Thorn besucht sie einmal nicht als Richter, sondern als Mann, der die Verantwortung für ihre Befreiung trägt. Er spricht nicht viel. Er sitzt lange einfach nur dort auf einer Holzbank im Garten des Sanatoriums, während die Kinder mit Stöcken im Kies zeichnen. Die älteste Schwester sitzt neben ihm. Sie sagt nur einen Satz.
Ich wusste, dass jemand kommt, aber nicht, dass ich ihn noch erleben würde. Torn antwortet nicht. Er spürt, daß jede Antwort zu klein wäre für das, was sie durchlebt haben. Als er das Sanatorium verlässt, fällt ihm auf, wie still der Waldrings um ist. Kein bedrohliches Schweigen wie im Dunkelgrundtal.
Er ein stiller, sanfter Klang, ein Atemzug der Welt, der nicht schmerzt. Er hofft, dass die Frauen und Kinder irgendwann ebenfalls so atmen können. Hoffen darf er. Aber wissen kann er es nicht. Erst ein Jahr nach dem Prozess erreicht ihn die letzte Nachricht im Fall Rodenbacher. Ein Bewohner des Dunkelgrundtals berichtet, dass in einer Wintersturmnacht ein großer Feuerschein auf dem Rodenbacher Anwesen gesehen wurde.
Als man am nächsten Morgen nachsah, war das Haus abgebrannt. Nichts stand mehr außer dem steinerndnen Schornstein. Keine Untersuchung wurde eingeleitet, kein Verdächtiger ermittelt, kein Bericht verfasßt. Torn weiß sofort, was das bedeutet. Jemand wollte, dass nichts mehr übrig bleibt, dass kein Stück Holz, kein Fetzenstoff, kein letzter Schatten der Vergangenheit weiterlebt, nicht als Mahnmal, nicht als Fluch, vielleicht als Gnade, vielleicht als Vertuschung, vielleicht beides.
Der Rodenbacher Band jedoch, das einzige Dokument, das die ganze Wahrheit enthält, wird versiegelt. Unter Schloss und Riegel im Archiv des Großherzogtums Baden für Augen, die stärker sind als jene der meisten Menschen. Torn schließt die letzte Akte mit einem Gefühl, das weder Sieg noch Erleichterung ist. Er ein leiser nüchterner Schmerz, denn das Dunkel im Dunkelgrundtal ist ausgelöscht, aber das Wissen darum bleibt.
Der Frühling des Jahres 1892 bringt milde Winde über den Schwarzwald. Doch für Elias Thorn fühlt sich die Welt schwerer an als zuvor. Die Rodenbache Akte ist abgeschlossen, die Urteile vollstreckt, die Überlebenden versorgt und doch lastet die Erinnerung wie ein Stein auf seiner Brust.
Das Gericht hat seine Pflicht erfüllt, aber Thorn weiß, dass Gerechtigkeit nur ein Teil der Wahrheit ist. Der andere Teil bleibt in den Schädeln der Menschen, die davon gehört haben und nun versuchen, das Grauen in etwas Fassbares zu verwandeln. Im Bezirksamt tauchen erste Gerüchte auf, flüsternde Stimmen, Dorfleute, die behaupten, nachtschritte im Dunkelgrundteil gehört zu haben, obwohl das Anwesen seit dem Brand verlassen ist.
Andere schwören im Nebel eine Gestalt gesehen zu haben, groß, mit hageren Schultern, ein Mann, vielleicht ein Schatten, vielleicht nur die Fantasie jener, die wissen, was dort oben Jahrzehntelang geschehen ist. Thorn weiß die Geschichten zurück. Er sagt: “Angst sei ein schlechter Zeuge.” Doch selbst in ihm beginnt ein leises Unbehagen zu nagen, wenn er an die Worte denkt, die Silas Rodenbacher kurz vor der Hinrichtung gemurmelt hatte. “Das Blut vergeht nicht.
Thorn hält es für religiösen Warnen. Und doch, etwas in der Art, wie Silas es sagte, haftet am Gedächtnis wie Rauch an Kleidung.” Im Mai besucht torn das Archiv, um sich zu vergewissern, daß das Rodenbacher Buch tatsächlich unter Verschluss liegt. Der Archivar bestätigt es. Das Buch ruht in einer metallenen Kassette, versiegelt, beschriftet, mit einem einzigen Satz, nur auf Anordnung des Gerichts zu öffnen. Thorn betrachtet die Kassette und ein merkwürdiger Gedanke keimt in ihm auf.
Was, wenn dieses Buch nicht nur Beweis ist, sondern Werkzeug? Ein Werkzeug, das jene, die sich schwach fühlen, verführen könnte mit der Illusion von Reinheit, Ordnung, Macht. Der Gedanke ist so verstörend, dass Thorn ihn sofort verdrängt. Dies ist der Aberglaube jener, die den Wald fürchten, nicht der Verstand eines Richters. Doch die Rodenbacher Geschichte ist wie ein Dorn im Fleisch des Schwarzwaldes.