Einige Gäste prsten die Hände auf ihre Ohren, doch die Stimmen drang durch jede Barriere. Es war keine Sprache, es war ein Gefühl in Form von Klang. Das Gefühl des unausweichlichen Schicksals. Sophie stand nun beinahe in der Mitte des Saals, umgeben von zerbrochenen Gläsern und umgestürzten Stühlen. Ihre Haltung war die eines Menschen, der nichts mehr fürchten musste.
Nicht, weil sie mächtig war, sondern weil ihr nichts mehr genommen werden konnte. Sie hatte alles verloren, lange bevor die Nacht begonnen hatte, und deshalb konnte ihr die Nacht nichts mehr stehlen. Die Gäste, die noch bei Bewusstsein waren, begannen sich von ihr wegzudrängen. Niemand sprach es aus, doch jeder spürte, dass sie der Mittelpunkt des Geschehens war.
Das Auge des Sturms, die Quelle der Stille, der Spiegel, der ihnen ihre eigenen verzerrten Gesichter zeigte. Doch keiner wagte, sie anzufassen. Nicht, weil sie furchteinflößend wirkte, sondern weil sie nicht mehr zu dieser Welt gehörte, jedenfalls nicht zu der Welt, die der Saal noch vor wenigen Stunden gewesen war. Ein Gast, ein Mann von vielleicht 50 Jahren, dessen Wams nun an mehreren Stellen aufgerissen war, hob die Hand und deutete auf Sophie.
Sein Arm zitterte unaufhörlich, seine Stimme brach wie morsches Holz. Das das warst du. Er sprach die Worte nicht als Frage. Es war eine Erkenntnis, die ihm aus dem Inneren heraus entrissen worden war. Das bist du. Mehr brachte er nicht hervor. Seine Knie gaben nach und er fiel auf den Boden.
Jemand anders begann zu schreien. Ein Schrei aus purer Existenzangst, der so schrill war, daß die Kerzenflammen flackerten, als wollten sie er löschen. Doch Sophie reagierte nicht. Sie sah ihn nicht einmal an. Stattdessen wandte sich ihr Blick langsam zur Wand neben dem Kamin. Die Schatten dort bewegten sich erneut, doch diesmal formten sie keine gesichtslosen Figuren.
Die Silhouetten wurden schärfer, klarer. Es waren nicht mehr die Gestalten der Vergangenheit, sondern die der Gegenwart, die Schatten der Gäste selbst, ihre Körper verzerrt, ihre Seelen entblößt. Man erkannte die Form von Herrn Friedrich, wie er einen Diener schlug. Die Gestalt von Elisabeth, wie sie eine Magt verhöhnte.
Johann, der einen kleinen Jungen zu Boden stieß. Kara, die eine Katze trat. Lukas, der lachte, während jemand weinte. Es waren keine übernatürlichen Visionen, es waren Erinnerungen, ihre eigenen. Doch nie zuvor hatten sie sie gesehen. Die Schatten spielten sie vor ihnen ab wie ein Reigen aus Sünden.
Und das Haus, das Jahrzehntelang geschwiegen hatte, schien nun jedes einzelne Bild mit Genuss zu zeigen. Herr Friedrich begann zu wimmern, tief, tierähnlich. Bitte, bitte, es reicht. Aber es reichte nicht, noch lange nicht. Ein weiterer Schatten formte sich, größer, dunkler, die Umrisse einer Frau. Sophie.
Man sah sie in all den Momenten, die sie ertragen hatte, wie sie knien den Boden schrubte, während Friedrich über sie hinwegsah, wie Elisabeth ihr heißes Wasser über die Hände goss, wie die Kinder ihr hab und Gutstahlen und lachten. Es waren nicht die Taten, die die Gäste am meisten erschütterten. Es war das Schweigen. Das Schweigen, dass sie durch all diese Szenen begleitete. Das Schweigen einer Frau, die nicht aufgab und die heute nicht vergab.
Ein Geräusch wie ein Riss fuhr durch den Raum. Es war das Knarren der großen Balken in der Decke. Sie bewegten sich nur ein paar Millimeter, doch jeder hörte es. Der Saal atmete. Einige Gäste schrien erneut, andere versuchten unter die Tische zu kriechen. Manche beteten laut, als wollten sie Gott mit ihrer Verzweiflung erpressen.
Sopie tat nichts. Sie stand dort, aufrecht inmitten des Tobens. Sie schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, nahm der Raum eine neue Gestalt an. Es begann mit einem Flüstern. Dieses Mal kam es nicht aus den Wänden, nicht aus den Schatten. Es kam aus den Gästen selbst, aus ihren Kehlen. Zuerst hörte man es nur bei einem von ihnen, ein brüchiges, tonloses Murmeln, dann bei zwei, dann bei dreien.
Und plötzlich sprach der ganze Saal im Chor: Kein Gebet, kein Schrei, sondern ein Satz, kaum mehr als ein Hauch. Wir haben es gewusst. Einige hielten sich sofort den Mund zu, als hätten sie sich selbst verraten. Doch es war zu spät. Der Satz war gesprochen und die Wahrheit war nun frei. Sophie öffnete den Mund. Nicht weit, nicht auffällig, nur ein wenig.