Der Schwarzwald-Fall von 1890: Geschwister auf dem Dachboden gefangen gehalten

Der Herbst des Jahres 1890 liegt schwer über dem abgelegenen Tal, das die Menschen in der Umgebung nur das Dunkelgrundtal nennen. Ein entlegenes Stück Land in den tief eingeschnittenen Wäldern des südlichen Schwarzwaldes. Dort hängt der Nebel nicht einfach in der Luft.

Er ruht wie ein Urteil über allem Lebenden, drückt auf die Dächer der Bauernhöfe und verschluckt jeden Laut, bis selbst das Knacken eines Astes klingt, als wolle der Waldes geheim halten. Im kleinen Büro des Bezirksrichters Elias Thorn, einem Mann, der einst als akribischer Schreiber in Freiburg begann, liegt ein einzelnes Dokument auf einem wackeligen Holztisch. Zwischen Grundbuchauszügen, Grenzstreitigkeiten und Klageschriften rag dieses Blatt heraus, als gehörte es nicht zu den gewöhnlichen Dingen, mit denen Thorn seinen Alltag verbringt. Es ist ein Volkszählungsbericht,

handschriftlich verfasst von einem jungen Beamten namens Abel Frei. Nichts an einem Volkszählungsbericht sollte eigentlich bemerkenswert sein. Doch Thorn hat ihn dreimal gelesen und jedes Mal wächst das Unbehagen in ihm wie eine kalte Hand auf seiner Wirbelsäule. Der Bericht beschreibt ein Anwesen tief im Dunkelgrundtal, so versteckt zwischen mächtigen Tannen und mit Moos überzogenen Felsen, dass selbst reisende Pfarrer den Weg dorthin meiden.

Die Familie, die dort lebt, die Rodenbacher Brüder, verweigerte frei den Zutritt. Vier Männer standen damals im Türrahmen, Schulter an Schulter, unbeweglich wie eine Wand. Sie gaben ihre Namen an Silas, Malachias, Hezekiel und Jubal Rodenbacher. Doch ihre Augen, so schriebfrei, waren leer wie ausgeglühte Kohlen und sie sprachen nacheinander in einem Tonfall, der eher nach einstudiertem Vortrag wirkte als nach natürlicher Sprache. Frei konnte die Zahl der Bewohner nicht bestätigen, ein Versäumnis, das seine berufliche

Gewissenhaftigkeit verletzte. Dann beschrieb er, was Thorn dazu brachte, das Dokument mit roter Tinte zu markieren. Ein blasses Gesicht im Dachfenster, eine Gestalt, die im nächsten Augenblick verschwand, als einer der Brüder einen Schritt zur Seite machte. Nur ein kurzer Blick, kaum wahrnehmbar im Nebel, doch genug, um den jungen Beamten noch Tage später in seinen Träumen zu verfolgen.

Thorn legt den Bericht beiseite und greift zu einem anderen Dokument, einem Handelsbuch des Krämerladens aus dem Dorf St. Ulrich, dem nächstgelegenen Ort. Der Besitzer, ein gewisser Herr Jesop, hatte über die Jahre die Einkäufe der Rodenbachers notiert. Zweimal jährlich kamen sie, immer im Herbst, immer schweigsam.

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Sie brachten kunstvoll geschnitzte Holzarbeiten, markelloses Gemüse, Äpfel ohne jeden Fleck, eine Perfektion, die Jesshob unheimlich fand. Doch es war nicht die Warenqualität, die Thorn beschäftigt. Es waren die Mengen bestimmter Einkäufe, Lauge in unnatürlich großen Mengen, genug, um Böden bis auf das nackte Holz auszubrennen. Schweres Eisen, dicke Bolzen, Lampenöl in halben Fässern, Dinge, die nicht recht zu vier Männern passten, die angeblich allein und zurückgezogen lebten.

Und im gesamten Dunkelgrundtal existiert seit Jahren kein einziger Wolf mehr. Trotzdem kauften die Rodenbachers Bolzen, wie man sie nutzt, um Stelle gegen Raubtiere zu verriegeln. Für wen? Für was? Murmelt Thorn jedes Mal, wenn sein Blick über die Einträge gleitet, als hätte der Wald selbst etwas verschluckt, was nie ans Licht kommen sollte.

Der Richter entzündet eine Öllampe, denn der schwarze Nebel, der sich über den Schwarzwald legt, verschluckt den Tag oft schon am frühen Nachmittag. Dann öffnet Thorn ein dünnes Dossier, das nur ein einziges Schriftstück enthält. Die Ungelenke, aber mit sichtbarer Beklemmung verfasste Notiz eines reisenden Predigers. Er hatte die Rodenbachers aufsuchen wollen, um Seelenfrieden zu schenken.

Die Brüder empfingen ihn höflich und gleichzeitig abweisend. Eine Höflichkeit, die wie ein Warnsignal wirkte. Der Prediger schrieb: “Das Haus habe eine gottlose Kälte ausgestrahlt, als würde etwas darin warten, etwas, dass ich nicht zeigen durfte.” Er beschrieb, wie die vier Brüder sich bewegten, gleichzeitig, spiegelbildlich, ohne einander anzusehen, wie Glieder eines einzigen Körpers.

Thorn breitet alle Dokumente vor sich aus. Ein verweigerter Zensus, ungewöhnliche Einkäufe, ein Prediger, der weglief ohne sich umzusehen und dieses Gesicht im Dachfenster. Das alles sind keine Beweise, aber Thorn glaubt an Spuren. Er glaubt daran, dass das Böse selten schweigt. Es hinterlässt Kratzer, Löcher, fleckige Seiten.

Mit langsamer, bedächtiger Schrift schreibt er eine Zeile in sein persönliches Fallbuch. Familie Rodenbacher, Dunkelgrundtal, Verdacht auf verborgene Bewohner, Isolation, Verschleierung, Wahrheit wahrscheinlich absichtlich verborgen. Er klappt das Buch zu, doch er legt die Akte nicht zurück in den Schrank.

Er läßt sie auf dem Tisch liegen, sichtbar, drängend, ein Zeichen für sich selbst, als müsse er verhindern, dass die Wahrheit erneut im Nebel erstickt. Er wird selbst hinreiten unter dem Vorwand eines Grenzstreits, mit einer Karte, die er eigenhändig gefälscht hat und mit dem festen Willen, das Geheimnis zu entwirren, dass die vier Brüder hinter ihren eisenbeschlagenen Türen verbergen.

Der Nebel vor seinem Fenster wird dichter. Torn zündet eine zweite Lampe an. Irgendwo da draußen wartet ein Protokoll. Eines, das nicht aus Papier besteht, sondern aus Stille Ketten und einem blassen Gesicht, das aus dem Leben gestrichen wurde. Der Morgen, an dem Richter Elias Thorn in das Dunkelgrundtal aufbricht, beginnt mit jenem grauen, erbarmungslos stillen Licht, das im Schwarzwald die Schwelle zwischen Nacht und Tag markiert.

Der Nebel liegt so dicht, dass Thorns Pferd sich tastend vorwärts bewegt, als schneide es sich durch eine milchige Wand. Torn trägt eine Satteltasche aus dunklem Leder bei sich, darin eine sorgfältig gefaltete Grenzkarte, mehrere amtliche Schreiben und ein einziges Dokument, das gelogen ist. Der erfundene Grenzstreit, der ihm den Vorwand liefern soll, das Anwesen der Rodenbaches zu betreten.

Er reitet schweigend, die Geräusche des Waldes gedämpft, als habe der Nebel sie verschluckt. Keine Vögel, kein Rascheln der Tiere, nur das leise Schnauben des Pferdes und das Knacken von Ästen, die unter Hufen brechen. Als Torn tiefer in das Tal vordringt, werden die Bäume höher, dichter und die Luft bekommt einen eigenartigen Geruch, eine Mischung aus feuchter Erde und etwas Metallischem, das er nicht sofort benennen kann.

Es dauert nicht lange, bis die Umrisse des Rodenbacher Hofes durch den Nebel auftauchen. Das Gebäude ist größer als Torn erwartet. Ein zweistöckiges Schwarzwaldhaus, dunkel gebeizt, mit einem steilen Dach und einem einzigen hochragenden Schornstein. Die Fenster sind klein, wie zu Schießschaden verengt und in der Stille wirkt das Haus wie ein Tier, das lauert.

Thorn bindet sein Pferd an einen Pfosten, der so abgenutzt ist, als habe man seit Jahrzehnten dort angebunden. Bevor er an die Tür klopfen kann, öffnet sie sich bereits. Vier Männer stehen im Eingang, Schulter an Schulter wie aus einem Block gehauen. Silas, Malachias, Hezsekiel, Jubal.

Ihre Namen klingen Torn im Gedächtnis nach, doch jetzt, da sie vor ihm stehen, wirken Namen wie unzureichende Etiketten für etwas, das nicht ganz menschlich scheint. Sie grüßen nicht, sie sprechen nicht. Erst nach einem langen Moment macht Silas einen Schritt nach vorn. Sein Gesicht ist schmal, hart, seine Augen wässrig schmutziges Eis. Seine Stimme, als er Thorn anspricht, ist so ebenmäßig, daß sie beinahe unnatürlich klingt.

Thorn erklärt langsam und sachlich den angeblichen Grenzstreit. Er öffnet die Karte, zeigt Linien, die es niemals gab und wartet auf Regung. Doch die Brüder reagieren nicht so, wie Menschen reagieren sollten. Malachias neigt nur leicht den Kopf. Jubal blinzelt nicht einmal. Hezekiel verschränkt die Arme und Silas rezitiert die Grenzen ihres Landstücks aus dem Gedächtnis, Wort für Wort, mit der Präzision eines Gebets.

Thorn beobachtet sie, während er Fragen stellt. Er versucht kleine Unstimmigkeiten zu provozieren, kurze Blicke auszutauschen, eine Geste, die nicht in das seltsame Gleichmaß fällt. Doch sie bewegen sich wie ein Urwerk. immer nacheinander, nie gleichzeitig, nie durcheinander.

Es ist unheimlich wie ein Ritual, wie ein einziger Geist, verteilt auf vier Körper. Während Silas spricht, wandert Thorns Blick zur Seite des Hauses. Dort befindet sich eine Feuerstelle, die wie eine einfache Grube aussieht. Doch die Erde rundherum ist schwarz und glatt, als wäre dort oft und viel verbrannt worden.

Etwas Weißes ragt aus dem verkohlten Boden. Ein kleines Stück Papier, halb im Aschebrei vergraben. Torn stellt eine absichtlich überkomplizierte Frage zu Wasserrechten. Die Brüder wenden gleichzeitig die Köpfe, um auf einen Bach in der Ferne zu deuten. Genau in diesem Augenblick tritt Thorn zwei Schritte näher an die Feuerstelle.

Das Stück Papier ist angekohlt, aber nicht vollständig zerstört. Er erkennt Linien darauf. Linien und Namen. Ein Stammbaum. Ein Stammbaum, der sich in Schleifen zieht. Er berührt das Papier nicht, doch das Bild brennt sich in seinen Gedanken ein, wie ein Brandzeichen. Die Brüder drehen sich wieder zu ihm um, alle gleichzeitig. Es ist als falle eine Tür ins Schloss.

Silas erklärt mit glatter Stimme, daß sie keine Hilfe des Bezirks benötigen, daß sie rechtschaffende, gottesfürchtige Männer sein, dass sie ihre Ruhe wollten. Thorn nickt, als sei alles zufriedenstellend. Dann wendet er sich zum Gehen, lässt seinen Fuß beiläufig durch die Asche streifen, sodass das Stück Pergament sich tiefer in den Boden schiebt. Versteckt sicher für später.

Auf dem Rückweg spürt Thorn den Nebel wie ein feuchtes Tuch auf seinem Gesicht. Er reitet schneller als beim Hinweg und hält erst an, als das Haus hinter ihm im Weiß verschwunden ist. In seinem Büro angekommen, holt er den einzigen Menschen, dem er vorbehaltlos vertraut, seinen stellvertretenden Beamten Kellum Bergner, einen schweigsamen Mann, der mehr sieht, als er sagt.

Gemeinsam kehren sie noch in derselben Nacht zur Feuerstelle zurück. Der Nebel ist dünner geworden. Torn kniet sich nieder und löst vorsichtig die verbrannte Seite aus der Asche. Sie bricht an einer Ecke, aber der wichtigste Teil bleibt erhalten. Die Linien, die Namen und diese furchtbare Struktur, die sich immer wieder um sich selbst windet. Zurück im Büro breiten sie das Blatt unter drei Lampen aus.

Kellum sagt nichts, aber seine Hände zittern. Thorn liest, bis er sicher ist. Sechs Generationen, Bruder und Schwester, wieder und wieder. Ein Stammbaum wie eine Schlinge, eine Geschlechterfolge, die absichtlich verkrümmt wurde, nicht verwahrlost, nicht irrtümlich, sondern geplant.

Thorn schreibt einen einzigen Satz in sein Fallbuch. Beweise für absichtsvolle, wiederholte Blutsverwandtschaft. Durchsuchungsbefehl sofort erforderlich. Rettungseinsatz. Denn jetzt weiß er es. Das Gesicht im Fenster war kein Geist. Es war ein Gefangener. Und irgendwo hinter diesen eisenbeschlagenen Türen warten Menschen, deren Leben in der Stille begraben wurde.

Drei Wochen vergehen und jede Stunde davon nagt Anrichter Elias Thorn wie ein unaufhörlicher Zahn. Während er auf den Durchsuchungsbefehl wartet, schläft er kaum, ist schlecht und liest das verkohlte Fragment des Stammbaums so oft, dass er einzelne Strichführungen auswendig kennt. Die Linien darin winden sich wie Adern, die nicht Leben transportieren, sondern verderben.

Der Bezirksrichter Whitfield, ein erfahrener Mann, der seit zwei Jahrzehnten im südlichen Badenverfahren leitet, zögert zunächst, so ungeheuerlich erscheinen die Anschuldigungen. Erst nach einer zweiten detaillierten Durchsicht aller Dokumente setzt er seine Unterschrift unter den Befehl und schreibt am Randiz, deren zittrige Schrift von seiner inneren Erschütterung zeugt.

Zum ersten Mal fürchte ich, was das Gesetz finden wird. Mehr als das, was es verfehlen könnte. An einem trübgrauen Morgen im Dezember sattorn sein Pferd. Neben ihm reitet Kalum Bergner. Sie sind zu zweit. Und Thorn hat bewußt auf weitere Beamte verzichtet.

Er weiß, zu viele Männer würden die Brüder warnen, würden Lärm machen, würden das fragile Gleichgewicht stören. Die Wahrheit, das spürt er, darf sich nicht im Tumult verstecken können. Das Dunkelgrundtal empfängt sie mit derselben schweigenden Nebeldecke wie zuvor. Doch heute ist die Luft härter, kälter und Thorn hat das Gefühl, der Wald halte den Atem an.

Als sie sich dem Hof nähern, sehen sie Hezekiel und Jubal am Zaun arbeiten, doch deren Bewegungen gefrieren, sobald sie die Reiter wahrnehmen. Kein Wortfeld, kein Gruß. Ihr Schweigen ist nicht defensiv, es ist erwartend, fast vorbereitet. Torn hält sein Pferd an, steigt ab. und ruft ihnen seine Absicht zu. Er ließ den Durchsuchungsbefehl laut vor, hebt das Pergament so, daß der rote Stempel des Bezirksgerichts sichtbar ist.

Die Brüder reagieren kaum. Hezekiel wischt langsam die Hände an der Hose ab. Jubal neigt den Kopf minimal, als lausche er einer Stimme im Wind. Dann erklärt Hezekiel mit gleichgültiger Ruhe, dass sie keinen Zutritt gewähren. Torn erwidert ebenso ruhig, dass ihre Zustimmung ohne Belang ist.

Der Befehl erlaubt ihm jedes Betreten, jedes Öffnen, jede Untersuchung, noch immer keine Gegenwehr, keine Drohung, nur diese unheimliche starre Ruhe. Thorn und Kellum gehen zur Haustür. Sie ist nicht verschlossen. Ein schlechtes Zeichen, ein viel zu gutes Zeichen. Als sie eintritt, schlägt ihnen ein Geruch entgegen, der Torn sofort würgen lässt. Scharfe Lauge.

So stark, daß sie die Schleimhäute reizt. Darunter etwas fauliges, alt und süßlich, ein Geruch, der von Räumen kommt, die zu lange geschlossen blieben. Der Wohnraum sieht aus wie aus einem Musterkatalog für Ordnung. Die Holztischplatte ist bleich geschrupptes Holz. Die Bohlenböden glänzen wie frisch poliert.

Keine Unordnung, keine Kleidung, keine Werkzeuge, kein einziges persönliches Objekt, nur Vorräte, ordentlich gestapelt, sorgfältig etikettiert. Doch etwas stimmt nicht. Das Schweigen im Haus ist anders als das draußen. Dicker, schwere wie ein Tuch aus Blei. Kellum geht langsam weiter und sein Blick wandert nach oben. Er bleibt abrupt stehen.

Torn folgt seinem Blick und sieht es. Dunkle Flecken auf den Deckenbrettern. Alte Flüssigkeit, die durch Holz gesickert ist. Kreise, Schlieren, ein Muster von Jahren. Direkt darüber befindet sich eine Luke im Deckenbalken, kaum breiter als ein Mann. Der Rahmen besteht aus schwerem, geschwärztem Eisen und daran drei massive Bolzen, die von außen hineingetrieben wurden.

Kein Griff an der oberen Seite, keine Möglichkeit, die Luke von innen zu öffnen. Es ist kein Dachboden, es ist eine Zelle. Wir brauchen Verstärkung, flüstert Kellem. Thorn schüttelt den Kopf. Wenn Sie gehen, wird das, was da oben ist, vielleicht bis morgen nicht mehr am Leben sein. Er zieht die Waffe nur, um seine Hände zu beruhigen und nickt Kum zu. Der Deputy hebt den Kolben seines Gewehrs und schlägt gegen den ersten Bolzen.

Der Knall halt durch den ganzen Raum, lässt Staub von den Balken rieseln. Der Bolzen gibt nach, der zweite fliegt schneller, der Dritte ist rostig, widersetzt sich, doch nach zwei kräftigen Schlägen löst auch er sich mit einem metallenden Kreischen. Dann geschieht es. Ein Luftstoß strömt herab, warm und feucht, schwer, giftig, ein Gestank aus menschlichem Elend, Krankheit, Verdauungsabfällen und etwas, das Thorn nicht benennen will.

etwas, das innerlich stirbt, aber nicht sterben darf. Kellum wendet den Kopf ab und wirkt. Thorn hält sich Mund und Nase zu. Aus der Finsternis dringt ein Laut, ein leises Wimmern, fast wie das Geräusch eines Tieres, das gelernt hat, das laut sein Schmerz bedeutet. Thorn ruft nach oben, bemüht, nicht zu ersticken.

Er identifiziere sich als Beamter des Bezirks, komme im Namen des Gesetzes, sie seien nicht länger allein. Stille, dann ein Rascheln. Etwas bewegt sich, schiebt sich, tastet im Dunkeln. Kellum entzündet ein Streichholz, hält es hoch, doch die Flamme ist zu schwach. Sie beleuchtet nur den Ansatz einer Leiter, die in die Schwärze führt. Torn klettert zuerst.

Er steigt langsam, jede Stufe wie der Schritt in eine fremde Welt. Als sein Kopf durch die Öffnung gleitet, bleibt sein Atem stehen. Drei Frauen abgemagert, blass wie Kerzenwachs, ihre Augen zusammengekniffen gegen das Licht und in den Ecken der Dachkammer halb im Stroh verborgen. Elf Kinder, Körper verdreht, Gesichter eingesunken, Augengroß, leer, aber lebendig.

Der Horror ist nicht versteckt. Er steht ihm gegenüber, atmet, zittert. Thorn kann keinen Ton hervorbringen. Er streckt nur die Hand aus. Die älteste Frau, grauhaarig, die Haut pergamentd dünn, hebt zögerlich ihre Finger. Sie berühren sich. Warm, echt. Ein Beweis, dass dies kein Albtraum ist. Es ist Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die jahrzehntelang unter einem Dach aus Schwarzwaldannen eingesperrt war.

Die Dachkammer ist kein Raum, sondern ein über Jahrzehnte gewachsener Albtraum, der die Form eines Zimmers angenommen hat. Erst als Kum mit der Laterne nachkommt, wird das Ganze sichtbar und das fahle Licht lässt nichts milderscheinen. Im Gegenteil, es enthüllt die Grausamkeit mit einer Klarheit, die Torn körperlich schwanken lässt.

Die drei Frauen sitzen auf dünnen Strohlagen, deren Färbung zeigt, dass sie unzählige Male ausgemärgelte Körper getragen haben. Ihre Gliedmaßen sind so hager, dass die Knochen unter der Haut hervortreten wie die Rippen alter Frachtkisten. Die Haut an ihren Handgelenken ist wund, vernt, eingefallen, direkt in die Dielenbretter geschlagen.

Sieht torn drei eiserne Ringe, an denen alte Ledermanschetten befestigt sind. Die Riemen sind so abgewetzt, als hätten sie tausende Male Zug ausgehalten. Die Lederkanten sind dunkel von altem Blut und Schweiß. Die Ketten reichen gerade weit genug. Zum Eimer in der Ecke, zu den Kindern, zur Tür, die sie nie öffnen konnten. Aber nicht einen Schritt weiter.

Thorn kämpft gegen das Brennen in seiner Kehle. Wut, Ekel, Mitgefühl und der lähmende Schock mischen sich zu einer aufgeheizten Stille, die selbst der Atem der Frauen nicht durchbricht. Kellum hebt die Laterne höher und das Licht trifft einen Teil der Wand. Zuerst wirken die Linien chaotisch, dann erkennt Thorn das Muster.

Es sind Striche, tausende, zehntausende in Fünfergruppen eingeritzt, Woche um Woche, Jahr um Jahr, aufgetragen wie die Jahresringe eines Baumes, der nicht wachsen durfte. Torn tritt näher, berührt vorsichtig die Holzoberfläche. Die Kerben sind glatt geworden wie polierte Rillen, als hätte jemand immer wieder darüber gestrichen. Er zählt grob.

Er kommt auf überzehntausend Markierungen, zehntausend Tage, sie Jahre, fast drei Jahrzehnte. Die älteste Frau, sie sieht alt aus, doch Thorn weiß, es ist der Hunger, der sie alt gemacht hat. Hebt langsam den Kopf. Ihre Stimme ist brüchig, kaum mehr als ein Hauch. Wir haben gewartet. Thorn muß sich niederknieen, um sie überhaupt zu verstehen, bevor er antworten kann.

spricht eine der jüngeren Frauen, kaum älter als 20, doch mit Augen, die das Alter von Leid reflektieren. Sie flüstert: “Heute ist Dienstag.” Thorn sieht Kellum an, der ebenso ratlos wirkt. Dienstag. Was bedeutet das? Die Antwort kommt aus dem Mund der ältesten Frau, deren Stimme von jahrelanger Stille zerschnitten wurde.

Dienstag ist mein Tag. Ihr Tonfall ist nicht erklärend, nicht entschuldigend. Es ist die nüchterne Benennung eines Systems. Thorn versteht zuerst nicht. Doch als er den Blick über die Kinder schweifen lässt, über ihre deformierten Hände, die verkrümmten Beinchen, die gespaltenen Gaumen, die verdrehten Wirbelsäulen, sickert die Bedeutung in ihn hinein wie Eis in offene Wunden.

Ein Zeitplan, ein Rotationsprinzip, eine Ordnung. So kalt, so methodisch, daß ihm der Atem stockt. Kellum geht zum Fenster, einem winzigen Spalt unter dem Dach und entdeckt eine alte Truhe aus Zedernholz. Er öffnet sie und beide erstarren. Darin liegt ein großes in ledergebundenes Buch. Schwer, abgenutzt, das Leder eingerissen und speckig von Jahrzehntelangem Gebrauch.

Torn hebt es heraus wie etwas heiliges und abscheuliches zugleich. Auf der ersten Seite steht in alter Schrift die Blutordnung Aufzeichnung der Linie Rodenbacher. Begonnen im Jahre des Herrn 1832. Thorn blättert weiter und das was er dort sieht schlimmer als die Realität der Dachkammer selbst. Es ist der Beweis, dass diese Hölle nicht zufällig entstand.

Sie wurde geplant, über Generationen weitergegeben, dokumentiert. Das Buch enthält Stammbäume, nicht als bloße Familienchronik, sondern als religiöses Manifest. Das Blut reinhalten, dem göttlichen Plan folgen, fremdes Meiden. Das Fleisch erwählt sich seines gleichen. Darunter Tabellen, Namen, Geschwisterpaare, Geburten, die wie Viehzucht festgehalten sind, Notizen über Kinder, die als unrein oder untauglich markiert wurden, durchgestrichen mit einem stoischen Strich Todesdaten.

Neben manchen Namen steht nur ein kleines Kreuz. Ein Satz lässt Thorn die Hände zittern. Nur die reinen Früchte bewahren, die Fehlgeborenen dem Wald zurückgeben, das heißt aussetzen, sterben lassen. Die elf Kinder hier oben, die Hälfte dessen, was geboren wurde. Die anderen elf verschwunden im Wald. Thorn spürt, wie sich ein kalter Schwindel in seinem Nacken sammelt.

Er schließt das Buch mit einem dumpfen Schlag. Wir bringen euch hinaus, preßt er hervor. Und auch wenn er weiß, es klingt unzureichend, ist es das einzige, was er sagen kann. Während Thorn liest, hilft Kellum bereits, die Frauen und Kinder einer nach dem anderen hinunterzuführen. Jede Berührung ist vorsichtig, fast ehrfürchtig. Die Frauen schrecken nicht zurück.

Sie sind zu müde, zu erschöpft, zu sehr an Schmerz gewöhnt, um noch Angst vor fremden Händen zu haben. Als sie das Freie erreichen, wirkt das graue Tageslicht wie ein Schlag. Einige Kinder kneifen die Augen fest zu, andere starren mit einem Ausdruck, der an Tiere erinnert, die nie Licht gesehen haben.

Vor der Haustür sitzen Hezekiel und Jubal bereits gefesselt. Kellum hatte sie ohne Widerstand festgenommen. Ihre Gesichter zeigen keine Regung, keine Wut, keine Scham. Jubal blinzelt gerade einmal. Hekkiel sieht Torn sogar fast mild an, als wolle er sagen: “Ihr versteht nicht, dass wir recht hatten.” Silas und Malachias kommen kurze Zeit später vom Feld zurück.

Auch sie leisten keinen Widerstand, kein Geschrei, keine Fluchtversuche, als hätte man ihnen vorher gesagt, dass dies geschehen würde und sie es ohne weiteres akzeptieren. Silas hebt den Blick, als Thorn an ihm vorbeigeht. Seine Worte sind ruhig, ohne Zittern. Wir haben getan, was Gott verlangte. Thorn ignoriert ihn, denn wenn er jetzt antwortet, würde er etwas sagen, was ein Richter nicht sagen darf.

Stattdessen befielt er Kem einen Boten zu schicken, um den Amtsarzt Dr. Abraham Galloway zu holen. Die Wahrheit, die Sie heute gefunden haben, muss dokumentiert werden, bevor die Nacht wiederkommt. Dr. Abraham Galloway trifft 3 Stunden später ein. Sein Pferd schweißnass, sein Mantel durchnäst vom Nebel, der im Dunkelgrundtal wie ein Lebewesen wirkt.

Galloway ist ein Mann mit festem Blick, ein Arzt, der im Schwarzwald mehr Unfälle, Säuchen und Geburten gesehen hat, als die meisten Menschen ertragen könnten. Doch als er die Frauen und Kinder erblickt, erstarrt er zuerst wegen ihres Zustands, dann wegen des Ausdrucks in ihren Augen, einer Mischung aus Erschöpfung und jenem dumpfen, stumpfen Schmerz, den nur Menschen kennen, die lange Zeit gelernt haben, nicht zu schreien.

Er sagt kein Wort, nicht einmal eine Begrüßung. Er kniet sich einfach vor die älteste Frau, prüft ihren Puls, berührt ihren ausgemärgelten Arm mit einer Vorsicht, die seine Entschlossenheit nicht schwächt. Dann geht er zu den Kindern eines nach dem anderen. Er untersucht sie gründlich, methodisch und je länger er arbeitet, desto mehr verfinstert sich sein Blick.

Kellum steht neben ihm schweigend, denn es gibt nichts, was man zu einem Mann sagen könnte, der gerade das Ausmaß einer jahrzehntelangen Greulgeschichte sichtbar macht. Während Galloway arbeitet, durchsucht Thorn weiterhin das Haus. Er dokumentiert alles, die Ketten, die geschnitzten Markierungen in den Balken, die Vorratskammer ohne Spuren von Frauen oder Kindern, die markellose Ordnung der Küche, die nicht die geringste Lebensspur trägt.

Er mißt die Länge der Ketten, er skizziert die Dachkammer. Er schreibt Notizen, die er später sauber ordnen wird. Doch jetzt zählt nur, dass keine Einzelheit verloren geht. Als Galloway endlich mit seinen Untersuchungen endet, ist die Dämmerung bereits hereingebrochen. Er bittet um Licht, setzt sich an Thorns Schreibtisch im Haus und beginnt seinen Bericht zu verfassen. Zwölf Seiten.

Zwölf Seiten, auf denen kein Satz beschönigt, kein Detail ausgelassen wird. Er dokumentiert die Knochenverformung, die Unterernährung, die Narben, die alten und neuen Verletzungen. Die Frauen schweigen währenddessen, die Kinder ebenfalls. Einige sind zu jung, um zu verstehen, was vor sich geht.

andere zu sehr an Stille gewöhnt, um überhaupt zu reagieren. Galloway schreibt unerschütterlich weiter. Seine Handschrift bleibt ruhig, professionell, aber Thorn sieht den feinen Zorn, der hinter jeder Zeile steht. Dann kommt er zum letzten Abschnitt seines Berichts. Er betitelt ihn ohne Zögern, ein Katalog der generationenlangen Verdammnis. Thorn liest über seine Schulter und empfindet den Titel als genau passend.

Denn was der Arzt beschreibt, ist kein Unfall, keine spontane Entgleisung, keine geistige Verwirrung einer einzelnen Generation. Es ist ein System, eine Tradition, ein Ritual. Als Galloway unterschreibt, legt er die Feder mit einem hartwirkenden Rucken beiseite.

Sein Gesicht ist blass, aber seine Stimme fest, als er sagt: “Das reicht, um jeden von ihnen zu verurteilen.” Torn nickt, denn er weiß, dies ist mehr als ausreichend. Dies ist erdrückend. Draußen sitzen die Brüder getrennt voneinander, gefesselt, bewacht. Hitekiel und Jubal starren ins Leere, ihre Augen wie trübes Glas. Malachias hat die Augen geschlossen, als bete er.

Und Silas, Silas blickt in die Ferne, als erwarte er jemanden oder etwas, das ihn rechtfertigen wird. Als Torn an ihm vorbeigeht, murmelt Silas etwas, ein Satz, den Torn niemals vergessen wird. Leiden reinigt, Reinheit erlöst. Es ist ein Satz, der so ruhig gesprochen wird, so überzeugt, daß Thorn eine Sekunde lang das Gefühl hat, die Luft um sie herum sei kälter geworden.

Thorn befielt, die Frauen und Kinder in den Wagen zu laden. Sie werden ins Bezirksamt gebracht, dann in ein Sanatorium, das Galloway empfiehlt, an einen Ort, an dem sie möglicherweise lernen können, was ein normales Leben ist, oder wenigstens wie man lebt, ohne Schmerzen zu erwarten.

Als die Wagen losfahren, sieht Torn, wie die älteste Frau zum ersten Mal den Blick hebt. Sie schaut in den Wald, in den Nebel, als suche sie etwas, das dort nicht mehr ist. Dann senkt sie den Kopf wieder. Und Torn versteht, sie muß den Wald fürchten. Er war der Ort, an dem viele Kinder verschwanden, die nicht rein genug geboren wurden.

Die Nacht bricht herein, als Thorn und Kellum die Brüder in das Bezirksgefängnis eskortieren. Sie leisten keinen Widerstand, selbst jetzt nicht. Es ist diese fehlende Gegenwehr, die Thorn beunruhigt. Menschen, die überzeugt sind, Böses getan zu haben, kämpfen. Menschen, die wissen, dass sie gegen das Gesetz verstießen, fliehen. Aber Menschen, die glauben, dem Willen Gottes gefolgt zu sein, sie ergeben sich mit einer Ruhe, die schlimmer ist als jede Gewalt.

Als er die Gefängnistür hinter ihnen schließt, spürt Torn, wie sich etwas in ihm verdichtet. nicht Erleichterung noch nicht nur die Schwere der Erkenntnis, dass dies erst der Anfang ist, denn jetzt beginnt der Teil, der oft dunkler ist als jede Entdeckung, die Wahrheit öffentlich zu machen. Der Prozess gegen die Rodenbacher Brüder beginnt am 14.

März des Jahres 1891 im Bezirksicht von Freiburg, einem schlichten Backsteingebäude, das noch nie einen Fall gesehen hat, der so schwer auf den Schultern der Anwesenden lastet. Der Saal ist überfüllt, doch die Stimmung ist nicht neugierig oder sensationshungrig. Sie ist düster, schwer, als hätten alle verstanden, dass nicht nur vier Männer vor Gericht stehen, sondern ein Schweigen, das ein ganzes Tal über Jahrzehnte getragen hat. Richter Whitfield wirkt älter als noch vor wenigen Monaten.

Seine Miene ist hart und als er den Hammer hebt, klingt der Schlag nicht wie ein Ruf zur Ordnung, sondern wie ein Urteil über etwas, das größer ist als der Fall selbst. Der Staatsanwalt, ein junger Mann namens Hand Pierz, tritt vor und beginnt seine Eröffnungsrede mit einer Ruhe, die brennt. Er spricht ohne Ausschmückung.

Er sagt, die Jury werde Beweise sehen, die nicht interpretiert werden müssten. Beweise, die für sich sprächen, Ketten, verschlossene Türen, misshandelte Körper, ein Buch, das kalt und bewusst geführt worden sei. Dann hebt er das lederne Rodenbacher Buch hoch, als wäre es eine verfluchte Reliquie, und sagt: “Diese Seiten sind ein Geständnis, geschrieben von Männern, die glaubten, nie gerichtet zu werden.” Danach beginnt die Beweisführung.

Die Abraham Galloway wird als erster aufgerufen. Sein zwölfseitiger Bericht wird unter der Bezeichnung Exhibit A vorgelesen und die Stille im Saal wird dichter, je länger er spricht. Er beschreibt die Narben an den Handgelenken der Frauen, tief und dauerhaft eingraviert. Er spricht über die Unterernährung, die deformierten Knochen der Kinder, die Spuren jahrzehntelanger Gewalt.

Seine Stimme bleibt sachlich, doch man hört den Zorn, der sich hinter jedem Wort verbirgt. Der Pflichtverteidiger der Brüder, ein blasser Mann namens Griom, versucht eine Frage zur Unsicherheit medizinischer Diagnosen. Gallow antwortet nicht mit Worten, sondern mit einem Diagramm, das er selbst gezeichnet hat.

Darauf vergleicht er die Körpermerkmale der Kinder mit bekannten Fällen aus königlichen Familienlinien Europas, in denen Inzucht dokumentiert war. Die Übereinstimmungen sind unübersehbar. Griom setzt sich ohne weitere Fragen. Die Ketten werden vor die Jury gelegt. Die schweren Eisenteile, die abgenutzten Riemen.

Jedes Mitglied der Jury hebt einen der Ringe an, spürt das Gewicht, sieht die Spuren eingetrockneten Blutes. Niemand sagt ein Wort. Als nächstes tritt Elias Torn in den Zeugenstand. Er schildert die Entdeckung der Dachkammer, die Bolzen, das Herausschlagen der Verriegelung, den Geruch, der ihnen entgegenschlug und die drei Frauen, die ihnen entgegenstarrten, halb tot, halb hoffend.

Er zeigt seine Skizzen, die Maße der Ketten, die Kopien der Strichmarkierungen an der Wand. Und als letzter Punkt holt er das verkohlte Stammbaumfragment hervor, das sie aus der Asche geborgen hatten. Er ließ die Namen, die Linien, die Brüder und Schwestern verbinden, die Notizen, die jede Geburt mit einem Urteil versehen. Es ist still im Saal, so still, dass selbst das Atmen Zuschauer kaum hörbar ist. Dann wird der Rodenbacher Band geöffnet.

Thorn liest, er liest die Titel, die Regeln, die Erklärungen über das reine Blut, die Aufzeichnung über jedes Kind, die Vermerke über die, die dem Wald zurückgegeben wurden. Als er schließt, sind einige Geschworene blass, andere weinen leise. Am siebten Verhandlungstag wird T Rodenbacher in den Saal geführt.

Sie geht langsam, gestützt von einer Krankenschwester. Ihr Körper ist schwach, aber ihre Augen haben einen Ausdruck. Der Torn überrascht. Entschlossenheit. Als sie ihren Namen sagt, zittert ihre Stimme kaum. Pierz beginnt mit einfachen Fragen. Sie antwortet kurz, klar. Sie war 20 Jahre alt, als ihre Eltern ihr erklärten, dass ihre Bestimmung sei, Kinder mit ihren Brüdern zu zeugen, dass Gott ihnen das Blut anvertraut habe, dass Reinheit nur im eigenen Fleisch liege.

Auf die Frage, ob sie gezwungen wurde, sagt sie mit Hunger, mit Ketten und mit der Angst, dass sie eines meiner Kinder in den Wald tragen würden. Der Saal bebt vor Stille. Pierz fragt nach dem Zeitplan. Sie erklärt mit tonloser Genauigkeit den Ablauf. Montag bis Sonntag. Immer derselbe Rhythmus, immer dieselben Schritte. Ordentlich wie Kirchgänge, sagt sie. Niemand stellt weitere Fragen.

Der Verteidiger lehnt eine Gegenbefragung ab. “Ich habe keine Fragen”, sagt Griom mit gesenktem Blick. “Dann werden die Brüder aufgefordert, selbst auszusagen.” Nur Silas steht auf. Er wirkt weder schuldbewußt noch trotzig. Seine Haltung ist die eines Mannes, der glaubt, Recht zu haben.

Er bestätigt alle Fakten ohne Zögern, ohne Rechtfertigung. Er erklärt, dass ihre Familie von Gott auserwählt sei, die Reinheit ihres Blutes zu bewahren, daß sie sich nicht verunreinigen dürften durch das, was er dabei den Schmutz der Außenwelt nennt. Er spricht über die Kinder. Er nennt sie Früchte des Heiligen Bandes.

Und als man ihn fragt, ob er versteht, dass seine Schwestern gelitten haben, sagt er: “Leiden ist der Preis der Reinheit.” Der Aufschrei im Saal ist so laut, daß Whitfield den Hammer mehrfach schlagen muß. Doch der Satz hängt weiter im Raum wie ein kaltes Gewicht. Die Jury braucht 53 Minuten. Sie erklären alle vier schuldig auf allen Anklagepunkten. Wheld verhängt das Urteil.

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Silas und Malachias sollen gehängt werden. Hezekiel und Jubal lebenslang ins Zuchthaus. Die Brüder zeigen keine Regung. Als wären die Worte, die ihr Leben beenden, lediglich eine Notiz in einem Buch, das für sie schon geschlossen ist. Sechs Monate nach dem Urteil hängen dichter Herbstnebel und der Geruch feuchter Erde über dem Hof des Zuchthauses von Bruchsaal.

Es ist früher am Morgen, die Stunde, in der selbst die Wächter nur gedämpft sprechen. An diesem Tag sollen Silas und Malachias Rodenbacher ihre Strafe empfangen. Nicht eine einzige Seele außer den Pflichtzeugen und den Beamten ist anwesend. Es gibt keine Familie, die Abschied nimmt, keine Freunde, die trauern, kein Geistlicher, der von den Verdammten gerufen wurde.

Silas hatte erklärt, er brauche keinen Pfarrer. Malachias hatte geschwiegen. Der Schafrichter erledigt seine Vorbereitung schweigend. Er ist ein Mann mit einem Gesicht wie aus Holz geschnitzt und er hat den Blick von jemandem, der weiß, dass gewisse Arbeiten ohne Emotion verrichtet werden müssen, wenn man daran nicht zerbrechen will. Thorn steht etwas abseits zusammen mit Kellum.

Er ist als Vertreter des Gerichts anwesend, eine Pflicht, die er weder verweigern kann noch will. Er hat den Männern ins Gesicht gesehen, hat ihre Überzeugung, ihre Kälte, ihre religiöse Selbstvergötterung gehört. Und doch, als er sie jetzt sieht, die Hände gefesselt, die Körper ruhig, überkommt ihn ein unerwartetes Gefühl, nicht Mitleid.

Nein, eher der Schock darüber, dass selbst das schrecklichste menschliche Züge tragen kann. Silas wird zuerst hinausgeführt. Er geht mit gleichmäßigem Schritt die Schultern aufrecht, als betrete er eine Kirche. Kein Zittern, keine Eile, als würde er einen Weg gehen, den er sich selbst gezeichnet hat. Er bleibt unter dem Galgen stehen, hebt den Kopf und lässt den Blick über den Hof wandern. Als er Torn entdeckt, lächelt er schwach.

Ein Lächeln, das weder Wärme noch Kälte enthält, sondern eine Art seltsame Gewissheit. Das Fleisch vergeht, sagt er leise, kaum hörbar im Nebel. Das Blut nicht. Thorn antwortet nicht. Er würde ihm keine einzige Silbe schenken, die er deuten könnte, wie Zustimmung. Der Strick wird gelegt, ein kurzes Rucken. Der Körper fällt.

Ein endgültiges Ende, das keinerlei Dramatik hat, nur ein Ton, der in der Stille verschluckt wird. Malachias folgt als nächster. Er sagt nichts, nicht ein einziges Wort. Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, als würde er innerlich in einen Ort fliehen, der längst jenseits menschlicher Reichweite liegt.

Als auch sein Körper fällt, ist der Vorgang ebenso still, ebenso nüchtern, ebenso schrecklich, einfach wie zuvor. Die Toten werden abgenommen. Ihre Körper werden ohne besondere Zeremonie in einfache Särge gelegt. Der Amtsarzt bestätigt den Tod. Die Register werden ausgefüllt. Einziger Eintrag: Hinrichtung gemäß urteilvoll streckt. Kein Zusatz.

Keine Anmerkung über die Ungeheuerlichkeit ihres Lebens. Nur der formale Akt, den das Gesetz verlangt. Hekiel und Jubal bleiben im Zuchthaus zurück. Hitekiel stirbt acht Jahre später an einer Lungenentzündung, abgeschirmt in einer Zelle, die kaum Licht sieht. Juba lebt noch länger. Er übersteht das Jahrhundert nicht.

Sein Tod wird im Jahr 192 notiert. Der Eintrag lautet: Herzversagen. Ohne weitere Details, ohne irgendeinen Hinweis, dass sein Leben mehr war als ein Verbrechen und eine Folge von Verbrechen. Doch damit endet der Schatten der Rodenbachers noch nicht. Die drei Schwestern und die elf überlebenden Kinder werden auf Anordnung des Gerichts in ein abgelegenes Sanatorium im Norden Badens gebracht.

Dr. Galloway selbst begleitet sie. Der Ort ist diskret, finanziert teilweise vom Bezirk, teilweise anonym, um neugierige Fragen zu vermeiden. Die Schwestern erhalten eigene Zimmer, einfache Kleidung, drei Mahlzeiten täglich. Niemand zwingt sie zu sprechen, niemand stellt Fragen. Ärzte und Pfleger bewegen sich in ihrer Nähe nur vorsichtig, denn aus den Augen der Frauen ist klar abzulesen, dass Vertrauen ein Luxus ist, den sie vielleicht nie wieder empfinden werden. Die Kinder werden untersucht, behandelt,

gepflegt. Manche beginnen nach einigen Wochen zu lächeln, andere bleiben still. Wieder andere scheinen in einer eigenen Welt zu leben, unfähig, äußere Reize zu deuten. Der Alltag im Sanatorium ist geprägt von leisen Schritten, gedämpften Stimmen und einem behutsamen Versuch, drei Jahrzehnte der Gefangenschaft aus Körpern und Seelen zu lösen.

Thorn besucht sie einmal nicht als Richter, sondern als Mann, der die Verantwortung für ihre Befreiung trägt. Er spricht nicht viel. Er sitzt lange einfach nur dort auf einer Holzbank im Garten des Sanatoriums, während die Kinder mit Stöcken im Kies zeichnen. Die älteste Schwester sitzt neben ihm. Sie sagt nur einen Satz.

Ich wusste, dass jemand kommt, aber nicht, dass ich ihn noch erleben würde. Torn antwortet nicht. Er spürt, daß jede Antwort zu klein wäre für das, was sie durchlebt haben. Als er das Sanatorium verlässt, fällt ihm auf, wie still der Waldrings um ist. Kein bedrohliches Schweigen wie im Dunkelgrundtal.

Er ein stiller, sanfter Klang, ein Atemzug der Welt, der nicht schmerzt. Er hofft, dass die Frauen und Kinder irgendwann ebenfalls so atmen können. Hoffen darf er. Aber wissen kann er es nicht. Erst ein Jahr nach dem Prozess erreicht ihn die letzte Nachricht im Fall Rodenbacher. Ein Bewohner des Dunkelgrundtals berichtet, dass in einer Wintersturmnacht ein großer Feuerschein auf dem Rodenbacher Anwesen gesehen wurde.

Als man am nächsten Morgen nachsah, war das Haus abgebrannt. Nichts stand mehr außer dem steinerndnen Schornstein. Keine Untersuchung wurde eingeleitet, kein Verdächtiger ermittelt, kein Bericht verfasßt. Torn weiß sofort, was das bedeutet. Jemand wollte, dass nichts mehr übrig bleibt, dass kein Stück Holz, kein Fetzenstoff, kein letzter Schatten der Vergangenheit weiterlebt, nicht als Mahnmal, nicht als Fluch, vielleicht als Gnade, vielleicht als Vertuschung, vielleicht beides.

Der Rodenbacher Band jedoch, das einzige Dokument, das die ganze Wahrheit enthält, wird versiegelt. Unter Schloss und Riegel im Archiv des Großherzogtums Baden für Augen, die stärker sind als jene der meisten Menschen. Torn schließt die letzte Akte mit einem Gefühl, das weder Sieg noch Erleichterung ist. Er ein leiser nüchterner Schmerz, denn das Dunkel im Dunkelgrundtal ist ausgelöscht, aber das Wissen darum bleibt.

Der Frühling des Jahres 1892 bringt milde Winde über den Schwarzwald. Doch für Elias Thorn fühlt sich die Welt schwerer an als zuvor. Die Rodenbache Akte ist abgeschlossen, die Urteile vollstreckt, die Überlebenden versorgt und doch lastet die Erinnerung wie ein Stein auf seiner Brust.

Das Gericht hat seine Pflicht erfüllt, aber Thorn weiß, dass Gerechtigkeit nur ein Teil der Wahrheit ist. Der andere Teil bleibt in den Schädeln der Menschen, die davon gehört haben und nun versuchen, das Grauen in etwas Fassbares zu verwandeln. Im Bezirksamt tauchen erste Gerüchte auf, flüsternde Stimmen, Dorfleute, die behaupten, nachtschritte im Dunkelgrundteil gehört zu haben, obwohl das Anwesen seit dem Brand verlassen ist.

Andere schwören im Nebel eine Gestalt gesehen zu haben, groß, mit hageren Schultern, ein Mann, vielleicht ein Schatten, vielleicht nur die Fantasie jener, die wissen, was dort oben Jahrzehntelang geschehen ist. Thorn weiß die Geschichten zurück. Er sagt: “Angst sei ein schlechter Zeuge.” Doch selbst in ihm beginnt ein leises Unbehagen zu nagen, wenn er an die Worte denkt, die Silas Rodenbacher kurz vor der Hinrichtung gemurmelt hatte. “Das Blut vergeht nicht.

Thorn hält es für religiösen Warnen. Und doch, etwas in der Art, wie Silas es sagte, haftet am Gedächtnis wie Rauch an Kleidung.” Im Mai besucht torn das Archiv, um sich zu vergewissern, daß das Rodenbacher Buch tatsächlich unter Verschluss liegt. Der Archivar bestätigt es. Das Buch ruht in einer metallenen Kassette, versiegelt, beschriftet, mit einem einzigen Satz, nur auf Anordnung des Gerichts zu öffnen. Thorn betrachtet die Kassette und ein merkwürdiger Gedanke keimt in ihm auf.

Was, wenn dieses Buch nicht nur Beweis ist, sondern Werkzeug? Ein Werkzeug, das jene, die sich schwach fühlen, verführen könnte mit der Illusion von Reinheit, Ordnung, Macht. Der Gedanke ist so verstörend, dass Thorn ihn sofort verdrängt. Dies ist der Aberglaube jener, die den Wald fürchten, nicht der Verstand eines Richters. Doch die Rodenbacher Geschichte ist wie ein Dorn im Fleisch des Schwarzwaldes.

Die Zeitungen schreiben darüber. Erst vorsichtig, dann sensationslüstern. Überschriften wie das sündige Tal, die Blutbrüder des Schwarzwalds oder verlorene Seelen im Dunkelgrund verbreiten sich in der Region. Der Fluch des Skandals trifft auch die Familien der umliegenden Höfe. Kinder werden gehänselt, Bauern werden mißstrauisch beeugt.

Der Name Rodenbacher wird zum Schimpfwort. Einige Wochen später betritt ein junger Mann Torns Büro. Er stellt sich als Gottlieb Mertens vor, Angehöriger eines zwölfjährigen Mädchens, das im Sanatorium untergebracht wurde. Thorn erinnert sich, es war eines der Kinder, die geistig kaum erreicht werden konnten.

Gott lieb wirkt höflich, doch seine Augen verraten eine innere Unruhe. Er fragt nach Unterlagen, nach dem Verlauf der Untersuchung, nach den Gründen, weshalb seine Cousine nicht zu Verwandten zurückkehren dürfe. Thorn erklärt ruhig, dass dies im medizinischen und moralischen Interesse des Kindes sei. Mertens hört zu, nickt, bedankt sich, doch Thorn merkt, dass der junge Mann nicht überzeugt ist.

Als er gegangen ist, bleibt ein merkwürdiger Nachgeschmack zurück, ein Funken von etwas, das Thorn nicht benennen kann. Mißtrauen, Verzweiflung oder etwas, das er lieber nicht in Worte faßt. Im Sommer kehrt Thorn einmal mehr ins Sanatorium zurück. Die Kinder machen kleine Fortschritte.

Eine der Mädchen zeichnet Kreise in den Sand. Ein Junge beginnt Worte zu formen. Die älteste Schwester sitzt wie immer auf einer Bank, den Blick auf die Berge gerichtet. Ihre Stimme ist etwas voller geworden, ihre Haut gesünder, doch die Schatten in ihren Augen bleiben. Sie fragt Thorn: “Was geschieht mit dem Haus?” Thorn antwortet: “Es existiert nicht mehr.

” Sie schließt die Augen, als höre sie eine Nachricht, die sie sich jahrzehntelang erhofft hat. Doch als Thorn später über das Gelände geht, spricht ihn die Sanatoriumsleiterin an. Eine strenge Frau, deren Blick nichts entgeht. Sie sagt, einige der Frauen hätten nachts Albträume. Sie flüsterten im Schlaf. Namen, Rituale, wiederholte Sätze.

Besonders oft Falle der Satz: “Der Dienstag gehört mir.” Thorn verspürt einen Schauer, der nicht von der Abendkälte kommt. Die Frauen sind frei, aber ihre Gedanken noch nicht. Und vielleicht werden sie es nie sein. Der Herbst zieht herauf und Thorn findet immer öfter, dass seine Hand beim Schreiben leicht zittert. Nicht aus Angst, sondern aus Müdigkeit, die wie Rost an seinen Gelenken nagt.

Er versucht, sich mit Arbeit abzulenken. Neue Fälle, kleine Streitigkeiten, gewöhnliche Kriminalität. Doch nichts davon brennt sich ein wie die Stille in der Dachkammer, die Augen der Kinder, die Worte der Brüder. Eines Morgens, als Thorn seinen Schreibtisch öffnet, liegt dort ein Brief. Ohne Absender, ohne Siegel, nur sein Name auf dem Umschlag.

Die Handschrift wirkt unbeholfen, fast kindlich. Er reißt das Papier auf. Darin steht ein einziger Satz: Manches Blut ruht nicht, mehr nicht. Kein Name, keine Drohung, keine Unterschrift. Torn hält den Brief lange zwischen den Fingern. Der Nebel kriecht an diesem Tag besonders dicht über die Straßen und für einen Moment hat er das Gefühl, als sei der Dunkelgrund selbst in sein Büro gedrungen.

Doch er legt den Brief beiseite, atmet tief und zwingt sich zur Vernunft. Dies ist aber Glaube. Nichts weiter. Die Rodenbachers sind Geschichte. Tot oder in Zellen. Das Tal ist leer. Der Wald schweigt. Und dennoch, als er an diesem Abend das Licht löscht und die Tür schließt, sieht er im Fenster sein eigenes Spiegelbild und schwört einen Moment lang etwas Dunkles hinter sich stehen zu sehen, nur einen Atemzug lang. doch genug, um ihn frösteln zu lassen.

Der Winter des Jahres bricht ungewöhnlich früh über den Schwarzwald herein. Die Tannen stehen schwer unter nassem Schnee und der Wind schneidet durch die Schluchten wie ein Messer. Für Elias Thorn bedeutet der Wintermeist Ruhe im Amt, weniger Reisende, weniger Streitfälle, weniger Vergehen.

Doch in diesem Jahr bringt der Winter keine Ruhe, nur Kälte und Schatten. Seit dem anonymen Brief schläft Thorn schlecht. nicht aus Angst, sondern weil seine Gedanken wie ein Mühlrad kreisen. Immer wieder sieht er die Dachkammer vor sich, die Strichmarkierungen an der Wand, die deformierten Kinderhände, das lähmende Schweigen.

Er sagt sich, dass der Brief nur ein schlechter Scherz sei, geschrieben von jemandem, der zu viel über den Fall gehört hat. Doch der Gedanke fällt nicht auf fruchtbaren Boden. Er bleibt auf der Oberfläche seines Bewusstseins liegen wie Eis, das nicht schmelzen will. An einem eisigen Morgen besucht Thorn erneut das Sanatorium. Nicht aus Pflicht, aus Unruhe. Die Ärzte berichten, daß einige der Kinder erstmals ohne Angst einen Raum betreten.

Zwei der Jungen beginnen einfache Worte nachzusprechen. Eine der Frauen, die jüngste hat gelernt mit ruhiger Stimme zu sagen: “Ich bin frei.” Doch die älteste Schwester Thema spricht kaum noch. Sie sitzt stundenlang am Fenster, als lausche sie auf etwas, das für andere unhörbar ist. Als Thorn sie anspricht, hebt sie den Kopf.

Ihre Augen haben eine Klarheit, die ihm sofort auffällt, als wäre etwas in ihr erwacht. “Es ist nicht vorbei”, sagt sie leise. Thorn setzt sich zu ihr. “Was meinst du damit?” Sie schließt die Augen, als würde sie einen Gedanken suchen, den man nur im Dunkel findet. Dann sagt sie: “Es gab Regeln, immer Regeln, immer Tage und immer einer, der prüfte. Sie atmet langsam aus.

Ihr habt alle gerichtet, aber wer richtet die Regeln? Thorn versteht nicht sofort. Doch bevor er nachfragen kann, erscheint Dr. Galloway, der ihn zu einem Gespräch bittet. T lässt seine Hand los und senkt den Blick, als wären ihre Worte nur ein kleiner Teil dessen, was sie sagen wollte. Galloway für Thorn in einen der hinteren Räume des Sanatoriums, in dem ein Kind liegt, ein Junge, kaum sechs Jahre alt, mit verdrehten Gliedmaßen und großen dunklen Augen. Doch etwas ist neu.

Der Junge starrt Torn an, nicht leer, nicht verwirrt, sondern wissend, als hätte er etwas erkannt. Ein Funke, der zuvor nicht da war. “Er beginnt zu sprechen, sagt Galloway. nur einzelne Silben. Aber gestern hat er ein Wort geformt. Welches? Dienstag. Torn friert innerlich. Vielleicht ein Echo aus der Vergangenheit. Vielleicht sagt Galloway.

Oder vielleicht wird das, was man einem Kind einprägt, besonders einem Kind, das nie anderes hörte, nie ganz verschwinden. Der Arzt schließt die Akte. Die Narben verschwinden, die Rituale nicht. Auf dem Rückweg durch die verschneiten Wege schweigt Torn. Der Schnee knirscht unter seinen Stiefeln und der Himmel ist so grau, dass er keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht erkennen kann.

Als er das Sanatorium verlässt, wartet vor dem Tor ein Mann. Torn erkennt ihn sofort. Gott lieb Mertens, der junge Verwandte eines der Kinder. Sein Mantel ist durch Nest, seine Finger rot vor Kälte. Er wirkt nicht feindselig. Er verzweifelt. Herr Richter sagte er mit brüchiger Stimme.

Ich muß wissen, wird man sie uns jemals zurückgeben? Torn wählt seine Worte sorgfältig. Ihre Cousine braucht Schutz, medizinische Betreuung, Ruhe, Dinge, die sie ihr nicht geben können. Gott lieb presst die Lippen zusammen. Aber niemand aus unserer Familie hat jemals etwas falsch gemacht. Niemand außer denen. Er deutet mit einer ruckartigen Bewegung in Richtung Dunkelgrundtal.

Und trotzdem tragen wir jetzt ihren Namen wie Schmutz. Thorn erkennt den Schmerz des Mannes, aber auch etwas anderes. Eine Härte, eine Bitterkeit, die leicht Wurzeln schlagen könnte, wenn man sie nicht stoppt. Es geht nicht um Schuld, sagt Thorn ruhig. Es geht um Heilung. Gott lieb starrt ihn an. Ein Moment lang scheint er etwas sagen zu wollen, etwas tief in ihm brennt.

Doch stattdessen atmet er scharf ein, dreht sich um und geht. Sein Schritt ist fest, zu fest. Als Thorn in sein Büro zurückkehrt, liegt ein zweiter Brief auf seinem Tisch. Wieder ohne Absender. Diesmal nur zwei Worte. Nicht allein. Torn setzt sich langsam. Der Ofen knistert leise, doch die Wärme erreicht ihn nicht. Er legt die beiden Briefe nebeneinander.

Das Papier ist dasselbe. Die Handschrift ähnlich, kindlich oder absichtlich unbeholfen. Er sagt sich, dass dies Zufall sei. Zufall oder ein schlechter Scherz. Vielleicht ein junger Bursche, der sich einen Nervenkitzel verschaffen will. Vielleicht. Doch in dieser Nacht, als Thorn im Bett liegt und den Wind durch die Dächerheulen hört, hat er zum ersten Mal das Gefühl, dass der Fall Rodenbacher nicht abgeschlossen ist.

Nicht wirklich, nicht endgültig, nicht solange Schatten länger sind als ihre Verursacher. Der Januar des Jahres 1892 vergeht, doch der Frost löst sich nicht. Die Nächte werden härter, der Wind beißt in die Fassaden und über Freiburg legt sich jene erstickende Stille, die nur tiefster Winter hervorbringen kann.

Elias Thorn hält sich an seiner Arbeit fest, doch innerlich spürt er, daß etwas Unausgesprochenes näher rückt. Der Fall Rodenbacher, von Akten geschlossen und von Urteilen versiegelt, zieht wie ein unsichtbarer Faden an seinem Denken. Der dritte Brief erreicht ihn an einem dunklen Morgen.

Er liegt nicht im Büro, sondern vor seiner Haustür, auf dem Holzbrett, halb vom Schnee bedeckt. Die Handschrift ist dieselbe. Krakelig und unruhig. Auf dem Papier steht diesmal kein Satz, kein Wort, nur eine Zeichnung. Drei Striche, dann fünf, dann wieder drei. Fünfer Gruppen, Strichlisten. Genau wie in der Dachkammer. Thorn hält das Papier fest, bis seine Finger taub werden.

Er verbrennt den Brief im Ofen, nicht aus Angst, sondern um sich nicht weiter von Aberglauben leiten zu lassen. Doch der Rauch, der aus dem Ofen aufsteigt, riecht süßer als gewöhnlich. Er erinnert ihn an die Dachkammer, an Feulnis und Lauge und Jahre, die nicht sterben wollen.

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Am nächsten Tag sucht Thorn erneut das Gespräch mit dem Archivar, um den Zustand der versiegelten Kassette zu prüfen. Alles ist unverändert. Kein Einbruch, kein Zugriff, keine Merkwürdigkeit. Doch als Thorn das Gebäude verlässt, sieht er am unteren Rand des Archivfensters ein Muster im beschlagenen Glas. Als hätte jemand mit dem Finger hineingeschrieben. Drei Striche, Pause. Zwei Striche.

Nicht geschlossen wie ein Wort, mehr wie eine Antwort auf einen Gedanken. Er wischt es weg. Der Nebel liegt schwer auf dem Heimweg und verschluckt die Straßen. Torn geht schneller als gewöhnlich. Das Gefühl, beobachtet zu werden, begleitet ihn bis zur Haustür. Als er eintritt, fällt ihm der Klang auf.

Ein kleines, kaum hörbares Geräusch, ein dumpfes, rhythmisches Klopfen. Er braucht einige Sekunden, um die Quelle auszumachen. Die Fensterläden, die vom Wind bewegt werden. Doch das Klopfen klingt nicht zufällig. Es klingt wie Schritte. Drei, dann Stille, dann zwei. Er steht da und zählt die Schläge, bis der Wind dreht und die Stille wiederkommt.

Am folgenden Morgen erreicht Torn eine Nachricht aus dem Sanatorium. Dr. Galloway bittet um dringende Rücksprache. Torn macht sich noch am selben Tag auf den Weg. Der Himmel hängt bleigrau über den Hügeln, doch der Schnee glitzert in einer sonderbaren Helligkeit. Im Sanatorium empfängt ihn die Leiterin sofort. Ihre Miene ist ernst, fast angespannt. “Es geht um Tamar”, sagt sie ohne Umschweife.

“Sie spricht seit zwei Tagen immer denselben Satz. Thorn geht mit schnellen Schritten zu ihrem Zimmer. Sitzt wie immer am Fenster, doch diesmal wirkt sie anders. Wach, unruhig. Ihre Hände zittern leicht. Als Thorn eintritt, hebt sie langsam den Kopf. Ihre Lippen bewegen sich. Er tritt näher. Er prüft noch. Torn friert innerlich. Wer? Tamar. Wen meinst du? Sie blinzelt.

Eine einzelne Träne läuft über ihre Wange. Der immer prüfte. Der der sah, ob wir taten, was verlangt war. Der, der nicht starb. Silas ist tot, sagt Thornruhig, fast zu ruhig. Nicht Silas, flüstert sie. Er, der andere, der immer draußen war. Ihr Atem wird schneller, der uns zählte, der die Striche verstand. Torn fängt ihren Blick auf. Da ist etwas in ihren Augen.

Eine Erinnerung, die erst jetzt durchbricht, weil der Schrecken langsam nachlässt. Die Leiterin legt eine Hand auf Thorns Arm. Sie sprach auch im Schlaf. Sie sagte: “Der Wächter, der Wächter. Thorn flüsterte die Worte, als gehörten sie nicht in diese Welt. Ja, antwortete Tema, der niemals kam, aber immer da war.

Bevor Thorn weiterfragen kann, läuft ein Pfleger herbei. Im Kinderzimmer sei etwas vorgefallen. Thorn eilt mit Galloway hin. Als sie eintreten, stehen zwei der Jungen im Raum. Die Gesichter blass, die Augen auf ein Fenster gerichtet. Schnee und Eis bedecken die Scheibe. Doch im Tauwasser erkennt Torn sofort die Muster. Striche, Gruppen 3 5 3 5 3 und darunter, als hätte ein Finger in das Glas gekratzt. Dienstag. Galloway wendet sich ab.

Sie wiederholen nur, was sie kannten. Das ist keine Botschaft, Elias. Nur Erinnerung. Torn nickt. Er will es glauben. Er muß es glauben. Doch als sie später durch den Park des Sanatoriums gehen, spricht eines der Kinder, ein Mädchen mit blonden Locken, das bisher kaum mehr als Klänge von sich gegeben hatte. Plötzlich klar und deutlich.

Der Mann im Wald. Torn bleibt stehen. Welcher Mann? Sie hebt den Arm, zeigt auf den dunklen Rand des Schwarzwaldes. Der Mann, der zählt. Wann hast du ihn gesehen? Sie zuckt mit den Schultern. Immer. Torn fühlt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Er beugt sich hinab auf ihre Höhe.

Wie sieht er aus? Das Mädchen legt den Kopf schief wie ein Baum. Ein Baum? Ein Alter mit einem Gesicht. Sie lächelt unsicher. Er hat immer gewartet. Thorn richtet sich auf. Sein Herz schlägt zu schnell. Ein Baum mit einem Gesicht, eine kindliche Fantasie oder ein Bild, das ein Kind nutzt, um etwas zu beschreiben, das jenseits seines Verständnisses liegt.

Gallow legt Thorn die Hand auf die Schulter. Du bist müde, du hörst überall Schatten. Laß das Tal Tal sein, lass den Wald Wald sein. Doch Thorn weiß, dass manche Wälder Geschichten speichern und manche Geschichten verschwinden nicht, nur weil ihre Erzähler sterben. In dieser Nacht träumt Thorn zum ersten Mal seit Monaten wieder von der Dachkammer. Doch diesmal sind die Wände leer.

Keine Striche, keine Kratzer, nur ein Schatten, der hinter ihm steht und leise zählt. Der Februar bringt Tauwetter, aber keine Erleichterung. Der Schnee schmilzt zu grauen, fauligen Rändern entlang der Wege, die Bäche schwellen an und der Schwarzwald riecht nach nassem Holz und altem Laub. Doch für Elias Thorn ändert sich nichts.

Der Druck auf seiner Brust bleibt. Der Schlaf kommt nur selten. Und wenn er kommt, fühlt er sich an wie ein Sturz in dunkles Wasser. Seit dem Besuch im Sanatorium meidet Thorn das Dunkelgrundtal. Nicht aus Feigheit, sondern weil er spürt, dass der Ort ihn wie ein Magnet anzieht. Er weiß, wenn er dorthin zurückkehrt, wird er etwas suchen, das vermutlich nie existiert hat.

oder etwas finden, das besser unentdeckt bleibt. Der Alltag im Bezirksamt geht weiter. Ein Streit über ein Grenzstück, ein Diebstahl im Dorf, ein Pferd, das angeblich verhext ist. All diese Fälle behandelt Thorn mit Routine, doch sein Blick wandert immer wieder zum Fenster, als erwarte er im Nebel eine Gestalt zu sehen.

Eines Abends, während Thorn bei Kerzenlichtberichte sortiert, hört er Schritte auf dem Flur, langsam, unruhig. Er blickt auf, doch bevor er etwas sagen kann, öffnet sich die Tür. Es ist Gottlieb Mertens. Der junge Mann wirkt verändert, abgemagert, blass, seine Augen haben dunkle Ringe, als hätte er tagelang nicht geschlafen.

“Ich muss mit ihnen sprechen”, sagt Gott lieb atemlos. Thorn legt die Feder weg. “Kommen Sie herein.” Gottlib tritt ein, aber er setzt sich nicht. Er bewegt sich ruhelos im Raum wie jemand, der sich vor sich selbst fürchtet. “Ich war im Dunkelgrundtal”, sagt er plötzlich. Thorn richtet sich auf. Warum? Ich wollte sehen, ob ob wirklich alles verbrannt ist.

Das Haus, meine Familie, ihr Vermächtnis. Seine Stimme zittert. Ich dachte, vielleicht finde ich etwas, das zeigt, dass wir nicht alle verflucht sind. Und fragt Thorn. Gottlieb schluckt schwer. Ich habe etwas gehört. Torn schließt die Augen für einen kurzen Moment. Natürlich. Natürlich hat er etwas gehört. Das Tal war schon immer ein Ort, an dem der Wind seltsame Geräusche trägt.

Was haben Sie gehört? Schritte. Gott lieb atmet flach. Im Wald hinter mir. Langsame Schritte. Nicht wie ein Tier, eher wie ein Mensch, der barfuß über Wurzeln geht. Thorn sagt nichts. Ich drehte mich um, flüstert Gott lieb. mehrmals. Ich sah niemanden, aber jedes Mal, wenn ich mich wieder abwandte, begann es erneut. Er hält inne, reibt sich die Hände und dann sah ich etwas im Schnee. Was? Striche.

Gottlieb hebt zittern zwei Finger, fünf in einer Reihe und daneben drei. Wie wie damals auf den Wänden? Thorn fühlt einen Stoß durch den Körper, doch seine Stimme bleibt kontrolliert. Das kann jeder gezeichnet haben. Kinder, Holzfäller, Wanderer. Es waren keine frischen Spuren. Prst Gott lieb hervor.

Sie waren alt wie eingeritzt. Seine Stimme wird brüchig. Als hätte jemand über Jahre, jahrelang, denselben Fleck im Schnee freigelegt. Torn steht auf und geht langsam zum Fenster. Der Abend ist dunkel. Dichter Nebel schiebt sich zwischen den Häusern hindurch. Er sieht sein eigenes Spiegelbild im Glas und dahinter nur Schwärze.

“Sie stehen unter großem Druck”, sagt Thorn mit ruhiger Stimme. “Ihre Familie hat viel Leid erfahren. Es ist normal, dass sich Erinnerungen verzerren.” Gottlieb lacht hart. Sie denken, ich werde verrückt. “Ich denke”, sagt Thorn vorsichtig, “dass Dinge sehen, die Ausdruck ihres Schmerzes sind. Gottlib tritt näher, zu nah. Sein Atem riecht nach Angst und Müdigkeit.

Und was ist mit Ihnen, Herr Richter? Sehen Sie nichts? Hören Sie nichts? Torn antwortet nicht. Gott lieb senkt die Stimme. In den Dörfern sagt man, einer der Rodenbachers sei entkommen. Das ist nicht wahr, sagt Thorn schaf. Vier Brüder, vier Urteile, zwei tot, zwei im Zuchthaus. Niemand ist entkommen. Vielleicht kein Bruder.

Gott lieb hebt den Kopf. Vielleicht jemand anderes. Ein Knistern durchzieht die Luft, als würde ein Kaminholzscheid reißen. Torn spürt es ebenfalls, etwas Unsichtbares, das den Raum verdichtet. Er zwingt sich zur Nüchternheit. “Gehen Sie nach Hause”, sagt Thorn. “Ruhen Sie sich aus. Ich werde mich um diesen Vorfall kümmern.

” Gott lieb Nick zögernd. Er wirkt nicht beruhigt. Eher, als hätte er noch etwas sagen wollen, aber den Mut verloren. Er drückt sich an Torn vorbei, öffnet die Tür und bleibt ein letztes Mal stehen. Herr Richter, ja, wenn Sie hören, wie jemand zählt, seine Stimme wird heiser. Antworten Sie nicht, dann ist er verschwunden. Torn bleibt lange am Fenster stehen. Der Nebel wird dichter.

Irgendwo in der Ferne schlägt eine Kirchturmuhr. Und als der letzte Gong verhalt, glaubt Thorn einen Moment lang etwas zu hören. Drei Schritte, Pause, zwei Schritte, wie ein Echo. Oder wie jemand, der wartet, bis die Stille wieder tief genug ist, um darin zu zählen. Die folgenden Tage werden für Elias Torn zu einem grauen Strom aus unerledigten Gedanken, schlaflosen Nächten und einer wachsenden Unruhe, die wie ein kalter Nebel in seinem Inneren sitzt. Die Worte Gott lieb Mertens.

Wenn Sie hören, wie jemand zählt, antworten Sie nicht. Verfolgen ihn. Er sagt sich immer wieder, daß dies reiner Aberglaube sei, daß ein gebrochener junger Mann im Dunkelgrundtal nur die Schatten seiner Angst gesehen habe. Aber der Gedanke fällt in Torn nicht auf nüchternen Boden. Der Boden in ihm selbst hat Risse.

In der dritten Nacht nach Gottliebs Besuch schreckt Thorn auf. Kein Albtraum, nur ein Geräusch. Er sitzt kerzengrade im Bett, lauscht, das Haus ist still. Zu still. Dann hört er es wieder. Ein leises Knacken, ein Rascheln. Schritte im Flur. Er schleicht zur Tür, öffnet sie langsam. Der Flur liegt im Dunkeln, doch nichts bewegt sich. Keine Schatten, keine Geräusche.

Er schließt die Tür wieder und genau im selben Augenblick ertönt ein leises Tippen am Fenster. Drei Schläge, Pause. Zwei Schläge. Er dreht sich abrupt um. Sein Herz schlägt so heftig, dass es ihm schmerzt. Doch als er das Fenster erreicht und die Vorhänge aufreißt, sieht er nichts außer dem immer gleichen Winternebel. Die Scheibe ist beschlagen und im Kondenswasser scheint eine Form zu entstehen, die er mit einem Tuch sofort wegwischt, bevor er sie genauer erkennt. Er antwortet nicht.

Kein Laut kommt über seine Lippen. Am nächsten Morgen beschließt Thorn, die Sache zu klären. Rational, endgültig. Er reißt ins Dunkelgrundtal trotz seiner eigenen Warnung, nicht mit Angst, sondern mit Zorn. Er sagt sich, dass er dem Aberglauben nur entkommen kann, wenn er ihn entlarft.

Das Tal empfängt ihn wie immer, still, grau, mit jenen tiefen Furchen aus Nebel, die jeden Spaziergänger verstummen lassen. Die Überreste des Rodenbacherhauses sind kaum noch erkennbar. Der Schnee hat sich in den Aschenboden gefressen. Nur der steinerne Schornstein steht noch wie ein Grabmal. Torn steigt ab, tritt näher. Jeder Schritt knirscht auf gebrochenem Holz und verbrannten Resten. Er untersucht die Umgebung.

Nichts, kein Fußabdruck außer seinen eigenen, keine frischen Spuren, keine eingeritzten Zeichen, nur Kälte, die sich in seine Knochen frisst. Er bleibt stehen, lauscht und spürt plötzlich die absolute Stille. Kein Vogel, kein Wind, kein Tropfen, der vom Schnee fällt, nur Stille, die fast dröhnt. Und dann hinter sich ganz nah ein Keuchen. Torn fährt herum, nichts, nur Nebel.

Der Atem gefriert ihm in der Kehle. Er steht lange da, zu lange, und erst als ein lauter Kränruf den Bann bricht, gelingt es ihm, sich wieder zu bewegen. Er kehrt dem Schornstein den Rücken zu und verlässt das Tal. Er hat keine Antworten gefunden, aber genug Unbehagen, um zu wissen, dass er damit nicht allein ist.

Zurück im Amt erwartet ihn eine weitere Überraschung. Gott lieb Mertens ist verschwunden. Seit zwei Tagen hat niemand ihn gesehen. Seine Verwandten sagen, er sei weggegangen, um etwas zu klären. Seine Jacke fehlt, seine Stiefel auch. Thorn spürt ein Ziehen in der Brust. Er weiß, wohin Gott lieb gegangen sein muss. Wieder ins Tal, wieder zu den Ruinen seiner Familie.

Thorn setzt sich an seinen Schreibtisch, doch bevor er einen Suchtrup anfordern kann, klopft es an seiner Tür. Ein Bote, atmenduchend, die Mütze in der Hand. Herr Richter, man hat etwas gefunden. Es ist der Förster aus dem Gebiet nördlich des Dunkelgrundtals. Er führt Torn zu einer Stelle am Rand des Waldes.

Dort, im halbgeschmolzenen Schnee, liegt ein Mantel. Ein dunkler Wollmantel. Torn erkennt ihn sofort. Gottliebsmantel. In der Nähe finden sie Spuren, die Abdrucke von Stiefeln, also zunächst Spuren, aber dann hören sie auf. enden abrupt, als hätte jemand angefangen zu gehen und wäre mitten im Schritt verschwunden. Doch das ist nicht das Schlimmste.

Neben den Spuren finden sie Linien im Schnee, eingeritzt, tief, als hätte jemand mit einem Stock oder einem Messer gezogen. Fünf Striche, dann eine Lücke, dann drei. Torn start darauf. Der Förster sagt wahrscheinlich Kinder aus dem Ort oder Holzarbeiter, aber Thorn weiß, das stimmt nicht. Die Linien sind zu gleichmäßig, zu tief und zu vertraut.

Am Abend zurück im Amt findet Thorn einen vierten Brief auf seinem Schreibtisch. Keine Handschrift, nur ein gefaltetes Blatt. Er öffnet es. Darauf steht: “Dienstag, nur dieses eine Wort. Und genau in diesem Moment fällt Thorn ein Detail ein, das er vergessen hat. Als er im Dunkelgrundtal war, war es Dienstag.

Wie ein Knoten zieht sich etwas in seinem Inneren zusammen. Er lässt sich in seinen Stuhl fallen. Zum ersten Mal seit Monaten fühlt er echte Furcht. nicht vor den Rodenbachers, nicht vor dem Wald, sondern vor dem Gedanken, dass Rituale manchmal länger überleben als Menschen und dass jemand oder etwas sie weiterhin prüft.

Draußen geht im Wind die Laterne vor seinem Fenster aus und im Dunkeln mein Torn jenseits der Mauer im Schneefeld vor seinem Haus ein leises Geräusch zu hören. Nicht laut, nur das rhythmische unerbittliche Schaben von etwas, das Linien in Eis zieht. Die Nacht, die auf den vierten Brief folgt, wird für Elias Torn zur längsten seines Lebens.

Er sitzt in seinem Büro, die Tür verriegelt, das Licht gedämpft. Draußen wütet der Wind gegen die Fensterläden und in jeder Böhe scheint ein Flüstern zu liegen, das seinen Namen kennt. Er versucht sich einzureden, dass dies nur der Winter sei, nur ein Sturm, nur sein flatternder Verstand. Aber die Wahrheit ist, Thorn ist nicht mehr sicher, was real ist und was nicht.

Noch vor Sonnenaufgang beschließt er, Gott liebt Mertens zu suchen. Er informiert niemanden. Er weiß, ein offizieller Suchtrup würde nur Verwirrung stiften und weitere Panik erzeugen. Außerdem ist dies sein Fall, sein Schatten, seine Last. Er folgt den Spuren, die der Förster gezeigt hatte. Der Mantel liegt unverändert dort, vom Frost steif geworden.

Daneben die tiefen Linien im Boden. Nun teils vom Wind verweht. Thorn kniet sich hin, berührt die Kerben. Sie sind härter als gewöhnlicher Schnee, als hätte jemand das Eis selbst eingeritzt oder als sei unter der Oberfläche etwas, das nicht friert. Er folgt den Fragmenten der Fußspuren weiter in den Wald. Die Stille ist unnatürlich.

Keine Tiere, keine Äste, die brechen, nur dieses unendlich dichte Schweigen, das wie Watte auf den Ohren liegt. Nach einigen Minuten entdeckte etwas Merkwürdiges. Kleine abgebrochene Tannenadeln, als hätte jemand daran gezogen oder sich daran festgehalten. Doch die Spur wird immer undeutlicher, der Schnee wird tiefer, die Luft dünner, der Nebel dichter. Schließlich gelangt Torn an eine Lichtung. Er bleibt stehen.

In der Mitte der Lichtung ragt ein Baum empor. Eine uralte Fichte, so dick. daß drei Männer sie nicht umfassen könnten. Ihr Stamm ist dunkel, beinahe schwarz, die Rinde tief gefurcht wie verwitterte Haut. Thorn hatte diesen Baum nie zuvor gesehen und doch spürt er eine unheimliche Vertrautheit, als würde etwas in ihm ihn erkennen.

Dann sieht er die Striche. Nicht im Schnee, nicht am Rand der Lichtung, sondern direkt am Stamm der Fichte, tief eingeritzt, zahlreich, Jahr über Jahr über Jahr. Fünfer Gruppen, dann drei, dann wieder fünf, dann zwei, dann vier, manche verwittert, andere frisch. Eine Chronik ohne Worte, ein Kalender des Unsichtbaren. Thorn spürt, wie ihm der Atem wegbleibt. Er tritt näher.

Seine Hand zittert, als er die Rillen berührt. Sie sind glatt an den Kanten, als seien sie oft nachgezogen worden. Zu oft. Dann aus seinem rechten Augenwinkel bewegt sich etwas. Ein Schatten. Er dreht sich ruckartig um. Nichts. Doch sein Herz rast. Er weiß, dass er nicht allein ist. Er hat dieses Gefühl schon früher gespürt in der Dachkammer, im Tal, im Sanatorium.

Dieses Gefühl, daß jemand im Raum steht, nur einen Hauch außerhalb der Wahrnehmung. Er zwingt sich zur Ruhe. Natürlich ist niemand hier, niemand außer ihm. Und doch fehlen Gottliebs Spuren, nicht nur im Schnee, sondern vollständig. Kein Stoffetzen, kein Tritt, kein Zeichen von Kampf. Thorn versucht einen logischen Gedanken zu fassen.

Vielleicht ist Gott lieb weiter in den Wald gegangen. Vielleicht hat er Zuflucht in einer Hütte gesucht. Vielleicht vielleicht vielleicht. Er geht im Kreis um die Lichtung, prüft jede Stelle, jeden Ast und dann sieht er es doch bei den Wurzeln der Fichte, etwas Kleines, dunkles, eingefroren im Schnee, ein Handschuh. Gottliebs Handschuh. Torn hebt ihn auf.

Der Stoff ist feucht, doch nicht gefroren, als hätte ihn jemand erst vor kurzem dorthinelegt. Und genau in diesem Moment hört Thorn ein Geräusch, so zart, dass er glaubt, es gehöre zum Wald. Ein leises Kratzen am Baum, langsam, regelmäßig. Kr. Kr. Drei Striche. Er dreht sich mit Gewalt um.

Seine Hand greift instinktiv zur Waffe, auch wenn er weiß, dass eine Kugel gegen Aberglauben nutzlos ist. Doch die Lichtung ist leer, nur der Baum steht da. Und doch, die Rinde hat einen neuen Kratzer. Torn spürt seine Kehle zuschnüren. Er tritt rückwärts, stolpert, fängt sich wieder. Er weiß, er muss hier weg. Sofort.

Er dreht sich um, rennt zurück durch das Unterholz, schneller, als es seine Stiefel zulassen. Zweige peitschen gegen sein Gesicht, Wurzeln versuchen, ihn zu Fall zu bringen, doch er stoppt nicht. Nicht einmal, als er meint, hinter sich Schritte zu hören. Schritte, die imselben Rhythmus gehen wie der Kratzer am Baum. 3 Pause. 2. Er erreicht den Waldrand kurz vor Einbruch der Nacht.

Sein Atem brennt, seine Beine zittern und doch bleibt er stehen, dreht sich um, starrt in den dunklen Wald. Nichts, nur Nebel. Doch Thorn weiß, was er gespürt hat. Beim Heimweg durch Freiburg hält er immer wieder an, dreht sich um, lauscht. nichts. Doch als er schließlich sein Haus erreicht und die Tür hinter sich schließt, sieht er etwas, das ihm die Knie weich macht.

Auf seiner Fußmatte liegt Schnee, darauf eingelassen, fünf Striche, dann drei, nicht mit einem Stock gezogen, nicht mit einem Messer, sondern mit einem Finger. Ein menschlicher Finger. Thorn sagt in seinem Stuhl zusammen: “Zum ersten Mal seit Jahren betet er nicht zu Gott, sondern zu der Stille, die er einst für harmlos hielt, zu der Hoffnung, daß manche Schatten nur Drugbilder sind.

Doch tief in ihm weiß er, daß der Wächter des Dunkelgrundtals nicht in den Flammen gestorben ist und das Gottlieb Mertens vielleicht nie allein war in dieser Lichtung. Elias Thorn schläft in dieser Nacht nicht. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer, die Tür verriegelt, die Lampe gedimmt, während draußen ein feiner Schneeregen gegen die Scheiben peitscht.

Der Wind trägt eine Art Flüstern mit sich, das anders klingt als gewöhnlich. Nicht wie Luft, die sich zwischen Ziegeln verfängt, mehr wie Atem. Ein Atem, der lauscht. Vor ihm auf dem Tisch liegen die vier Briefe, das verbrannte Papier, die Striche auf seiner Fußmatte, die er in einem Moment mechanischer Verzweiflung abgewischt hatte, als wäre es ein Schmutz, der sich nicht in sein Leben mischen darf.

Doch die Spuren brannten sich in seine Erinnerung, stärker sogar als die Bilder aus der Dachkammer. Er hat lange versucht, den Fall Rodenbacher als abgeschlossen zu betrachten, als Werk menschlicher Grausamkeit, als Resultat eines verschlossenen Systems, das sich über Generationen selbst vergiftet hat. Aber nun sieht er, nicht die vier Brüder waren das Zentrum der Finsternis, nicht einmal das Haus, sondern etwas älteres, tiefer verwurzeltes, etwas, das im Dunkelgrundtal lebte wie eine Krankheit im Knochen.

Und nun hat es einen neuen Namen gefunden, einen neuen Weg. Noch vorm Morgengrauen klopft es heftig an seiner Tür. Torn fährt zusammen, nicht rhythmisch, nicht zählend, sondern verzweifelt. Er ruft: “Wer ist da?” Kellum, mach auf, Elias. Torn öffnet. Sein Stellvertreter steht im Schneegestöber, atemlos, das Gesicht vom Wind rot geschnitten. Elias, du musst mitkommen. Jetzt sofort.

Thorn nimmt Mantel und Stiefel, folgt ihm hinaus. Auf den Straßen liegt eine unnatürliche Stille. Kein Hahnkrät, keine Kutsche fährt. Es ist als stünde die Stadt unter Glas. “Was ist passiert?”, ruft Thorn gegen den Wind. Käl schüttelt den Kopf. Man hat etwas am Stadtrand gefunden. Sie gehen den Weg entlang, der zum alten Westwald führt. Dort stehen drei Männer vom Forstamt, ein Polizist und ein bleicher Bote.

Als Thorn näher kommt, drehen sie sich zu ihm, doch niemand sagt ein Wort. Ihre Blicke wandern zu einem Baum, einer jungen Buche, deren Stamm dünn, aber frisch gewachsen ist. Und dann sie torn es, Striche, nicht eingeritzt, nicht mit einem Werkzeug gezogen, sondern in die Rinde gedrückt mit Fingern, bis die Haut der Rinde gebrochen ist wie rohes Leder.

drei Striche, dann fünf, dann zwei, dann drei und darunter tiefer, frischer, noch feucht vom Saft des Baumes. Ein Name nicht Gott lieb, nicht Elias, sondern Tamar. Torn fühlt, wie ihm der Boden unter den Füßen nachgibt. Kellum flüstert. Das bedeutet gar nichts. Irgendjemand, irgendein Unruhestifter. Aber Thorn hört ihn kaum. Er starrt auf die Linien, die so sauber gezogen sind, als hätte jemand sie geübt.

Jahre, Jahrzehnte, ein Ritual, das nie endete, nur wandelte. “Wie weit ins Tal reichen die Spuren?”, fragt Thorn leise. Der Förster schluckt bis zum alten Hang. Von dort verliert sich alles. Torn hebt langsam den Blick zum Wald. Der Nebel hängt tief zwischen den Stämmen und für einen kurzen Moment meint er eine Bewegung zu sehen. Kein Mensch, keine Gestalt.

Eher ein Schatten, der über den Schnee gleitet, wie etwas, das keinen Körper braucht. Er denkt an Tamar, an die Kinder, an ihre Stimmen im Schlaf. Dienstag gehört mir. An den Jungen, der das Wort Dienstag geformt hatte, bevor er wußte, was Sprache ist. Dann an Gottlieb Mertens und daran, daß er nie zurückkehrte.

Die Männer drehen sich zu Thorn, warten auf eine Entscheidung, einen Befehl. Doch Thorn spricht nicht. Er weiß, dass jeder Schritt tiefer in diesen Wald ein Schritt fort von der Welt ist, die er kennt. Fort vom Gesetz, fort vom Verstand.

Die Finsternis im Dunkelgrundtal war nie nur die Tat der Brüder, sie war ein System. Eine Gewohnheit, eine Prüfung, vielleicht von Menschen erfunden, vielleicht von etwas, das länger als Menschen denkt. Thorn dreht sich langsam um und sagt mit einer Stimme, die leiser ist, als er beabsichtigt. Wir ziehen uns zurück für heute. Kum nickt, aber er sieht die Angst in Thorns Augen.

Eine Angst, die Kellum noch nie in seiner Miene gesehen hat. Sie gehen zurück in die Stadt. Jeder Schritt schwerer als der letzte. In seinem Büro schließt Thorn die Tür, legt Stirn und Hände an den kalten Schreibtisch und holt tief Luft. Dann schreibt er den letzten Eintrag seiner Rodenbacher Akte, den einzigen Satz, den er aussprechen kann, ohne zu lügen.

Manches Blut stirbt nicht im Körper, sondern in der Erinnerung und manche Erinnerungen wandern. Er legt die Feder beiseite, das Licht flackert und im Flackern meint er draußen auf dem Platz vor dem Bezirksamt eine lange dunkle Gestalt stehen zu sehen. Ohne Gesicht, ohne Umriss, nur Tiefe.

Drei Schritte, Pause, zwei Schritte. Torn schließt die Augen, denn er weiß, dass der Wächter des Dunkelgrundtals einen neuen Tag gefunden hat und ein neues Ziel. M.

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