte noch die Geistlichen vollständig identifizieren konnten. In einem Vermerk eines Psychiaters stand: “Ihr Verhalten weist auf ein schweres Trauma hin, aber auch auf tief verankerte Schuldgefühle. Sie glaubt, eine Sünde begangen zu haben, ist aber unfähig zu sagen, welche.
Lena, die jüngste, war äußerlich am wenigsten verletzt und dennoch trug sie die tiefsten seelischen Narben. Sie konnte schlafen, essen, sprechen, aber ihre Augen blieben leer. Im Kloster wurde sie rund um die Uhr betreut.
Die Nonnen berichteten, daß sie jede Nacht plötzlich erwachte und schreiend darum bat, man möge das Haus verriegeln, weil er kommen könnte. Sie weinte oft lautlos und manchmal, wenn sie alleinelassen wurde, kniete sie auf dem Boden, schlug immer wieder die Hände zusammen und betete: “Vergib mir, dass ich sie zurückgelassen habe.” Die Oberin schrieb später, sie fühlte sich schuldig dafür, daß sie überlebt hatte.
Währenddessen begannen die Behörden den Hof Sonnenbruck systematisch zu durchsuchen. Die kriminaltechnischen Teams durchkämten jeden Raum, jede Scheune, jeden Schuppen und die gesamte umliegende Fläche. Was sie fanden, ließ den Fall auf eine neue Stufe des Grauens steigen. In einem alten Geräteschuppen entdeckten sie eine vergrabene Metallkiste.
Darin lagen Stoffreste, vergilbte Papiere und drei silberne Medaillons. Jedes dieser Medaillons enthielt ein winziges, sorgfältig versiegeltes Haarbüschel, jeweils mit einem Namen eingraviert, Klara, Helen Lena. Die Ermittler schlossen auf eine Art persönliches Ritualobjekt, möglicherweise im Zusammenhang mit den genealogischen Obsessionen des Vaters.
Das gräßlichste jedoch befand sich im Obstgarten. Unter einer Schicht Schnee und Erde stießen die Beamten auf mehrere flache, unmarkierte Grabhügel. Die Exumierungen wurden unter strenger Geheimhaltung durchgeführt. In den gerichtsmedizinischen Berichten tauchten Formulierungen auf wie unvollständige Reste, starke Deformierung, keine eindeutige Zuordnung möglich.
Offiziell hieß es die Funde sein unbestimmbarer Natur. Inoffiziell wußte jeder, der daran beteiligt war, was dort im Boden lag. Als die Presse Wind von der Sache bekam, verbreiteten sich Gerüchte wie ein Lauffeuer. Doch kaum jemand wusste die Wahrheit. Man sprach von Misshandlung, von Inzest, von Wahnsinn.
Niemand wagte, das Wort Kinder auszusprechen. Nicht einmal die Reporter. Das Innenministerium entschied schließlich, die Akten zu versiegeln. Zum Schutz der öffentlichen Moral hieß es. Doch alle Beteiligten wussten, dass die wahre Begründung eine andere war. Niemand sollte je erfahren, welch tiefes, abgründiges Dunkel im Hof Sonnenbruck gewachsen war.
Die folgenden Wochen nach der Versiegelung der Akten waren geprägt von hektischen internen Sitzung, intensiven Befragungen und politischen Spannung. Denn obwohl die Behörden offiziell schwiegen, wussten alle, dass der Fallweber zu groß, zu monströs und zu entsetzlich war, um einfach begraben zu werden. Die Wahrheit war ein Pulverfass, das jederzeit detonieren konnte.
Der interne Bericht, den Untersuchungsrichter Dr. Ernst Hallmann wenige Tage nach seiner Durchsicht verfasste, beginnt mit einem Satz, der später berühmt wurde. Dies ist kein gewöhnlicher Fall von Gewalt in der Familie. Dies ist ein Angriff auf die Grundpfeiler der Menschlichkeit.
Während die Behörden versuchten, eine juristische Struktur für das Unfassbare zu finden, verschlechterte sich der Zustand der drei Weberschwestern weiter. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Manche Symptome waren erklärbar, folgen von Gewalt, von Hunger, von ständiger Angst. Aber vieles schien tiefer zu liegen, fast wie ein Schatten, der in ihrem Inneren weiter wuchs, obwohl der eigentliche Ursprung längst entfernt worden war.
Kara, deren Körper sich nur mühsam von der Nacht der Geburt erholte, litt unter schweren Fieberschüben. Sie schrie in ihrem Schlaf, kämpfte gegen unsichtbare Gestalten und flehte um Vergebung. Immer wieder rief sie nach ihrer Mutter, als sei sie ein kleines Kind. Doch wenn man sie weckte, kannte sie niemanden.
Sie sah die Ärzte an, wie Fremde, sah ihre eigenen Hände an, als wären sie die einer anderen Person, und rief panisch: “Er hört mich, er hört mich.” In einem ärztlichen Bericht stand: “Die Patientin scheint zu glauben, dass ihr Vater auch aus der Ferne Kontrolle über sie ausübt. Ihre Angst ist real, greifbar. Sie klammert sich an die Decke, als würde sie gleich weggeschleift.
Helen dagegen hielt sich in einer Welt auf, die nur für sie existierte. Manchmal sprach sie klar, präzise, sogar poetisch. Dann wieder kauerte sie auf dem Boden, wiegte sich vor und zurück und murmelte lateinische Worte, die aus einer Mischung aus Kirchenlatein und verstümmelten archaischen Formen bestanden.
Als man einen Sprachwissenschaftler aus Freiburg konsultierte, konnte dieser nur sagen: “Es klingt wie ein verwandeltes Ritual, verstümmelte Liturgie.” An einem Nachmittag riss Elene die Vorhänge herunter, schmierte mit Blut aus einer selbstzugefügten Wunde Symbole an die Wand und schrie: “Er hat uns zu Gefäßen gemacht, zu Gefäßen. Wir hätten rein bleiben sollen.
” Die Schwesternschaft im Sanatorium war so verängstigt, dass Helen in eine Einzelzelle verlegt werden musste. Lena, die im Kloster geblieben war, hatte die klarsten Momente, aber vielleicht die tiefste Verzweiflung. Sie weinte selten, aber wenn sie sprach, trafen ihre Worte die Nonnen wie Messer. “Ich habe sie zurückgelassen”, sagte sie immer wieder. Ich lief weg und ließ sie dort mit ihm.
Die Nonnen widersprachen ihr, doch sie hörte nicht zu. In ihrer Vorstellung war es ihre Schuld, daß Klara und Helene noch am Leben waren und gleichzeitig ihre Schuld, daß sie so zugrunde ging. Während die Schwestern litten, rückte Friedrich Weber selbst in den Mittelpunkt der Untersuchung.
Die psychiatrischen Gespräche verliefen bizarre. Mal sprach er endlos über Reinheit, Tradition und Blutlinien. Mal verfiel er in eine starre Trance, in der er minutenlang an die Decke starrte. Doch eines war deutlich. Er bedauerte nichts, nicht eine Tat, nicht einen Schlag, nicht eine der Nächte, in denen er seine Töchter missbraucht und gequält hatte. Dr.
Walch notierte nach einer Sitzung: “Ich sehe hier keinen Wahnsinn im juristischen Sinne. Er weiß, was er getan hat. Er glaubt nur, es war sein Recht.” Die politische Lage verschärfte sich, als der Innenminister von Badenwürtemberg persönlich eingriff. Er ordnete eine vollständige Geheimhaltung an.
Keine Presse, keine Verhandlungen vor offenem Gericht, keine öffentlichen Diskussionen. Der Fall Weber sollte hinter dicken Mauern eingesperrt werden, wie seine Opfer es jahrelang gewesen waren. Doch es gab ein Problem, ein gewaltiges. Denn während die Behörden versuchten, alles zu kontrollieren, tauchte im Hof Sonnenbruck ein Fund auf, der alles erschütterte.
Die kriminaltechnische Einheit, die Tage später den alten Weinkeller durchsuchte, fand hinter einer versteckten Holzverkleidung einen schmalen Durchgang. Dahinter lag ein Raum, von dem niemand wusste und niemand wissen sollte. Er war klein, niedrig, kaum höher als die Größe eines Kindes. Die Luft darin war abgestanden, schwer, feucht. An den Wänden hingen Stoffetzen, die an Kinderkleidung erinnerten. Am Boden lagen Ketten, kleine, winzige.
Auch hier waren die offiziellen Akten geschwärzt. Doch ein Ermittler, der Jahre später anonym darüber sprach, sagte nur einen Satz. In diesem Raum wste ich zum ersten Mal, daß ich Gott um Vergebung bitten muß für das, was ich sah.
Der Fund mußte geheim gehalten werden, doch bei den Ermittlern wuchs ein unausgesprochener Verdacht. Der Hof Sonnenbruck hatte mehr Opfer gesehen, als bisher angenommen worden war und dann kam jene Nachricht aus Tübingen, die alles veränderte. Klara Weber war aus dem Krankenhaus verschwunden. Die Nachricht traf die Behörden wie ein Donnerschlag.
Klara Weber, die schwer verletzte, traumatisierte, kaum ansprechbare junge Frau, war verschwunden. Verschwunden aus einem bewachten Krankenhauszimmer, in dem sie rund um die Uhr hätte überwacht werden sollen. Niemand wusste, wie sie entkommen war. Niemand verstand, wie eine Frau, deren Körper von einer riskanten Notgeburt gezeichnet war, überhaupt hatte aufstehen können.
Der diensthabende Pfleger berichtete, er habe gegen 3 Uhr morgens ein leises Geräusch gehört, sei aber davon ausgegangen, es komme aus dem Flur. Als er später das Zimmer betrat, fand er das Bett leer. Das Fenster stand offen. Es führte in den Innenhof des Klinikums. Ein tiefer Sprung. Kein Mensch hätte ihn überlebt. Doch unten im Schnee waren Spuren, Fußabdrücke, unregelmäßig, schwankend, und sie führten weg, weg vom Krankenhaus, weg von den Lichtern, hinaus in die Wälder. Die Polizei durchkämte das Gelände.
Helikopter flogen über die Region, Suchhunde wurden eingesetzt. Doch immer wieder verloren sich die Spuren in den verschneiten Hügeln und immer wieder tauchten neue auf, als würde Klara im Zickzack laufen, ohne Orientierung, ohne Ziel, angetrieben von etwas, das man nicht benennen konnte. Ein Suchtrup fand an einem Waldrand einen Stoffrest ihres Nachthemdes, blut verschmiert, doch von Kara keine Spur.
Während die Suche lief, war Helene im Sanatorium in einen Zustand völliger Unruhe geraten. Sie zitterte, schrie, schlug gegen die Gitter ihres Bettes. Die Pfleger konnten sie kaum halten. Immer wieder rief sie denselben Satz: “Sie sucht ihn. Sie sucht ihn. Er ruft nach ihr. Auf die Frage, wen sie meine, begann sie nur zu lachen.
Ein hohes, sirenenhaftes Lachen, das selbst erfahrene Krankenschwestern erschauern ließ. Lena im Kloster spürte den Verlust wie einen Schlag in die Brust. In jener Nacht wachte sie auf, schweißgebadet, und schrie nach ihrer Schwester. Die Nonnen fanden sie kauernd in einer Ecke, die Hände über den Ohren, während sie keuchte. Kara ist draußen.
Sie ist allein. Er läßt sie nicht los. Die Oberin versuchte sie zu beruhigen, doch Lena war wie im Fieber. Sie geht zurück. Er hat sie gerufen. Und dann fiel sie in Ohnmacht. Währenddessen wurde Friedrich Weber streng bewacht, doch auch sein Zustand veränderte sich. Als man ihm am nächsten Morgen eröffnete, dass Klara verschwunden war, geschah etwas, das niemand erwartet hätte. Er lächelte.
Ein ruhiges, sanftes Lächeln, als wäre etwas geschehen, dass er vorausgesehen hatte. Er setzte sich auf, sah den Psychiater an und sagte in geflüstertem Tonfall: “Sie kehrt nach Hause zurück, dorthin, wo sie hingehört.” Die Beamten schämten sich später zuzugeben, dass sie in diesem Moment einen Stich von Furcht verspürten.
Noch am selben Nachmittag traf eine neue Nachricht ein. Ein Forstbeamter hatte im Gebiet des Rosensteins Fußspuren gesehen und eine Gestalt, die langsam durch den Schnee kroch. Als die Polizei eintraf, fanden sie tiefe schleifende Spuren und im Schnee lag eine Schrift gezogen mit einem Finger oder Stock zu Hause.
Die Spur führte weiter in Richtung des Hofes Sonnenbruck. Die Ermittler begannen zu begreifen, daß der Albtraum womöglich dorthin zurückkehren würde, wo er begonnen hatte. Als nachts die ersten Männer den Hof erreichten, fanden sie das Tor halb offen. Schnee war hineingeweht und in der Einfahrt lag etwas. Ein Abdruck, kein Schuhaabdruck, eine Hand, eine blutige Handfläche, tief ins Eis gedrückt, als hätte jemand versucht, sich hochzuziehen.
Die Männer zogen Waffen, Lampen und gingen hinein. Im Salon, wochen zuvor die grausame Geburt stattgefunden hatte, herrschte Totenstille. Dann hörte einer der Polizisten ein Geräusch, ein leises, rhythmisches Rascheln. Sie folgten dem Klang, bis sie ihn fanden. Kara sie saß auf dem Boden mit dem Rücken zur Tür in einem Nachthemd, das kaum noch zusammenhielt.
Ihr Haar war wirr, die Haut von Kälte verfärbt, ihre Füße blutig und wund. Sie wiegte etwas in ihren Armen. “Eine Decke, eine leere Decke.” “Mein Kind”, flüsterte sie. “Er weint. Hörst du ihn?” “Er weint” doch. Die Männer erstarrten, die Decke war leer. Als Kara den Kopf hob, sah man in ihren Augen etwas, das niemand später beschreiben konnte.
Keine Klarheit, keine Nüchternheit, aber auch kein bloßer Wahnsinn, eher etwas wie absolute Überzeugung oder Besitz. Sie streckte die Arme etwas vor und lud sie ein, näher zu kommen. “Seid leise”, sagte sie. “Er mag kein Licht. Die Ermittler näherten sich langsam, vorsichtig. Einer berührte die Decke. Klarer schrie auf, ein Schrei, der durch den gesamten Hof halte.
Und genau in diesem Moment, weit entfernt im Sanatorium, begann Len ungebremst zu toben. Sie riss den Tropf aus dem Arm, schlug eine Schwester ins Gesicht, stürzte sich gegen die Tür und schrie, bis ihre Stimme brach. “Er ist dort. Er ist dort.” Das Kind lebt. Ein Pfleger berichtete später. Sie schien klarer zu sehen, als wären sie verbunden auf eine Weise, die ich nicht erklären kann. Die Behörden hatten nun ein neues Problem.
Klara war zwar gefunden, aber nicht zurückgekehrt. Nicht wirklich. Und niemand ahnte, dass der nächste Akt dieses Albtraums bereits begonnen hatte. Die Rückkehr Klarersas auf den Hof Sonnenbruck hätte ein Ende des Albtraums sein können. Doch tatsächlich war sie der Beginn einer neuen Phase, noch unheimlicher, noch schwerer zu begreifen als alles zuvor.
Denn obwohl die Ermittler sie gefunden hatten, war Kara nicht gerettet worden. Im Gegenteil, der Hof schien sie zurückgeholt zu haben wie ein kaltes, hungriges Wesen, das seine verlorene Beute wieder an sich zieht. Die Polizisten, die sie im Salon entdeckt hatten, wagten kaum, sich ihr zu nähern. Klara saß mit starrem Rücken, das leere Tuch im Arm, wie ein lebendiges Wesen.
Ihre Lippen bewegten sich unentwegt, doch die Worte waren kaum hörbar. Nur ab und zu drang ein Satz klar hervor. Er schläft nicht, er sieht euch oder erwartet, dass ihr geht. Dr. Berger, der kurz darauf eintraf, erkannte sofort den gefährlichen psychischen Zustand der jungen Frau. Er wußte, dass jede unvorsichtige Bewegung zu einer Panikattacke führen konnte.
Und doch war etwas in ihrer Haltung, das ihn tiefer erschütterte als jeder medizinische Befund. Eine Ruhe, die nicht zu ihrem Zustand passte. Eine Ruhe, die etwas Unnatürliches in sich trug. Währenddessen spürten die Beamten im ganzen Haus eine Atmosphäre, die sie später als Monai Barus schwer beschrieben.
Die Luft im Hof war ungewöhnlich kalt, feucht, stickig, die Lampen flackerten, man hörte Schritte, obwohl niemand ging, und aus dem Dachboden drang ein leises Kratzen, das niemand erklären konnte. Der Hof schien zu atmen. Als die Männer es wagten, Kara sanft von hinten zu berühren, zuckte sie zusammen, fauchte wie ein verletztes Tier und klammerte das Tuch noch fester an sich. “Tut ihm nicht weh!”, schrie sie.
“Er ist mein Kind. Er ist da. Er braucht mich.” Die Beamten mussten sie fixieren, doch als sie die Decke aus ihren Armen lösten, entdeckten sie etwas, das sie jahrelang verfolgen sollte. feuchte Wärme, als hätte jemand oder etwas bis vor kurzem darunter gelegen. Klara wurde ins Klinikum zurückgebracht, diesmal unter strickter Bewachung, sediert und fixiert.
Doch die Unruhe hörte nicht auf. In der ersten Nacht nach ihrer erneuten Einlieferung wachte sie schreiend auf. Lasst ihn nicht frieren, er findet mich sonst. Er kriech zu mir. Mehrere Pfleger mußten sie halten, während sie sich wand besessene. Im Sanatorium Hirsau wurde Helene unterdessen in eine Zwangsjacke gelegt. Ihr Zustand brach vollständig zusammen.
Sie zitterte ununterbrochen, verzog das Gesicht zu bizarren Grimassen und sprach zwischen ihren Schreien zerhacktes Latein. Einmal rief sie: “Er hat das Zeichen, das Zeichen auf der Brust.” Die Ärzte verstanden nicht, wovon sie sprach, doch ihre Panik war so real, daß selbst die erfahrensten Pfleger Mühe hatten, sie zu beruhigen.
Lena im Kloster erlebte zeitgleich eine Vision, die sie in Todesangst versetzte. Sie sah angeblich klarer im Schnee knien, während eine dunkle verzerrte Gestalt hinter ihr stand, die Hand auf ihren Rücken gelegt. Lena schluchzte und erzählte der Oberin: “Er ist zurück. Er ist nicht gestorben. Er nimmt wieder Form an. Er wächst, obwohl er tot ist. Die Nonnen schwiegen und beteten.
In der Zwischenzeit führte ein forensisches Team im Hof weitere Untersuchungen durch. Der Weinkeller, die Scheunen, der Dachboden, alles wurde erneut durchsucht. Dabei fanden sie ein altes Protokollbuch des Hausvorstehers aus dem Jahr 1923. Darin stand eine merkwürdige Notiz. Die Linie darf nie durch fremdes Blut verunreinigt werden. Der Urvater hat es so bestimmt.
Das Zeichen muss auf jedem Erben liegen, sonst verflucht uns die Erde selbst. Daneben eine gezeichnete Spirale, ein Symbol, das Helene mehrfach in ihr Blut gekritzelt hatte. Die Ermittler stellten fest, daß dieselbe Spirale auch auf mehreren Holzpaneelen des Hauses eingeritzt worden war, offenbar vom alten Weber vor Jahrzehnten, vielleicht noch früher.
Der Gedanke, dass Friedrich Weber lediglich der jüngste Träger einer generationslangen Obsession gewesen sein könnte, er schütterte die Untersuchungsteams. War dies ein Familientrauma, ein Erbe oder etwas noch dunkleres? Doch die größte Furcht erfasß die Männer, als sie im Schlafzimmer Friedrichs einen schmalen Schrank öffneten.
Darin hing ein Kinderhemdchen, alt, vergilbt, mit braunen Flecken. Auf der Brust war etwas eingenäht, die Spirale. Daneben lag ein Notizbuch mit dem handschriftlichen Eintrag. Der nächste wird vollkommen sein. Die Fehler der vorherigen dürfen nicht wiederkehren. Die Ermittler wurden blass und noch in derselben Nacht kam ein neuer Schock.
Die Sicherheitskameras des Klinikums zeigten etwas Unmögliches. Im Moment, als Kara wieder erwachte, fiel in exakt demselben Augenblick im Hof Sonnenbruck ein schwerer Schrank um, ohne dass jemand im Raum war. Man hörte Schritte auf dem Dachboden und ein Schatten huschte über den Flur. Was auch immer Friedrich Weber erschaffen wollte, vielleicht war es noch immer im Haus oder es suchte jemanden, um zu ihm zurückzukehren. Die Ereignisse der folgenden Tage entzogen sich jeder logischen Erklärung. Die Ermittler, die
den Hof Sonnenbruck bewachten, berichteten von Phänomenen, die sie sich nicht eingestehen wollten und doch schriftlich festhalten mußten. Der Hof lebte. Er knarrte, ächzte, vibrierte, als wäre er ein atmender Organismus. Türen öffneten und schlossen sich ohne Zugluft. Lampen flackerten, obwohl die Elektriker keine Fehler fanden.
Und aus dem Dachboden drang nachts ein Poltern, als würde jemand mit schweren Schritten von Wand zu Wand gehen. Doch niemand war dort. Die Polizei begann im Schichtbetrieb zu arbeiten, aber selbst die abgebrühtesten Beamten weigerten sich nach einiger Zeit. allein in die oberen Stockwerke zu gehen. “Zwei Mann minimum”, so lautete die inoffizielle Regel. Einer der jüngeren Beamten, der später den Dienst quittierte, sagte einmal: “Ich fürchte Menschen nicht, aber das da oben war kein Mensch.
” Während der Hof immer unheimlichere Anzeichen zeigte, verschlechterte sich der Zustand der drei Schwestern auf bedrückende Weise weiter. Klara schien nach ihrer Rückkehr völlig in einer eigenen Welt gefangen. Sie sprach ununterbrochen mit dem leeren Tuch, als wäre ein Kind darin eingewickelt. Wenn man ihr das Tuch sanft nehmen wollte, verfiel sie in panische Schreie.
Einmal beschimpfte sie die Pfleger, sie seien Feinde des Blutes. Ein andermal wisperte sie lächelnd: “Er trinkt, er wird stärker.” Medikamente beruhigten sie nur oberflächlich. Oft ritzte sie sich selbst Zeichen in die Arme, Spiralen, Kreise, Linien, immer dieselben Muster, immer dieselben Bewegungen, als würde sie etwas wiederholen, das ihr eingebrannt worden war.
Helene wiederum schien eine Art Verbindung zur Außenwelt verloren zu haben und zugleich eine unheimliche Verbindung zu ihrer Schwester zu spüren. Mehrmals reagierte sie im Sanatorium exakt in dem Moment, in dem Kara im Klinikum eine Krise hatte. Einmal schrie sie laut auf und klammerte sich an die Gitter ihres Bettes. Und zurelben Sekunde verletzte sich Kara in Tübing an einer Glasscherbe.
Die Ärzte bezeichneten es als pathologische Geschwisterbindung, doch die Pfleger schworen, sie hätten so etwas noch nie erlebt. Helene wiederholte immer wieder denselben Satz. Das Zeichen hat ihn verbunden. Das Blut macht den Weg. Lena, die im Kloster blieb, betete täglich für ihre Schwestern, doch selbst sie, die am stabilsten wirkte, verloren nach und nach den Halt.
In der dritten Nacht, nach Kas Rückkehr erzählte sie den Non, sie habe ihre Mutter gesehen, wie sie im langen weißen Kleid in der Tür ihres Schlafzimmers stand und sagte: “Ich kann sie nicht halten. Sie gehen alle dorthin zurück.” Lena schrie stundenlang. Die Oberin musste sie säieren. Während die drei Schwestern auseinanderfielen, begannen die Ermittler die alten Unterlagen der Familie Weber zu sichten.
In einer Truhe auf dem Dachboden fanden sie ein Paket vergilbter Briefe, datiert zwischen 1995 und 1918, verfasst vom Urgroßvater Friedrichs Johann Weber. Die Briefe deuteten auf eine langjährige Obsession hin. Der Urgroßvater hatte über Verunreinigung durch fremde Einflüsse geschrieben, über das Erwachen des alten Erbes und über das heilige Zeichen, das nur die Erstgeborenen tragen dürfen.
Ein Brief endete mit einem Satz, der den Ermittlern eine Gänsehaut verursachte. Wer das Zeichen trägt, bleibt bei uns, selbst wenn die Welt ihn verloren glaubt. Was immer das Zeichen war, es hatte über Generationen hinweg eine Bedeutung gehabt, die sich nun in schrecklicher Weise wieder manifestierte. Die Suche nach Antworten führte die Ermittler schließlich zu einem alten Mann im nahegelegenen Dorf, Matthias Bärwinkel, der einst als Knecht für die Webers gearbeitet hatte. Er war inzwischen fast 90 Jahre alt.

zitternd, nach Schweiß und Pfefferminz riechend, die Augen trüb und doch klar genug, um sich zu erinnern. Als die Beamten ihm die Spirale zeigten, erstarrte er. Sein ganzer Körper spannte sich und er begann zu weinen. “Ich habe es schon einmal gesehen”, flüsterte er. “Ich war vielleicht 15 oder 16 damals in der Erntezeit. Er erzählte eine Geschichte, die bis dahin niemand kannte.
Er schwor, daß er in seiner Jugend einmal nachts auf den Dachboden geschlichen war und dort den Urgroßvater gesehen hatte, wie er über einem Säugling stand, wie er Zeichen in dessen Brust ritzte, wie er sagte, die anderen waren Fehlversuche. Der junge Knecht floh damals aus dem Hof. Niemand glaubte ihm.
Doch nun, fast 70 Jahre später, passte seine Erzählung auf unheimliche Weise zu den Funden im Haus. Die Ermittler begriffen, daß sie es nicht nur mit einem einzelnen Täter zu tun hatten. Es war ein Erbe, ein genealogischer Warn, weitergegeben, verlängert, verschärft, ein Ritual, das über Generationen bestand hatte.
Doch bevor die Ermittler tiefer graben konnten, kam es zu einem weiteren Ereignis, das alles veränderte. Die Kameras am Hof nahmen in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai etwas auf, das alle Beteiligten bis ins Mark erschütterte. Ein Schatten, aufrecht, humanoid, mit einer Bewegung, die die Experten später als unmenschlich fließend beschrieben. Er kroch, nein, glitt, den Flur entlang und er bog in das Zimmer, indem man einst die Medaillons gefunden hatte, dorthin, wo die Spirale über dem Bett eingeritzt war.
Die Aufnahmen aus jener Nacht verbreiteten sich unter den Ermittlern wie ein Flüstern aus einer anderen Welt. Niemand wollte darüber sprechen, niemand wollte zugeben, was er gesehen hatte. Doch jeder wusste, dass das Material existierte. Die Kamera im nördlichen Flur des Hofes Sonnenbruck, eigentlich installiert, um ein wachsames Auge auf potenzielle Einbrecher zu haben, zeichnete etwas auf, das mit keiner menschlichen Bewegung in Einklang zu bringen war.
Der Schatten bewegte sich langsam, aber fließend, ohne sichtbare Schritte. Er glitt am Boden entlang, mal schmaler, mal breiter werdend, als würde er seine Form verändern, je nachdem, wie das Licht fiel. Er war humanoid, aber nicht menschlich, zu lang in den Gliedmaßen, zu leicht in der Bewegung, zu ruhig in einer Art, die dem menschlichen Körper nicht entsprach.
Seine Konturen verschwammen, als bestünde er nicht aus Fleisch, sondern aus etwas, das sich gegen die Sichtbarkeit wehrte. Der Schatten blieb kurz stehen, genau vor jener Tür, hinter der die Ermittler die Medaillons gefunden hatten. Dann drehte er sich, als würde er die Kamera ansehen. Das Bild flackerte.
Eine Sekunde lang war der gesamte Flur dunkel, danach war der Schatten verschwunden. Die Tür zum Medaillonzimmer stand offen. Als die Ermittler am nächsten Morgen das Material sichteten, brach eine junge Polizistin in Tränen aus. Ein anderer, normalerweise unerschütterlich, verließ abrupt den Raum und mußte sich übergeben.
Bei der anschließenden Analyse konnte kein Techniker irgendeine Manipulation feststellen, kein Schnitt, kein Fehler, kein Stromausfall, nur dieses unmögliche Bildmaterial. Während die Behörden verzweifelt versuchten, eine rationale Erklärung zu finden, verschlechterte sich der Zustand der drei Schwestern zeitgleich drastisch. Klara begann, sich selbst zu verletzen.
Sie ritzte die Spirale tief in ihre eigene Haut, als versuche sie etwas hervorzurufen oder zu beschwören. Mehrmals fand man sie nachts am Boden ihres Zimmers, wie sie die Hände flehend über den Kopf hielt und wimmerte: “Ich weiß, dass du es bist. Ich weiß, dass du mich suchst. Die Ärzte mussten sie fixieren, nicht aus Brutalität, sondern aus purer Notwendigkeit.
Jedes Mal, wenn man sie berührte, schrie sie auf, als würde man eine offene Wunde berühren. Helene dagegen schien mehr und mehr in den Bann einer inneren Vision zu geraten. Sie behauptete, ein zweites Herz zu hören, das im Takt der Schritte im Hof schlage.
Sie erzählte den Ärzten, dass er aus dem Holz kam, aus den Wänden, aus dem Blut der Vergangenheit. “Er gehört zu uns”, sagte sie. Er hat nie aufgehört zu wachsen. Was immer sie meinte, niemand verstand. Doch ihr Ton machte klar, daß sie überzeugt war. Lena schließlich wurde zunehmend schweigsam. Sie hielt sich die meiste Zeit des Tages im Klostergarten auf, ging zwischen den kahlen Bäumen umher und murmelte Gebete, die teilweise durcheinander gerieten.
Die Nonnen sorgten sich immer mehr, denn Lena begann, sich in der Nacht aufzurichten und an die Fenster zu treten, als würde sie draußen etwas sehen. Einmal fragte eine junge Schwester zaghaft: “Was schaust du?” Und Lena antwortete ohne zu blinzeln: “Er hat mich gefunden.” Danach weigerte sie sich, auch nur ein einziges Licht auszuschalten.
Zurelben Zeit vertieften die Ermittler ihre Recherchen in den genealogischen Überlieferungen der Familie Weber. Der Kirchenhistoriker, der hinzugezogen wurde, entdeckte in den alten Notizen des Urgroßvaters Hinweise auf etwas, das wie ein Familienschwur wirkte. Es ging nicht nur um Blutreinheit, es ging um ein Ritual.
Ein Ritual, bei dem ein Erstgeborener gezeichnet werden mußte, um die Reinheit der Linie zu erhalten. In einem der Manuskripte stand: “Ohne Zeichen wird er nicht bleiben. Er geht zurück in die Nacht, aus der er kam.” Die Beamten stellten fest, dass dieselbe Formulierung fast Wort für Wort in den Kritzeleien an Klaras Wand auftauchte.
Niemand wußte, wie sie sie gekannt haben konnte. Doch das Grauen erreichte seinen Höhepunkt, als die Ermittler erneut zum Hof fuhren, um die Kameras zu überprüfen. Dieses Mal fanden sie das Medaillonzimmer in einem Zustand vor, der jedes rationale Denken überstieg. Die Möbel waren verschoben, obwohl niemand im Haus gewesen war.
Auf dem Boden fanden sich kleine Abdrücke, keine Spuren von Schuhen, sondern etwas, das an einen kleinen nackten Fuß erinnerte. oder etwas, das ein Fuß sein sollte, aber die falsche Form hatte. Die Spirale über dem Bett war frisch eingeritzt worden. Das Holz war noch warm. Als der forensische Leiter mit zitternder Stimme den Raum verließ, sagte er nur: “Jemand oder etwas hat hier weitergemacht.
” Und während die Männer spürten, daß ihnen die Sache entglitt, geschah im Klinikum Tübingen etwas, das den Albtraum endgültig in eine neue Dimension hob. Kara, sediert, ruhig gestellt, fixiert, öffnete in der Nacht die Augen und sagte deutlich, laut, mit einer fremden Stimme: “Er ist hier.” Imselben Moment fiel im Hof Sonnenbruck alle Beleuchtung aus.
Ein Beamter schrie. Auf den Kameras war wieder Bewegung. Etwas war in das Haus eingetreten. Etwas, das niemand mehr leugnen konnte. Als im Hof Sonnenbruck die gesamte Beleuchtung ausfiel, versank das Gebäude in einer Dunkelheit, die dichter war als jede gewöhnliche Nacht.
Die Beamten hörten im ersten Moment nur ihren eigenen Atem, dann das Knacken des alten Gebelks. Aber dieses Knacken klang nicht mehr wie das natürliche Seufzen eines alten Hauses. Es war rhythmisch, zielgerichtet, als würde etwas durch die Wände wandern. Einer der jüngeren Polizisten, erst seit wenigen Monaten im Dienst, flüsterte panisch: “Da ist jemand, da ist jemand im Flur.
” Der dienstälteste Beamte, der noch versuchte, Professionalität zu waren, hob die Taschenlampe. Der Lichtkegel erfasste nur Staubartikel und doch glaubten alle, eine Bewegung gesehen zu haben, einen Schatten, viel zu hoch für ein Kind, aber zu schmal für einen Erwachsenen.
Er schien sich zu strecken, zu biegen, als würde er sich an die Wand schmiegen, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Genau in diesem Moment ging im Klinikum Tübingen der Alarm los. Klaras Herzfrequenz schoss in die Höhe. Ihr Körper verkrampfte. Die Pfleger stürzten in ihr Zimmer. Sie lag reglos da, die Augen weit geöffnet, die Pupillen erweitert.
Ihre Stimme klang nicht wie ihre eigene, als sie flüsterte. Er ist gekommen, um mich zu holen. Und dann mit einem Ton, der durch Mag und Bein ging. Er nimmt Gestalt an. Die Ärzte versuchten sie zu beruhigen, doch sie starrte nur auf die Wand, als könnte sie durch die Mauern hindurchsehen. Ihre Lippen bewegten sich in einem monotonen Rhythmus wieder und wieder.
Das Zeichen, das Zeichen, das Zeichen. Währenddessen untersuchten die Beamten am Hof den Stromkasten. Er war unbeschädigt, die Sicherungen intakt. Es gab keinen normalen Grund für den Stromausfall. Doch in dem Moment, indem ein Elektriker seine Hand auf die Metallverkleidung legte, schrie er auf und riss sie zurück. Nicht wegen eines Stromschlags.
Die Verkleidung war eiskalt. nicht kalt im Sinne von Winterkälte, sondern klirrend, schneidend, unnatürlich kalt wie ein Grab. Die Beamten beschlossen, das Haus Raum für Raum zu sichern. Im oberen Stockwerk fanden sie erste Hinweise darauf, dass etwas oder jemand sich bewegt hatte. Im Flur lag ein zerbrochenes Glas.
Auf dem Boden befanden sich kleine Tropfen, die an getrocknetes Blut erinnerten, und an der Wand war eine frische Spirale eingeritzt, identisch mit der, die man an Klaras Arm gefunden hatte. Die Linien waren scharf, fast wütend in das Holz getrieben worden. Als die Beamten das Kinderzimmer betraten, blieb einer abrupt stehen und begann zu zittern.
In der Mitte des Raumes lag eine Decke, sorgfältig zu einem kleinen Bündel gefaltet, exakt so, wie Kara sie im Klinikum festgehalten hatte. Niemand wusste, wie sie hierher gekommen sein konnte, denn sie war seit Tagen im Krankenhaus. Doch sie lag hier und sie war warm. Dr. Berger traf kurz darauf ein, völlig außer sich.
Er untersuchte die Decke, berührte die Falten, hob sie an und ließ sie sofort wieder fallen. Seine Haut war kreidebleich. “Das war kein Zufall”, flüsterte er. “Das ist kein Symbol, keine Einbildung. Jemand hat sie hier abgelegt oder etwas.” Einer der Beamten verlangte, das gesamte Areal abzusichern. Doch noch bevor Anweisungen verteilt werden konnten, hörten sie ein Geräusch aus dem Dachboden. Nicht laut.
Aber eindeutig ein Krabbeln, ein Scharren und dann ein leises Winseln, ein gepresster Laut, der die Männer erstarren ließ. Sie stiegen hinauf, vorsichtig. Jeder schritt ein Kampf gegen das Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Als sie die Dachbodentür erreichten, blieb ein Beamter abrupt stehen.
Sein Blick fixierte die alte Holztür und er flüsterte: “Die Tür. atmet. Tatsächlich wölbte sich das Holz unmerklich vor und zurück, als wäre es lebendig. Lange Sekunden geschah nichts, dann ein lautes Krachen. Die Tür sprang auf. Ein kalter Luftzug bliß Männern entgegen, so heftig, dass zwei von ihnen zurückstolperten.
Die Dachbodenbalken knarrten und irgendwo im Dunkeln hörte man ein leises Lachen. Hoch, kindlich, falsch. Einer der Beamten hob die Lampe. Der Lichtkegel erfasste eine kleine Form, die in der Ecke hockte. Es war ein Bündel, ein Körper, klein, zusammengekauert. Klarer, ein Tier, etwas anderes? Nein, es war eine Puppe. Eine alte verstaubte Puppe mit einem zerrissenen Kleid.
Jemand hatte ihr eine exakt gezeichnete Spirale auf die Brust gemalt. Doch im nächsten Moment fiel die Puppe um, als hätte sie jemand geschupst. Der Beamte, der am nächsten stand, schwor später: “Er habe eine Hand gesehen, die sich im Schatten zurückzog.” Eine kleine Hand, zu klein, zu dünn, zu lang in den Fingern.
Gleichzeitig, exakt in diesem Augenblick, geschah im Sanatorium Hirsau etwas, das die Pfleger in Todesangst versetzte. Helene schrie plötzlich auf, als würde man ihr die Haut abziehen. Sie riß die Augen auf und fauchte. Er hat mich gefunden. Es ist nicht klarer. Er will doch mich. Und im Kloster Lindenweiler fiel Lena auf die Knie, die Hände über den Kopf und keuchte. Er ist nicht tot.
Er war nie tot. Er ist ein Weber, der Hof, die Schwestern, das Schattenwesen. Alles schien miteinander verknüpft auf eine Weise, die niemand verstand. Doch was die Ermittler in der folgenden Nacht im Keller fanden, ließ alle Zweifel verstummen. Es gab dort einen zweiten Raum, einen, den niemand bemerkt hatte und darin lag etwas, das definitiv nicht mehr tot war.
Im Keller des Hofes Sonnenbruck herrschte eine feuchte modrige Stille, die die Luft schwer wie Blei machte. Seit Wochen hatten die Ermittler das gesamte Haus durchsucht, von den Dachbalken bis zu den Stallungen. Doch niemand hatte bemerkt, dass sich hinter einer unscheinbaren Steinwand eine zweite viel ältere Tür verbarg. Erst ein zufälliger Lichtreflex einer Taschenlampe enthüllte eine kaum sichtbare Metallschiene, die auf eine verdeckte Öffnung hinwieß. Hauptmannfels ordnete an, die Wand zu untersuchen.
Nach mehreren Minuten intensiven Drucks schob sich die Steinplatte plötzlich zur Seite. Nicht nach innen, sondern seitlich, als sei sie auf Schienen montiert. Dahinter lag ein niedriger Gang, zu klein für Erwachsene, zu schmal für normale Nutzung. Die Wände waren nicht verputzt, sondern bestanden aus rohen feuchten Steinen.
Der Gang roch nach Erde, altem Eisen und etwas, das entfernt an Blut erinnerte. Die Männer zwangen sich vorwärts, gebeugt, die Lampen dicht an die Brust gepresst. Am Ende des Korridors stießen sie auf eine weitere Tür. Eine Tür aus Holz, schwarz vor Alter, mit einem Riegel, der von innen verschlossen war.
Ihre Herzen schlugen schneller. Jemand oder etwas mußte hier gewesen sein. Hauptmannfels hob die Waffe. Ein Beamter trat die Tür ein. Ein dumpfer Knall, ein Schwall kalter Luft und dann Stille. Sie traten ein. Der Raum war klein, kaum größer als ein Kinderzimmer.
An den Wänden hingen alte Decken, die den Klang schluckten und den Raum erstickend machten. Auf dem Boden lag Stroh, vermischt mit Erde und kleinen Stoffetzen. In einer Ecke stand ein niedriger Holztisch. Darauf lagen drei Gegenstände akkurat nebeneinander. Ein kleines Messer, eine Schale mit eingetrocknetem Rotbraun und ein Bündelstoff. Doch bevor sie näher treten konnten, hörten sie ein Geräusch, ein Rascheln, ein Kratzen, ein Atemzug.
Die Lampen richteten sich auf die dunkle Ecke des Raumes und sie sahen es ein kleines Wesen, zusammengekauert, zitternd, doch nicht tot, nicht einmal bewusstlos. Es hob den Kopf langsam, als wolle es sie erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sein Gesicht lag zur Hälfte im Schatten. Seine Haut wirkte bleich, fast durchsichtig. Die Augen zu groß, zu dunkel, glänzten feucht.
Der Mund war leicht geöffnet, als Röche es schwer. Es war klein wie ein Neugeborenes, aber seine Gliedmaßen waren zu lang, die Finger dünn wie Äste und auf seiner Brust befand sich ein Zeichen, eine Spirale, in die Haut geritzt, frisch. Als die Männer erstarrten, hob das Wesen eine Hand. Keine Drohung, eher eine Bewegung, die an eine Bitte erinnerte.
Ein leises, kratzendes Geräusch kam aus seiner Kehle, ein Laut, der an einen gebrochenen Atemzug erinnerte. Dann geschah alles gleichzeitig. Eine Lampe fiel zu Boden. Das Wesen schrie, ein wütender, hochfrequenter Laut, der wie ein Messer durch die Luft schnitt. Zwei Beamte sprangen zurück. Einer griff nach seiner Waffe.
Doch bevor jemand reagieren konnte, raste das kleine Geschöpf mit unnatürlicher Geschwindigkeit durch die Beine der Männer, stieß die Tür auf und verschwand in dem engen Tunnel. Die Männer stürzten hinterher, doch der Gang halte bereits leer. Sie hörten nur das Echo der eigenen Schritte. Im nächsten Moment schrillten die Funkgeräte aller Beamten gleichzeitig.
Eine Stimme schrie im Obergeschoss, Bewegung, eine Gestalt im Flur. Die Männer rannten, raus aus dem Gang, hoch die Stufen, durch den langen Korridor des Hofes. Sie erreichten den oberen Stock, die Lampen flackerten und dann sahen sie ihn, den Schatten, nicht mehr schämenhaft, sondern dichter, körperlicher. Die Konturen des Wesens hatten mehr Form angenommen, mehr Substanz.
Es stand am Ende des Flurs, hob langsam den Kopf und sah direkt in die Richtung der Männer. Es war klein, aber seine Proportionen waren falsch. Die Spirale auf der Brust glühte schwach im Licht. Als es lautlos einen Schritt zurückwich, spürten die Männer eine Welle eisiger Luft, die den gesamten Flur erfüllte.
Gleichzeitig zur exaktselben Sekunde wachte Klara im Klinikum auf, ohne zu schreien, ohne zu weinen. Sie öffnete nur die Augen und sagte mit ruhiger, klarer Stimme: “Er ist geboren.” Und im Sanatorium schrie Helen: “Es ist vollbracht.
” Lena fiel im Kloster auf die Knie, die Hände vor dem Gesicht und flüsterte nur: “Es hat nie um uns gegangen. Es ging um ihn.” Im Hof begann das Wesen erneut, sich zu bewegen. Es glitt zurück, als sei es auf der Suche nach einem Weg, der noch tiefer ins Haus führte. Die Männer zögerten. Niemand wagte zu schießen. Niemand wusste, was eine Kugel bewirken würde oder ob sie überhaupt etwas bewirken konnte. Das Wesen verschwand im Kinderzimmer.
Als die Beamten es erreichten, war der Raum leer, die Fenster geschlossen, der Boden kalt. Doch auf dem Kopfkissen lag etwas, ein Abdruck. Ein kleiner Abdruck und daneben sorgfältig platziert ein frisch geritztes Zeichen. Die Spirale. Der Fallweber wurde am nächsten Tag endgültig unter Geheimhaltung gestellt.
Die Schwestern blieben für den Rest ihres Lebens in Behandlung. Der Hof Sonnenbruck wurde versiegelt und nie wieder betreten und das Wesen wurde nie gefunden. Doch die Ermittler, die an jenem letzten Tag im Haus waren, erzählten einander bis ans Lebensende dieselbe Geschichte.
Manchmal hörte ich in der Nacht Schritte, kleine Schritte und ich wusste dann, daß er noch irgendwo ist, ein Erbe, der nie hätte leben dürfen. Das Zeichen blieb und das Schweigen auch. M.