Einige Frauen wichen zurück. Der Schafrichter trat vor und zog ihm die schwarze Kapuze über den Kopf. Albrecht blieb stumm, doch seine Augen blickten noch einmal in den Himmel, ehe das Tuch auch über sein Gesicht fiel. Der Schafrichter gab das Zeichen.
Zwei Falltüren öffneten sich gleichzeitig, zwei Körper stürzten, zwei Seile spannten sich mit einem dumpfen Krachen. Der Tod war sofort. Der Arzt prüfte die Pulse, wartete acht Minuten und erklärte dann beide für Tod. Die Menge blieb still, niemand jubelte. Nur ein leises, gemeinsames Aufatmen ging durch die Reihen wie Wind, der durch Kornfelder zieht.
Die Körper blieben sechs Stunden hängen, so verlangte es die Sitte. Danach legte man sie in einfache Holzkisten, beschriftet nur mit Zahlen, und brachte sie zum Gefängnisfriedhof. Kein Grabstein, kein Name, keine Gebete. Man grub sie nebeneinander ein, zwei gruben im feuchten Boden. So endete das Leben der Brüder Kern.
Zwei Männer, die geglaubt hatten, Herren über das Leben zu sein und selbst zum warnenden Beispiel wurden. Am Abend des Hinrichtungstages läuteten die Kirchenglocken von München. In Sondhofen versammelten sich die Dorfbewohner im stillen Gebet. Manche sagten sie hätten in der Nacht Stimmen gehört, die durch den Nebel riefen. Flüstern der Seelen, die nun endlich Ruhe fanden. Doch für Kommissar Borg war die Arbeit noch nicht vorbei.
Er musste seinen Abschlussbericht schreiben. Auf 30 Seiten fasste er alles zusammen. Von Luzindes Flucht bis zur letzten Stunde der Täter. Dieser Fall, schrieb er, beweist, daß das Böse nicht im Schatten entsteht, sondern im Licht des Verstandes.
Jeder, der glaubt, Vernunft könne das Herz ersetzen, wird selbst zum Werkzeug des Teufels. Die Schrift war ihr stolz und sie wurde ihr Strick. Das Dokument wurde zum Urteil, der Feder strich zum Galgen. Sein Bericht ging in die Akten der königlichen Kriminalpolizei ein, wo er noch heute aufbewahrt wird. Zwei Jahre später errichtete die Stadt Sondhofen auf dem Kirchhof ein steinernes Denkmal.
Darauf standen die Namen derzig Frauen, eingraviert in Marmor, umgeben von einem Kranz aus Eisenblumen. In der Mitte die Inschrift, zur Erinnerung an jene, die in der Zuchtscheune der Brüder Kern ihr Leben ließen. Ihr Leiden brachte Wahrheit ans Licht, ihr Tod brachte Gerechtigkeit. Jedes Jahr am 23.
Oktober, dem Tag, an dem Luzinde entkam, kamen Menschen dorthin. Sie legten Kerzen nieder, sangen Korle und lasen die Namen laut, einer nach dem anderen, damit niemand vergessen wurde. Luzinde selbst wohnte wieder in Leipzig. Sie heiratete einen Buchhalter namens Samuel Moritz, bekam drei Kinder und schrieb ein Buch über ihre Erlebnisse. Sechsunder Tage in der Zuchtscheune.
Der Erlös ging an Frauenhäuser in Bayern und Sachsen. Sie lebte bis ins hohe Alter und starb im Jahr 1934 sanft im Schlaf, umgeben von ihren Enkelkindern. In ihrem Nachlass fand man einen kleinen Zettel. Darauf stand: “Gott hat mir das Leben zweimal gegeben, einmal bei meiner Geburt und einmal, als ich aus der Hölle floh. Und unten in zitternder Schrift: “Verge die anderen nicht.
” Der Hof der Brüder Kern wurde im Jahr niedergerissen. Die Familien der Opfer kamen aus allen Teilen Deutschlands, um die Mauern eigenhändig zu zerstören. Mit Hämmern, chten, bloßen Händen schlugen sie auf die Balken ein, bis alles zu Staub zerfiel. Danach legten sie Blumen auf die Erde und Farer Kräer sprach ein Gebet. Wo Sünde wohnte, soll nun Frieden keimen.
An dieser Stelle steht heute ein Gedenkstein, darauf eingraviert: Hier starben 42 Frauen. Eine überlebte, damit die Wahrheit leben konnte. Nach der Hinrichtung der Brüder Kern schien das Land endlich aufzuatmen, doch die Schatten ihres Verbrechens blieben. Wochenlang schrieb man in den Zeitungen über die Folgen.
Die Augsburger Allgemeine forderte Gesetze gegen betrügerische Heiratsanzeigen. Die Münchener Post druckte eine Liste vermisster Frauen, um mögliche weitere Opfer zu finden. Die Briefe von Lesern überschwemmten die Redaktion. Väter, Brüder, Freundinnen, die hofften oder fürchteten, einen Namen in dem Buch der Toten wiederzufinden. Aus den Städten kamen Wissenschaftler, um zu studieren, was geschehen war.