Schlicht, unbeweglich, ein stilles Herz aus Marmor, das die Namen trug wie Atemzüge der Geschichte. In den 70er Jahren begannen Historiker den Fall Kern erneut zu untersuchen, diesmal mit den Mitteln der modernen Psychologie. Die Universität München richtete ein Forschungsprojekt ein, das sich mit der Psyche des systematischen Täters beschäftigte.
Die Professoren verglichen Wilhelms Aufzeichnung mit modernen Fallstudien über Gewalt, Macht und Wahn. Das Ergebnis war erschütternd. In einem Bericht stand: “Wilhelm Kern war kein Wahnsinniger, er war ein Rationalist ohne Moral. Sein Denken zeigt eine frühe Form des biologischen Fanatismus. Die Idee, der Mensch könne wie Vieh verbessert werden.
” Der Mangel an Empathie war nicht Krankheit, sondern Entscheidung. In dieser Zeit wurde das Lederbuch erstmals aus dem Archiv genommen und wissenschaftlich analysiert. Man stellte fest, daß die Tinte aus einer seltenen Mischung bestand, die Wilhelm selbst hergestellt hatte, aus Ruß, Galläpfeln und Öl. Die Schrift war präzise, rhythmisch, fast schön und gerade darin lag ihr Schrecken.
Jede Linie war Ausdruck von Kontrolle. Die Forscher fertigten eine Faximile Ausgabe für das Archiv an, doch das Original blieb verschlossen. Nur wenige durften es ansehen. Einer von ihnen, der junge Historiker Thomas Müller, schrieb später in seinem Tagebuch: “Ich habe in den Abgrund geblickt und sah Ordnung.
Das war das Schlimmste. Währenddessen wurde Luzindes Vermächtnis weitergetragen. Frauenbewegungen in den 70er Jahren griffen ihre Geschichte auf, sahen in ihr ein Symbol für Unterdrückung, aber auch für Widerstand. In München gründete sich ein Hilfsverein unter dem Namen Luzinde, der misshandelten Frauenschutzboot.
An der Wand des Hauses hing ein Satz aus ihrem Buch. Ich weinte nicht, um Mitleid zu finden, sondern damit die Welt hört, daß man weinen kann und doch überlebt. Auch in der Kunst fand der Fall neuen Ausdruck. Eine Malerin aus Augsburg schuf eine Reihe von Gemälden mit dem Titel 44 Ketten, 42 für die Toten, eine für Luzinde, eine für das Schweigen.
Die Bilder hingen später im Stadtmuseum, schwarz, grau, mit weißen Linien. die wie Risse wirkten. Die Besucher standen stumm davor. In denziger Jahren wurde der Ort der ehemaligen Zuchtscheune unter Denkmalschutz gestellt. Nur noch die Grundmauern waren sichtbar, überwachsen von Moos. Die Gemeinde Sondhofen errichtete einen kleinen Pavillon mit Tafeln, auf denen die Geschichte erzählt wurde.
Eine davon zeigte ein Zitat von Kommissar Burg. Das Böse versteckt sich selten im Dunkel. Es steht im Licht und trägt saubere Hände. Schulklassen kamen, legten Steine nieder. Lehrer erklärten, was geschehen war. Jedes Kind kannte die Namen und jedes Jahr am 23. Oktober läuteten die Glocken in allen Kirchen des Ortes.
Man nannte den Tag nicht mehr Gedenktag der Opfer, sondern Tag der Wahrheit. In den folgenden Jahren wurde die Geschichte in Deutschland zum festen Bestandteil der Erinnerungskultur. Autoren schrieben Theaterstücke, Hörspiele, Romane. Einige wollten die psychologische Tiefe erforschen, andere einfach die Menschlichkeit bewahren. Doch niemand versuchte, das Grauen zu mildern.
Es wurde erzählt, wie es war: kalt, geordnet, unbegreiflich. In den Archiven fand man weitere Spuren, Rechnungen über Zeitungsanzeigen, Quittungen über Stoff und Eisen, die Wilhelm gekauft hatte. Alles, was er tat, war dokumentiert, registriert, archiviert. Die Präzision des Bösen, die Ordnung des Grauens.
Eine Zeitung schrieb im Jahr 1983 genau hundert Jahre nach Luzindes Flucht. Ein Jahrhundert später hallen ihre Schritte noch immer durch das Algu. In diesem Jahr fand eine große Gedenkfeier statt. Der Bundespräsident sandte eine Botschaft, in der er schrieb: “Die Geschichte von Luzinde Gerhard lehrt uns, daß Gerechtigkeit erst dort beginnt, wo das Schweigen endet.
Bei der Feier trug eine junge Frau Luzindes Worte aus ihrem Buch vor, in denen sie beschreibt, wie sie in der Nacht des Brandes durch den Wald lief. Barfuß, frierend, aber lebend. Als sie endete, herrschte eine Minute völliger Stille. Dann sang der Chor das Lied: “Wer nur den lieben Gott, läßt walten.