Die Strategie des Leidens: Ein Satz gegen das „gefühlskalte Monster“
GÜSTRO/ROSTOCK. Der Mordfall Fabian (†8) hält Deutschland in Atem. Seit Wochen sitzt Gina H., die Hauptverdächtige, in Untersuchungshaft. Nun rückt eine Schlüsselfigur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, deren Worte und Position die Strategie der Verteidigung offenlegen: Andreas Om, Pflichtverteidiger und zugleich Stadtpräsident von Güstro – der Stadt, in der die Tat geschah. Sein erster öffentlicher Zug ist ein psychologischer Kunstgriff im Kampf um die öffentliche Wahrnehmung.
Auf die Frage, wie es seiner Mandantin gehe, antwortete Om fast beiläufig, doch mit kalkulierter Wirkung: „Es geht ihr nicht gut.“
Dieser kurze Satz ist weit mehr als eine rein menschliche Feststellung. Er ist der erste bewusste Schachzug im Kampf um die öffentliche Meinung. In Fällen wie diesem, so die Analyse von Experten, entsteht schnell das Bild eines „gefühlskalten Monsters“. Mit dieser Aussage versucht die Verteidigung, ein Gegennarrativ aufzubauen: „Seht her, das ist keine Bestie, das ist ein Mensch, der leidet.“ Bevor Gina H. durch die Schlagzeilen komplett entmenschlicht wird, soll die Person hinter dem Vorwurf sichtbar gemacht werden.

Die Mauer der Stille: Schweigen als purer Selbstschutz
Die zweite und wohl wichtigste strategische Entscheidung der Verteidigung: Schweigen. Om riet seiner Mandantin, keinerlei Angaben zu machen. Obwohl Schweigen für viele Laien und in der öffentlichen Wahrnehmung oft einen Beigeschmack eines Schuldeingeständnisses hat, ist es juristisch gesehen in diesem frühen Stadium der einzig richtige Schritt.
Der Grund ist die asymmetrische Informationslage:
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Die Staatsanwaltschaft hat monatelang ermittelt und, wie berichtet, acht volle Aktenordner mit Indizien und Beweismitteln vorgelegt.
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Der Pflichtverteidiger hat das Mandat gerade erst übernommen und kennt den Inhalt dieser Ordner noch gar nicht im Detail.
Jedes Wort, das Gina H. jetzt ohne Kenntnis der Akten sagen würde, könnte eine unbewusste Falle sein. Eine Aussage könnte im Licht eines Beweismittels, das Om noch nicht kennt, später völlig anders interpretiert werden. Das Schweigen ist also purer Selbstschutz – eine Mauer, die hochgezogen wird, um Zeit zu gewinnen, die acht Ordner zu analysieren und überhaupt erst eine plausible Verteidigungslinie zu entwickeln.
Das Mosaik der Indizien: Die Kunst der Zerlegung
Der Fall Fabian beruht, so Om, vor allem auf Indizien. Das Wort „Indizienprozess“ klingt für viele nach Unsicherheit, doch die Verteidigung nutzt diese öffentliche Wahrnehmung bewusst, um Zweifel zu säen.
Ein moderner Indizienprozess ist laut Kriminalexperten jedoch nicht wie eine schwache Kette, sondern eher wie ein Mosaik oder ein digitales Foto aus Tausenden von Pixeln. Ein einzelner Pixel mag nichts aussagen, aber die Masse – tausende von Indizien, digitale Spuren, Faserspuren, widersprüchliche Zeugenaussagen und Bewegungsprofile – ergibt zusammengesetzt ein erdrückend klares Bild.
Die Aufgabe des Anwalts ist es daher nicht, das ganze Bild zu zerstören, sondern einzelne Pixel herauszubrechen:
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Er muss für einzelne Indizien alternative plausible Erklärungen finden.
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Er muss die Frage stellen: Kann die DNA-Spur auch anders dorthin gekommen sein? Gibt es für eine verdächtige Google-Suche eine harmlose Erklärung?
Wenn es ihm gelingt, genug Zweifel zu säen, dann fängt das Gericht an, am Gesamtbild zu zweifeln – und es gilt der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Om steht damit vor einem Marathon, der die minutiöse Zerlegung von acht Aktenordnern voller Material erfordert.
Der unauflösbare Spagat: Anwalt und Stadtpräsident im Konflikt
Was den Fall Fabian so einzigartig und für Andreas Om so heikel macht, ist seine Doppelfunktion: Er ist Pflichtverteidiger der Mordverdächtigen und gleichzeitig Stadtpräsident von Güstro – der Stadt, in der die Trauer und Wut am größten sind.
Diese Doppelfunktion ist ein fast unauflösbarer Interessenskonflikt, der nicht in einem Gesetzbuch steht, sondern im echten Leben ausgetragen wird: