Das dunkle Kapitel des Kaiserreichs: Die verlorene Illusion vom Platz an der Sonne

Lange, lange bevor die Reichsflagge über dem Wüstenboden Südwestafrikas wehte, gab es nur vereinzelte Echos eines Traumes, der später das Schicksal Tausender besiegeln sollte. Es war der leise Wunsch deutscher Kaufleute, Missionare und Abenteurer, jenseits Europas Fuß zu fassen – nicht als Teil einer staatlichen Strategie, sondern getragen von Neugier, Frömmigkeit und der knochenharten Realität des Handels.

Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war Deutschland ein Flickenteppich aus Königreichen, Herzogtümern und Freien Städten. Während Großbritannien, Frankreich und die Niederlande längst gigantische Überseeimperien beherrschten, fehlte den Deutschen die politische Einheit, die Überseeinteressen hätte koordinieren können.

Doch die Handelshäuser der Hansestädte, insbesondere Hamburg und Bremen, pflegten ihre alten maritimen Traditionen. Kaufleute wie die von Godfroy & Sohn agierten im Pazifik, handelten mit Kokosnüssen, Kopra und Perlen, und spannten so ein privates Handelsnetzwerk in der Südsee auf. Gleichzeitig zogen Missionare aus pietistischen Zentren wie Basel und Barmen aus, getrieben von religiösem Eifer, um das Christentum nach Afrika und Ozeanien zu tragen. Diese frühen Spuren waren riskant, isoliert und unbedeutend für die Weltpolitik. Aber sie legten den mentalen Grundstein für jene romantisierte Vorstellung vom „fernen Süden“, die später zu einer verhängnisvollen kolonialen Begeisterung führen sollte.

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Der Ruf nach Weltgeltung: Bismarcks kalte Abfuhr

Als das Deutsche Kaiserreich 1871 unter der Führung Preußens und Kaiser Wilhelm I. endlich gegründet wurde, brach eine neue Ära an. Die Nation, geeint nach Jahrhunderten der Zersplitterung, verstand sich nun als gleichrangige Großmacht. Die rasante Industrialisierung schuf einen unstillbaren Hunger nach Rohstoffen – Baumwolle, Kautschuk, Kaffee, Kupfer – und forderte neue Absatzmärkte.

Es war eine nationale Scham, dass Deutschland, das technologisch und militärisch zur Spitze Europas gehörte, keine eigenen Kolonien besaß. Nationalistische Stimmen wurden lauter, die den berühmten „Platz an der Sonne“ einforderten – ein Schlagwort imperialer Ambitionen. Die Überzeugung wuchs, dass nur die stärksten Nationen überleben und expandieren könnten.

Doch einer blieb lange skeptisch: Otto von Bismarck, der Architekt der deutschen Einheit. Für ihn war die Stabilität Europas die oberste Priorität. Seine berühmte Haltung:

„Ich bin kein Freund von Kolonien. Sie werden uns nur Geld kosten.“

Bismarck sah in Überseegebieten eine finanzielle und militärische Belastung. Er wollte keine Kriege mit Großbritannien oder Frankreich provozieren. Sein Credo lautete: „Nicht Kolonien, sondern kolonial waren.“ Er setzte auf den freien Handel und eine geschickte Bündnispolitik, die Deutschland im Herzen Europas absichern sollte. Doch er konnte den wachsenden Druck der Wirtschaftsführer, der Kolonialvereine (wie dem Deutschen Kolonialverein, gegründet 1882) und der nationalistischen Presse nicht ewig ignorieren. Aus politischem Kalkül, nicht aus Überzeugung, begann Bismarck, privaten Akteuren freie Hand zu lassen. Er erlaubte ihnen, Gebiete auf eigenes Risiko unter Schutz zu stellen – ein pragmatisches Spiel, das die Kolonialfrage zunächst zur Nebensache der Staatsraison machte.

Der Kaufpreis und der Preis des Blutes

Das Tor zum deutschen Kolonialzeitalter öffnete sich offiziell im Jahr 1884. Den Anfang machte kein General, sondern der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz. An der Küste Südwestafrikas (dem heutigen Namibia) erwarb er ein Stück Land, das er Angra Pequeña nannte, um seine Handelsinteressen zu sichern. Als die britische Konkurrenz drohte, bat Lüderitz Berlin um Schutz. Bismarck gab nach. Am 24. April 1884 erklärte das Deutsche Reich das Gebiet zum deutschen Schutzgebiet – Deutsch-Südwestafrika war geboren.

Dies war der Startschuss für den „Scramble for Africa“ aus deutscher Sicht. Die Kolonialerwerbungen folgten Schlag auf Schlag:

  1. Kamerun und Togo (1884): Nach geschickten Verhandlungen von Gustav Nachtigal mit lokalen Herrschern wurden diese westafrikanischen Gebiete unter deutsche Kontrolle gestellt.
  2. Deutsch-Ostafrika (1885): Hier trat der umstrittenste Akteur auf den Plan: Karl Peters. Getrieben von Größenwahn gründete er die Gesellschaft für deutsche Kolonisation und schloss unter fragwürdigen Umständen „Schutzverträge“ mit lokalen Häuptlingen. Peters Handeln war eigenmächtig und rücksichtslos, aber politisch nützlich. Bismarck stellte die erworbenen Gebiete unter Schutz – der Grundstein für die größte deutsche Kolonie, die Teile des heutigen Tansania, Ruanda und Burundi umfasste.

Die Realität dieser „Schutzgebietspolitik“ unterschied sich grausam von der Propaganda. Die Deutschen trafen nicht auf „herrenloses Land“. Die neuen Verhältnisse bedeuteten für die einheimische Bevölkerung Enteignung, Zwangsarbeit und Unterdrückung. Um die Kolonien „profitabel“ zu machen, wurden Plantagen für Kaffee, Sisal und Kautschuk angelegt, Eisenbahnen gebaut – alles finanziert durch die lokale Bevölkerung, die Steuern in Form von Geld oder Zwangsarbeit leisten musste.

Der Völkermord und die blutige Strategie

Die Gewalt war nicht nur ein Begleitaspekt, sondern das Fundament der Kolonialherrschaft. Als die Unterdrückung unerträglich wurde, entlud sie sich in zwei großen Katastrophen:

1. Der Herero und Nama Aufstand (1904–1908)

Im Januar 1904 erhob sich das Volk der Herero in Deutsch-Südwestafrika unter ihrem Anführer Samuel Maharero gegen den Landraub und die Misshandlungen. Die deutsche Reaktion war eine der entsetzlichsten Strafexpeditionen der Geschichte.

Kaiser Wilhelm II. entsandte General Lothar von Trotha, einen Mann, der den Konflikt nicht als Krieg, sondern als Vernichtungsmaßnahme sah. Nach der entscheidenden Schlacht am Waterberg im August 1904 drängte von Trotha die besiegten Herero in die wasserlose Wüste. Er erließ den berüchtigten Vernichtungsbefehl:

„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. Ich nehme von jetzt an keine Männer mehr auf.“

Tausende von Herero, Männer, Frauen und Kinder, wurden von den Schutztruppen an den Wasserstellen in die Wüste getrieben, wo sie verdursteten. Der Aufstand der Nama unter Hendrik Witbooi wurde mit gleicher Brutalität niedergeschlagen. Gefangene wurden in Konzentrationslager gesperrt, darunter das berüchtigte Lager auf der Haifischinsel vor Lüderitz.

Historiker bezeichnen diese Taten heute als den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 80 % der Herero-Bevölkerung in dieser planmäßigen Vernichtung ums Leben kamen.

2. Der Maji Maji Aufstand (1905–1907)

Nur ein Jahr später brach in Deutsch-Ostafrika der Maji Maji Aufstand aus – der umfassendste antikoloniale Aufstand in Afrika gegen die deutsche Herrschaft. Er vereinte dutzende ethnische Gruppen im gemeinsamen Kampf gegen Zwangsarbeit auf Baumwollplantagen und gegen die Willkür der Verwaltung. Die Aufständischen glaubten an ein heiliges Wasser (Maji), das von einem Propheten namens Kinjikitile verteilt wurde und sie angeblich unverwundbar gegen deutsche Kugeln machen sollte.

Die deutsche Antwort war die Taktik der verbrannten Erde. Die Schutztruppen zogen mit überlegener Waffenkraft gegen die Aufständischen vor. Ihre Strategie: systematische Vernichtung der Lebensgrundlagen. Dörfer wurden niedergebrannt, Felder zerstört, um den Widerstand durch Hunger zu brechen. Die Folge war eine Hungersnot katastrophalen Ausmaßes, der bis zu 200.000 Afrikaner zum Opfer fielen.

Das Ende des Traumes und der bleibende Schatten

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 war das Schicksal der Kolonien besiegelt. Weit verstreut und von den Seeversorgungen des Mutterlandes abgeschnitten, fielen sie innerhalb weniger Jahre in die Hände der Alliierten – Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens und Japans. Nur in Deutsch-Ostafrika leistete Kommandeur Paul von Lettow-Vorbeck mit seinen afrikanischen Askari einen legendären Guerillakrieg, der aber militärisch ohne Einfluss auf den Ausgang war.

Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags (1919) verlor das Deutsche Reich sämtliche Überseegebiete. Die Kolonien wurden als Mandatsgebiete unter die Verwaltung der Siegermächte gestellt. Für viele Deutsche war dieser Verlust ein nationaler Schock, eine koloniale Schmach, die das untergegangene Weltmachtstreben beendete.

In der Weimarer Republik entstand daraufhin die Kolonialrevisionismusbewegung – eine breite Allianz aus ehemaligen Militärs, Politikern und Vereinen, die die Rückgabe der Kolonien forderten. Sie glorifizierten die Kolonialzeit als Epoche nationaler Größe und klärten die Gewalt. Kolonialfilme, Abenteuerromane und patriotische Propaganda schufen den Mythos eines verlorenen Paradieses, eine nostalgische Erzählung, die die Schrecken der Realität verdrängte.

Heute, lange nach dem Ende des Krieges, lebt das koloniale Erbe weiter. In Namibia und Tansania sind die Narben tief. Die Auseinandersetzung mit dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, die Debatten um Restitution geraubter Kunstwerke und menschlicher Überreste zeigen, dass die Geschichte der kurzen deutschen Kolonialherrschaft ein dunkles, aber unverzichtbares Kapitel der Erinnerung ist.

Es war eine Epoche, in der der Traum vom „Platz an der Sonne“ auf den Kosten von Blut, Zwangsarbeit und Vernichtung realisiert wurde – eine düstere Mahnung, dass imperiale Ambition immer einen humanitären Preis fordert, den die Opfer für Generationen bezahlen müssen.

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