Doch die bewegendste Rede hielt eine junge Studentin. Sie sagte: “Ich bin 19 Jahre alt, so alt wie viele von ihnen. Ich bin frei, weil sie gefesselt waren. Ich habe eine Stimme, weil sie geschwiegen haben. Ich erinnere mich, weil ich lebe.” Nach diesen Worten stand der ganze Saal auf. Niemand klatschte, niemand sprach.
Sie standen einfach in Stille, gemeinsam. Als die Glocken von Sondhofen Mitternacht schlugen, leuchteten die Namen noch immer über dem Tal, golden im Nebel, wie Sterne, die sich weigerten zu verlöschen. Und wer in jener Nacht dort war, vergaß es nie. Es hieß später: “Die Luft habe nach Regen gerochen und irgendwo habe man das leise Schlagen eines Hammers gehört.
Wie ein Echo, das endlich Frieden fand. Heute mehr alszig Jahre nach jener Flucht durch die Wälder des Algu steht die Geschichte von Luzinde Maria Gerhard und den Brüdern Kern nicht mehr nur in Archiven, sondern im Bewusstsein eines ganzen Landes. Der Pavillon aus Glas in Sondhofen ist kein Ort des Schreckens mehr, sondern ein Ort des Nachdenkens.
Wenn der Morgennebel vom Tal aufsteigt und das Licht durch die Wände fällt, sieht man die Namen auf dem Boden wie Schatten aus Gold. Schulklassen kommen, alte Menschen, Fremde, aus aller Welt. Manche bringen Blumen, andere legen kleine Steine auf die Messingplatten, so wie man es auf jüdischen Friedhöfen tut.
Ein leises Rascheln von Papier und das Flackern der Kerzen mischen sich mit dem Wind, der aus den Bergen herabkommt. Manchmal hört man jemanden sagen, ich habe sie gehört. Und niemand fragt, wen er meint. Im Gemeindehaus von Sondhofen hängt heute ein Portrait von Luzinde. Es zeigt sie nicht jung, nicht schön, sondern wahr.
Ihr Blick ist ruhig, fast streng und unter dem Bild steht ein Satz, der von ihr selbst stammt. Die Wahrheit ist kein Schrei, sie ist ein Schritt. Daneben hängt ein Zitat von Kommissar Friedrich Burg. Man kann das Böse nur besiegen, indem man es beschreibt. Zwischen diesen beiden Sätzen liegt alles, was Menschen lernen mussten, dass Erinnerung nicht Schmerz ist, sondern Verantwortung. Jedes Jahr am 23.
Oktober werden in allen Schulen Bayern Kerzen entzündet. Die Lehrer erzählen die Geschichte nicht um Angst zu machen, sondern um Mut zu lehren. Sie lesen aus Luzindes Buch: “Ich lief durch den Wald und hinter mir brannte die Hölle, aber vor mir lag der Morgen. Danach wird eine Minute geschwiegen.
Manche Schüler schauen aus dem Fenster, wo Nebel über den Hügeln hängt und verstehen vielleicht zum ersten Mal, dass Geschichte nicht vergeht.” In München, im Museum für Menschheitsgeschichte, steht in einer Vitrine das Original des Lederbuches, das Wilhelm Kern schrieb. Es liegt offen, Seite für Seite beschriftet, in der gleichen kalten ordentlichen Schrift. Daneben liegt ein anderes Buch. Luzindes Bericht in vergilbtem Papier mit brüchigem Einband.
Zwei Bücher, zwei Hände, zwei Wahrheiten. Ein Schild dazwischen trägt die Worte. Das Böse schreibt, die Wahrheit antwortet. Besucher bleiben lange davor stehen. Manche weinen, andere schreiben in das Gästebuch: “Nie wieder soll Ordnung ohne Herz herrschen.” Im Jahr 2044 zum 160.
Jahrestag der Ereignisse wird in Sondhofen ein neues Forschungszentrum eröffnet werden, das also Institut für Erinnerungsethik Luzinde Gerhard. Es soll lehren, wie man Geschichte bewahrt, bevor sie sich wiederholt. Dort werden Kinder lernen, wie man Archive liest, wie man Zeugen zuhört, wie man Dokumente bewahrt. Aber vor allem sollen sie lernen, warum man hinschauen muss, wenn das Schweigen bequem wird.
Die Berge des Allus sind heute friedlich. Wo einst die Zuchtscheune stand, wachsen Wiesenblumen und im Sommer summen die Bienen. Nur ein einziger Stein erinnert daran, was war. Darauf steht schlicht: “Hier endete der Wahn. Hier begann das Mensch sein.” Wenn der Wind vom Tal heraufzieht, streift er über diesen Stein, über das Glas, über die Namen.
Und manchmal klingt es wie ein Flüstern. Kein Schrei, kein Wein, sondern etwas sanftes, friedliches. Vielleicht ist es das Echo jener Frau, die einst barfuß durch den Nebel lief und nicht aufhörte, an das Licht zu glauben, denn das ist was bleibt. Ein Mensch, der sich erinnert, ein Ort, der nicht vergisst und eine Wahrheit, die lebt, solange jemand sie ausspricht. M.