Erster Zyklus im Februar. Unfruchtbar. Zweiter Zyklus im März. Unfruchtbar. Dritter Zyklus im April. Unfruchtbar. Beseitigt am 3. Juni 1877. Verlust verbucht. Erkenntnis. Auswahl künftiger Subjekte bevorzugt jung und vom Lande. Die Schrift war ruhig, gleichmäßig, sachlich. Kein Zorn, kein Bedauern, nur Buchführung. Ein Mord als Verwaltungsakt.
Seite um Seite füllten sich mit Namen, Zahlen, Beschreibungen. Frauen, jeder einzelnen erfasst. Herkunft, Kosten, Stallnummer, Zyklus, Ergebnis. Am Rand standen Bemerkung, untauglich, verweigert Nahrung. Produktiv, Geburt im achten Monat, Kind beseitigt. Neigung zu Melancholie, nutzlos.
Drei Einträge trugen die Worte: “Geburt erfolgreich, doch darunter jeweils: Kind beseitigt mit Mutter wegen Blutreinheitsbedenken. Ostdeutsche Herkunft minderwertig für Programm. Burg blätterte seitenweise, las, verstand, das war kein Warn, das war Berechnung. Wilhelm hatte sich selbst zum Schöpfer einer neuen Zuchtordnung erhoben.
In den Zwischenzeilen standen Notizen: “Der Mensch ist Tier, das man verbessern muß. Nur die Tüchtigen dürfen sich fortpflanzen. Gott will, dass wir auswählen wie beim Vieh.” Es war das Denkmal eines kranken Geistes und zugleich das perfekte Beweismittel. Burg ließ das Buch fotografieren, jedes Blatt dreifach abschreiben und sandte das Original in einem versiegelten Holzkasten nach München, wo es später als Beweisstück I1 im Prozess dienen sollte.
Die Presse bekam bald Wind von der Sache. Zeitung in München, Leipzig, Berlin schickten Korrespondenten. Sie berichteten von der Zuchtscheune im Allgäu und den Brüdern Kern, den Bestien in Menschengestalt. Die Öffentlichkeit war erschüttert. Manche forderten die Todesstrafe. Andere glaubten nicht, daß solche Taten in einem christlichen Land möglich sein.
Doch die Beweise waren erdrückend, unwiderlegbar, sorgfältig dokumentiert vom Täter selbst. Das Böse hatte Buch geführt und sich selbst verraten. Im Dezember des Jahres 1883 war der Schnee früh gefallen und das Algu lag still. unter einer weißen Decke. Doch in München herrschte Bewegung wie selten zuvor.
Im Justizpalast liefen die Vorbereitungen für den größten Mordprozess der bayerischen Geschichte. Der Staatsanwalt Dr. Heinrich Hackel, ein Mann von 50 Jahren mit strengem Gesicht und Sinn für Gerechtigkeit, hatte 37 Kisten mit Beweismaterial anliefern lassen. Kleidung der Opfer, das Lederbuch, Fotografien, Briefe, Ketten, persönliche Gegenstände. Das Verfahren sollte am 12.
Februar des Jahres 1884 beginnen. Die Stadt war erfüllt von Gerüchten. Zeitungen veröffentlichten Zeichnungen der Scheune, Spekulationen über die Zahl der Opfer, Berichte über die Brüder, die sich wie Engel gaben und wie Teufel handelten. Familien aus ganz Deutschland reisten an, um zu erfahren, ob ihre verschwundenen Töchter unter den Namen im Buch standen.
Der Gerichtssaal wurde wegen der Menschenmenge in das größere Gebäude des Landgerichts verlegt. 200 Zuschauer passten hinein, 300 standen draußen und warteten. Auf der Anklagebank saßen Wilhelm und Albrecht Kern, bleich in einfachen Wollhemden, gefesselt, aber gefasst. Der Ältere blickte ruhig in den Saal. Der Jüngere starrte auf den Boden, die Hände verkrampft.
Richter war Markus Weidenfeld. Ein erfahrener Jurist mit zwölf Jahren Dienstzeit, bekannt für seine klare Sprache. Er eröffnete das Verfahren mit den Worten: “Vor diesem Gericht steht nicht das einfache Verbrechen, sondern die systematische Verachtung des Menschlichen. Wir werden hören, wie Ordnung zur Waffe wurde.
” Der erste Zeuge war Luzinde Gerhard, die einzige Überlebende. Sie trat in den Saal, das Gesicht blass, das Haar ordentlich zurückgebunden in einem dunklen Kleid, das ihr eine Wohltätigkeitsvereinigung aus München gegeben hatte. Sie verbeugte sich leicht vor dem Richter und begann zu sprechen. Ihre Stimme war ruhig, fast le, als spräche sie über etwas, das ihr nicht selbst wiederfahren war.
Sie erzählte von der Anzeige, dem Briefwechsel, der Reise, dem Empfang durch Wilhelm, dem Versprechen einer Hochzeit. Dann von jener zweiten Nacht, in der Albrecht sie überfiel, sie fesselte, Wilhelm ihr sagte, sie sei gekauft und sie in die Box brachte. Er sprach, als wäre es selbstverständlich, sagte sie. Er nannte mich Stück Nummer 6.