Sie schmeckte nach Metall und Asche, nach etwas Altem, das nie hätte geweckt werden dürfen. Die Gäste waren starr vor Angst. Jeder Atemzug schien eine Qual zu sein. Manche bewegten die Lippen, als wollten sie flüstern. Doch kein Laut kam heraus. Andere zitterten unkontrolliert, als würde etwas Kaltes durch ihren Körper wandern. Und dann begann der Saal zu reagieren.
Nicht das Haus, sondern der Saal selbst als eigenständige uralte wache Struktur. Die Kerzenflammen zogen sich lang, als würden sie nach etwas greifen. Die Schatten krochen nicht mehr nur über die Wand, sie senkten sich auf den Boden, wie dunkle Finger, die tastend nach Schuld suchten. Ein leises, tiefes Summen erfüllte die Luft. Es klang nicht wie ein Geräusch von Menschen.
Es war tiefer, gleichmäßiger wie das ferne Grollen eines Gewitters oder das Brummen eines gigantischen Tieres. Einige Gäste sackten zusammen und hielten sich die Ohren zu. Andere drehten die Köpfe hin und her, unfähig zu erkennen, woher der Klang kam. Friedrich versuchte erneut aufzustehen, doch seine Beine versagten.
Sein Körper war schwer wie Stein, seine Stimme nur noch ein Flüstern. Bitte aufhören”, hauchte er, aber nichts hörte auf, denn nichts hatte begonnen, um ihnen zu dienen. Es war begonnen, um sie zu richten. Die Schatten am Boden formten nun dunkle Linien, die langsam auf die Familie zuliefen. Wie Wasser, das sich seinen Wegberg abbahnt, wie Blut, das zu seiner Quelle zurückfindet.
Elisabeth kreischte auf und versuchte davon zu kriechen, doch ihre Hände rutschten immer wieder im nassen Teppich aus. Ihre Fingernägel kratzten über den Boden, rissen Fäden aus dem Stoff. Johann klammerte sich an seinen eigenen Hals, als würde er ersticken. Klara schrie, bis ihre Stimme versagte und nur noch ein heiseres tierisches Geräusch hervorbrachte.
Lukas versteckte sein Gesicht in den Händen, aber die Schatten krochen trotzdem zu ihm. als wüßten sie genau, wo er war, was er getan hatte und was er noch würde fühlen müssen. Sophie stand nun vollkommen still inmitten des Chaos. Ihre Gestalt war ruhig, fast friedlich. Alles um sie herum war Lärm, Verzweiflung, Wahnsinn. Und sie war der ruhende Punktin, der Mittelpunkt eines Malstroms, der sich allein durch ihre Existenz öffnete.
Sie war nicht die Ursache, sie war das Werkzeug, das Gefäß, das Echo, die Antwort auf Jahre der stummen Gewalt. Der Saal vibrierte erneut. Diesmal nicht wie ein Beben. Es war ein Atemzug, ein langsames tiefes Einziehen von Luft und dann ein Ausatmen, das die Kerzenflammen erzittern ließ.
Das Haus atmete wie eine lebendige Kreatur. Einige Gäste sackten bewußtlos zusammen, andere versuchten zu fliehen, doch immer wieder prallten sie gegen unsichtbare Barrieren, stolperten, wurden zurückgeworfen. Sie schrien, bettelten, flehten. Doch der Saal nahm keine Rücksicht auf Worte. Er hörte nicht zu, er sah.
Friedrich drehte sich erneut zu Sophie. Seine Augen waren rot unterlaufen, seine Stimme gebrochen. “Es war ein Fehler, keuchte er. Wir haben nicht gewusst.” Sophie blinzelte einmal langsam. “Ihr habt gewusst, wie sehr ich euch gefürchtet habe. Ihre Stimme war ruhig, leise, aber klar.” Elisabeth kroch auf sie zu, den Arm ausgestreckt, als wollte sie ihre Hand berühren.
Sophie, ich ich habe Fehler gemacht. Ich bereue es. Bitte. Die Worte wehten wie dünne Asche durch den Raum. Sie hatten kein Gewicht mehr, keine Bedeutung, keine Wahrheit, denn sie kamen nicht aus Re, sondern aus Angst. Sophie sah Elisabeth an. Ein Blick, der durch Fleisch, durch Lügen, durch die Jahrzehnte alte Härte schnitt.
Reue, fragte sie. Ihr bereut nicht, was ihr getan habt. Ihr bereut nur, dass jemand stärker war als ihr. Ein Windstoß fuhr durch den Saal, doch keine Fenster waren geöffnet, keine Türen bewegten sich. Der Wind kam von innen. Er trug die Schatten mit sich, die sich plötzlich wie Schleier erhoben und sich in die Luft legten, als wollten sie sich mit dem Atem der Menschen vermischen. Und dann geschah etwas, das niemand begreifen konnte.
Die Schatten formten sich zu gestalten, nicht mehr schämenhaft, nicht mehr als Verzerrung. Sie waren klar, sichtbar, greifbar. Es waren Menschen oder das, was von ihnen geblieben war. Männer und Frauen, deren Gesichter von Leid gezeichnet waren. Kinder, deren Augen zu früh gebrochen worden waren.