Die Zeitungen schreiben darüber. Erst vorsichtig, dann sensationslüstern. Überschriften wie das sündige Tal, die Blutbrüder des Schwarzwalds oder verlorene Seelen im Dunkelgrund verbreiten sich in der Region. Der Fluch des Skandals trifft auch die Familien der umliegenden Höfe. Kinder werden gehänselt, Bauern werden mißstrauisch beeugt.
Der Name Rodenbacher wird zum Schimpfwort. Einige Wochen später betritt ein junger Mann Torns Büro. Er stellt sich als Gottlieb Mertens vor, Angehöriger eines zwölfjährigen Mädchens, das im Sanatorium untergebracht wurde. Thorn erinnert sich, es war eines der Kinder, die geistig kaum erreicht werden konnten.
Gott lieb wirkt höflich, doch seine Augen verraten eine innere Unruhe. Er fragt nach Unterlagen, nach dem Verlauf der Untersuchung, nach den Gründen, weshalb seine Cousine nicht zu Verwandten zurückkehren dürfe. Thorn erklärt ruhig, dass dies im medizinischen und moralischen Interesse des Kindes sei. Mertens hört zu, nickt, bedankt sich, doch Thorn merkt, dass der junge Mann nicht überzeugt ist.
Als er gegangen ist, bleibt ein merkwürdiger Nachgeschmack zurück, ein Funken von etwas, das Thorn nicht benennen kann. Mißtrauen, Verzweiflung oder etwas, das er lieber nicht in Worte faßt. Im Sommer kehrt Thorn einmal mehr ins Sanatorium zurück. Die Kinder machen kleine Fortschritte.
Eine der Mädchen zeichnet Kreise in den Sand. Ein Junge beginnt Worte zu formen. Die älteste Schwester sitzt wie immer auf einer Bank, den Blick auf die Berge gerichtet. Ihre Stimme ist etwas voller geworden, ihre Haut gesünder, doch die Schatten in ihren Augen bleiben. Sie fragt Thorn: “Was geschieht mit dem Haus?” Thorn antwortet: “Es existiert nicht mehr.
” Sie schließt die Augen, als höre sie eine Nachricht, die sie sich jahrzehntelang erhofft hat. Doch als Thorn später über das Gelände geht, spricht ihn die Sanatoriumsleiterin an. Eine strenge Frau, deren Blick nichts entgeht. Sie sagt, einige der Frauen hätten nachts Albträume. Sie flüsterten im Schlaf. Namen, Rituale, wiederholte Sätze.
Besonders oft Falle der Satz: “Der Dienstag gehört mir.” Thorn verspürt einen Schauer, der nicht von der Abendkälte kommt. Die Frauen sind frei, aber ihre Gedanken noch nicht. Und vielleicht werden sie es nie sein. Der Herbst zieht herauf und Thorn findet immer öfter, dass seine Hand beim Schreiben leicht zittert. Nicht aus Angst, sondern aus Müdigkeit, die wie Rost an seinen Gelenken nagt.
Er versucht, sich mit Arbeit abzulenken. Neue Fälle, kleine Streitigkeiten, gewöhnliche Kriminalität. Doch nichts davon brennt sich ein wie die Stille in der Dachkammer, die Augen der Kinder, die Worte der Brüder. Eines Morgens, als Thorn seinen Schreibtisch öffnet, liegt dort ein Brief. Ohne Absender, ohne Siegel, nur sein Name auf dem Umschlag.
Die Handschrift wirkt unbeholfen, fast kindlich. Er reißt das Papier auf. Darin steht ein einziger Satz: Manches Blut ruht nicht, mehr nicht. Kein Name, keine Drohung, keine Unterschrift. Torn hält den Brief lange zwischen den Fingern. Der Nebel kriecht an diesem Tag besonders dicht über die Straßen und für einen Moment hat er das Gefühl, als sei der Dunkelgrund selbst in sein Büro gedrungen.
Doch er legt den Brief beiseite, atmet tief und zwingt sich zur Vernunft. Dies ist aber Glaube. Nichts weiter. Die Rodenbachers sind Geschichte. Tot oder in Zellen. Das Tal ist leer. Der Wald schweigt. Und dennoch, als er an diesem Abend das Licht löscht und die Tür schließt, sieht er im Fenster sein eigenes Spiegelbild und schwört einen Moment lang etwas Dunkles hinter sich stehen zu sehen, nur einen Atemzug lang. doch genug, um ihn frösteln zu lassen.
Der Winter des Jahres bricht ungewöhnlich früh über den Schwarzwald herein. Die Tannen stehen schwer unter nassem Schnee und der Wind schneidet durch die Schluchten wie ein Messer. Für Elias Thorn bedeutet der Wintermeist Ruhe im Amt, weniger Reisende, weniger Streitfälle, weniger Vergehen.
Doch in diesem Jahr bringt der Winter keine Ruhe, nur Kälte und Schatten. Seit dem anonymen Brief schläft Thorn schlecht. nicht aus Angst, sondern weil seine Gedanken wie ein Mühlrad kreisen. Immer wieder sieht er die Dachkammer vor sich, die Strichmarkierungen an der Wand, die deformierten Kinderhände, das lähmende Schweigen.