Das Phänomen des maskierten Chemikers
Dank der ausführlichen Beobachtungsgabe des Opfers selbst und weiterer Zeugen liegt der Mordkommission eine der detailliertesten Täterbeschreibungen der Kriminalgeschichte vor:
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Alter/Statur: Etwa 40 bis 50 Jahre alt, 1,75 bis 1,85 m groß, sehr schlanke, hagere Statur.
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Gesicht: Hagere Züge, markante Wangenknochen, leicht gebräunt, auffallend trockene Haut mit leichten, fast pockennarbigen Narben (wie nach abgeheilter Akne), schmale Lippen. Ein großes beigefarbenes Pflaster auf der rechten Wange.
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Kleidung: Basecap mit weißer Schrift, Sonnenbrille, verwaschene hellblaue Jeans, schwarz glänzende Lederjacke mit buntem Bund an Ärmeln und Gürtellinie.
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Waffe: Der schwarze Regenschirm.
Diese Präzision sollte eigentlich Mut machen, doch die Spur führte ins Nichts. Die Ermittlungen wurden 2013 eingestellt – auch weil die Polizei die Selbstmord-Theorie nicht ausschloss.
Der Skandal der verpassten Chance
Ein gravierender Fehler von 2011 wird erst Jahre später bekannt: Die Polizei unterließ eine Funkzellenauswertung des Tatorts. Christoph Bulwin hatte ausgesagt, der Täter habe telefoniert. Hätte man damals die Daten der Mobilfunkmasten ausgewertet, hätte der Kreis der potenziellen Verdächtigen minimiert werden können.
Ein weiterer Grund für die Einstellung war die zunächst vermutete “Freitod-Theorie”. Bulwin hatte kurz zuvor eine Lebensversicherung abgeschlossen, und DNA-Spuren am Klebeband der Spritze wurden fälschlicherweise ihm zugeordnet, was darauf hindeutete, er könnte die Waffe selbst gebaut haben.
Doch genau hier setzen die neuen, brandheißen DNA-Untersuchungen aus dem Jahr 2023 an:
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Widerlegung des Suizids: Die DNA am Klebeband der Tatwaffe ist eindeutig nicht die von Christoph Bulwin. Die Selbstmord-Theorie ist damit vom Tisch.
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Neue Helfer: Die Analyse enthüllte mindestens zwei weitere, männliche DNA-Spuren an der Spritze. Dies deutet auf mögliche Helfershelfer hin. Der Täter handelte möglicherweise nicht allein, was die Komplexität des Falles weiter erhöht.
Die Spur zum “Pausenbrot-Mörder” und die Beobachtung
Die Wiederaufnahme des Falls ist dem sogenannten “Pausenbrot-Mörder” aus Bielefeld zu verdanken. Zwischen 2016 und 2018 vergiftete dort ein Mann namens Klaus O. Arbeitskollegen mit verschiedenen Substanzen, darunter ebenfalls Methylquecksilber. Obwohl eine DNA-Verbindung zwischen Klaus O. und den neuen Spuren im Fall Bulwin ausgeschlossen wurde, war die seltene Wahl des Giftes Anlass genug, die Ermittlungen in Hannover erneut aufzurollen.
Eine neue Aussage erhält zudem im Lichte der Wiederaufnahme neue Brisanz: Eine Zeugin berichtete im Zuge der Vorstellung des Falles bei Aktenzeichen XY ungelöst (2022), sie habe den Täter zwei bis drei Wochen vor der Tat am Hinterausgang der IG BCE herumlungern sehen. Der Mann habe sie sogar wegen ihres Hundes angeschnauzt und sei ihr deswegen im Gedächtnis geblieben.
Diese gezielte Beobachtung spricht gegen die Verwechslungstheorie, bei der Christoph Bulwin ein reiner Zufallsopfer war, das für einen anderen Mitarbeiter gehalten wurde. Es impliziert, dass Bulwin selbst das Ziel war, was die Frage nach dem Motiv umso drängender macht.
Rache, Geheimdienst oder doch Zufall? Die Motive
Wenn die Tötung von langer Hand geplant war, warum traf es den unauffälligen IT-Mitarbeiter?
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Rache an der IG BCE: Die häufigste Theorie ist, dass der Täter ein ehemaliger Klient oder Mitarbeiter aus dem Chemie- oder Bergbausektor war, der sich von der Gewerkschaft im Stich gelassen fühlte und Rache nehmen wollte. In diesem Szenario wäre Bulwin möglicherweise ein leicht zugängliches, aber zufälliges Ziel innerhalb der Organisation gewesen.
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Der Geheimdienst-Aspekt: Die Parallele zum Bulgarischen Regenschirm-Mord von 1978 in London ist unheimlich. Damals wurde der Regimekritiker Georgi Markow mit dem Pflanzengift Rizin durch einen präparierten Regenschirm ins Bein gestochen. Der Täter war der bulgarische Geheimdienst. Obwohl die Ermittler eine direkte Geheimdienstverbindung in Hannover für unwahrscheinlich halten, zeigt der Fall Markow, dass die Methode der Regenschirm-Spritze eine erprobte und perfide Technik für politische Morde ist.
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Das Darknet-Rätsel: Eine spekulative Theorie besagt, Bulwin könnte sich als IT-Experte im Darknet herumgetrieben und sich dort Feinde gemacht haben. Dafür gibt es jedoch keine stichhaltigen Beweise.
Die neuen DNA-Spuren bieten nun die größte Hoffnung. Die Ermittler können das Material mit globalen Datenbanken abgleichen und das Täterprofil schärfen. Obwohl fast 15 Jahre vergangen sind, ist die Chance, den oder die Verantwortlichen für diesen einzigartigen und qualvollen Mord zu fassen, dank neuer kriminaltechnischer Möglichkeiten größer denn je.
Die Frage bleibt: Wer war der maskierte Chemiker mit dem Regenschirm? Und wer half ihm dabei, ein so seltenes und tödliches Gift in die belebte hannoversche Innenstadt zu bringen? Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Die Mordkommission bittet weiterhin um Hinweise aus der Bevölkerung.