Der Fall des ermordeten achtjährigen Fabian aus Güstrow hat nicht nur eine Stadt traumatisiert, sondern auch das deutsche Rechtssystem an seine fundamentalen Grenzen geführt. Inmitten einer kollektiven Wut und Trauer, die sich gegen die dringend Tatverdächtige Gina H. richtet, enthüllte ihr Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt Andreas Om, erstmals Details, die das Verfahren in eine neue, juristisch brisante Dimension heben: Acht prall gefüllte Ordner soll die Staatsanwaltschaft Rostock mit Indizien gegen seine Mandantin zusammengetragen haben.
Diese immense Menge an Material – geschätzt zwischen 1600 und 2400 Seiten detaillierter Ermittlungsarbeit, von Obduktionsberichten und DNA-Analysen bis hin zu Handydaten und Protokollen widersprüchlicher Aussagen – ist für die Öffentlichkeit ein emotionales Signal der Schuld. Die acht Ordner scheinen das Urteil bereits vorwegzunehmen.
Doch genau hier beginnt die tiefgreifende Krise der Rechtsstaatlichkeit, die den kommenden Prozess dominieren wird. Die entscheidende Frage lautet nicht, wie viel Material gegen Gina H. vorliegt, sondern welchen Beweiswert es tatsächlich besitzt. Denn die Verteidigung um Rechtsanwalt Om stellt sich entschlossen gegen die öffentliche Vorverurteilung und zementiert den zentralen Grundsatz des deutschen Strafrechts: Quantität ist nicht gleich Qualität. Ein Indiz ist kein Beweis.
Der Prozess gegen Gina H. wird somit zu einer Probe aufs Exempel des gesamten Justizsystems. Es geht darum, ob ein Gericht im Angesicht massiver öffentlicher Empörung und einer Lawine von Indizien den eisernen Prinzipien treu bleiben kann: in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.

Der Eiserne Wille der Verteidigung und das politische Dilemma
Die Wahl des Pflichtverteidigers Andreas Om, der gleichzeitig Stadtpräsident von Güstrow ist, sorgte von Anfang an für Aufsehen und Kontroverse. Wie kann der höchste politische Repräsentant der Stadt jene Frau verteidigen, gegen die sich die Wut der gesamten Bürgerschaft richtet?
Anwaltskollegen kritisierten öffentlich, dass in einem Fall von solch hoher Betroffenheit ein Verteidiger von außerhalb hätte bestellt werden müssen. Om steckt in einem unentrinnbaren Dilemma: Führt er eine aggressive, engagierte Verteidigung, um die Rechte seiner Mandantin maximal zu wahren, läuft er Gefahr, als Verräter an seiner Stadt gebrandmarkt zu werden. Fährt er eine zu lasche Linie, verletzt er seine anwaltliche Pflicht, was der Mandantin später als Revisionsgrund dienen könnte.
Om hat sich zu dieser Kritik entschieden zu schweigen. Doch seine Äußerung zum Zustand seiner Mandantin, „Es geht ihr nicht gut“, ist mehr als nur eine menschliche Feststellung. Sie könnte der erste, subtile Hinweis auf eine mögliche Verteidigungsstrategie sein, die die Frage der Schuldfähigkeit in den Fokus rückt.
Die Acht Ordner: Eine Indizienkette unter dem Mikroskop
Das Herzstück des juristischen Konflikts sind die acht Ordner voller Indizien. Sie belegen die akribische und intensive Arbeit der Ermittler, die keinen Stein auf dem anderen ließen, um den Tod des achtjährigen Fabian aufzuklären.
Die Ermittler gerieten schon während der viertägigen Suche nach Fabian auf die Spur von Gina H., lange bevor sie angeblich die Leiche fand. Der Grund: Widersprüche in ihren frühen Aussagen.
Für Kriminalisten sind solche Unstimmigkeiten ein Alarmsignal. Wer lügt oder etwas zu verbergen hat, verheddert sich in seiner eigenen Geschichte. Die Ermittler verfolgten diesen Faden und rekonstruierten jeden Schritt von Gina H. Dies führte zur schnellen Festnahme, nur wenige Wochen nach dem Leichenfund, und resultierte in der massiven Datensammlung der acht Ordner:
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Forensische Gutachten (DNA-Spuren in ihrem Auto, Spuren von Brandbeschleuniger in ihrer Garage und auf Kleidung, die mit der Leiche Fabians in Verbindung stehen).
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Digitale Spuren (Das verräterische Telefonat am Morgen des Verschwindens).
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Zeugenaussagen, die ihr Verhalten nach der Trennung und am Tag der Tat beleuchten.
Doch Rechtsanwalt Om hat bereits die rechtliche Kernforderung formuliert: Jedes einzelne Indiz in diesen 2400 Seiten muss einer alternativen Erklärung standhalten. Om wird nicht die Menge, sondern die Lückenhaftigkeit des Materials angreifen. Findet er auch nur für einen zentralen Punkt eine plausible, vernünftige alternative Erklärung, könnte die gesamte Indizienkette reißen. Denn im deutschen Strafrecht genügt es nicht, eine hohe Wahrscheinlichkeit der Schuld zu belegen – die Schuld muss zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Der Rechtsstaat am Scheideweg: Die Macht der Vorverurteilung
Der bevorstehende Prozess ist somit mehr als nur ein Strafverfahren; er ist ein Lackmustest für die Integrität der deutschen Justiz. Die größte Herausforderung für das Gericht wird darin bestehen, die massive Vorverurteilung durch die Öffentlichkeit und die Medien auszublenden.
In einem Fall, der von so viel Schmerz und Empörung geprägt ist, erscheint das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ vielen Menschen als Hohn. Die Gesellschaft verlangt eine schnelle, harte Bestrafung. Die Richter und Schöffen müssen jedoch die Gefühlswelt der Massen ignorieren und sich ausschließlich auf die trockenen Fakten in den acht Ordnern konzentrieren.
Wenn das Gericht dem öffentlichen Druck nachgibt und aufgrund einer emotional aufgeladenen Indizienkette, die an entscheidenden Stellen Lücken aufweist, verurteilt, wäre dies ein fundamentaler Bruch mit der rechtsstaatlichen Tradition.
Die Verteidigung wird versuchen, diese Lücken zu identifizieren und sie zu öffnen. Sie wird fragen:
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Wer kann die Manipulation des Tatortes ausschließen?
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Gibt es eine unbekannte dritte Person, die die Spuren bewusst gelegt hat, um Gina H. zu belasten? (Thema früherer Analysen).
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Ist die forensische Beweisführung wirklich lückenlos, oder wurden Spuren durch unsaubere Sicherung kontaminiert?
Die Existenz der acht Ordner zementiert zwar den dringenden Tatverdacht, doch sie zwingt das Gericht gleichzeitig zu einer beispiellosen Sorgfalt. Die Verteidigung hat in diesem Kontext eine herausragende Bedeutung, denn sie schützt nicht nur die Rechte der Angeklagten, sondern auch die Integrität des Rechtssystems selbst. Ohne eine harte, kritische Verteidigung kann keine gerechte Verurteilung erfolgen.
Die Letzte Linie: Verminderte Schuldfähigkeit
Sollte Rechtsanwalt Om nach Sichtung der acht Ordner zur Überzeugung gelangen, dass ein Freispruch nicht realistisch ist, bleibt als letzte Verteidigungsstrategie die Argumentation der verminderte Schuldfähigkeit.
Die Aussage „Es geht ihr nicht gut“ deutet auf diesen Weg hin. Hierbei wird die Tat nicht geleugnet, sondern die Schuldminderung aufgrund einer psychischen Störung zum Tatzeitpunkt geltend gemacht. Im deutschen Recht gilt: Wer krank ist, gehört behandelt, nicht nur bestraft. Ein psychiatrisches Gutachten müsste nachweisen, dass Gina H.s Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tötung Fabians erheblich beeinträchtigt war.
Für Gina H. wäre dies ein strategischer Weg, um einer regulären Haftstrafe zu entgehen und eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung zu erwirken – eine Option, die für die Angehörigen Fabians emotional kaum zu ertragen wäre. Es wäre ein Urteil, das zwar die Täterschaft anerkennt, aber die volle moralische und juristische Verantwortung durch die psychische Komponente relativiert.
Für die Gesellschaft ist dies die schmerzhafte Konsequenz der Humanität des Rechtsstaates. Das Gesetz muss auch im Angesicht eines grausamen Verbrechens die Grundrechte und die psychische Verfassung des Täters berücksichtigen.
Fazit: Der Preis, den die Gesellschaft zahlt
Der Mordprozess um Fabian wird zeigen, wie stark die Säulen des deutschen Rechtsstaates wirklich sind. Die Menge der Indizien in den acht Ordnern ist erdrückend, aber sie darf die Richter nicht zur Abkehr vom Prinzip in dubio pro reo verleiten.
Die Justiz steht vor der gewaltigen Aufgabe, inmitten einer Welle der Empörung Sorgfalt, Fairness und juristische Präzision zu bewahren. Der Preis, den die Gesellschaft für diesen funktionierenden Rechtsstaat zahlt, ist bisweilen hoch: Er äußert sich in der Frustration über die Komplexität der Beweisführung, dem politischen Dilemma des Verteidigers und der möglichen milderen Konsequenz durch die Anerkennung verminderter Schuldfähigkeit.
Der Fall Fabian wird in die Rechtsgeschichte als Beispiel dafür eingehen, wie ein Gericht die Integrität des Gesetzes verteidigen musste, selbst wenn dies dem Gerechtigkeitsempfinden der Öffentlichkeit zuwiderlief. Am Ende zählen nicht die emotionalen Schlagzeilen, sondern die lückenlose Beweisführung – die Wahrheit, die jenseits jedes vernünftigen Zweifels in den acht Ordnern verborgen liegt.