Nichts, kein Fußabdruck außer seinen eigenen, keine frischen Spuren, keine eingeritzten Zeichen, nur Kälte, die sich in seine Knochen frisst. Er bleibt stehen, lauscht und spürt plötzlich die absolute Stille. Kein Vogel, kein Wind, kein Tropfen, der vom Schnee fällt, nur Stille, die fast dröhnt. Und dann hinter sich ganz nah ein Keuchen. Torn fährt herum, nichts, nur Nebel.
Der Atem gefriert ihm in der Kehle. Er steht lange da, zu lange, und erst als ein lauter Kränruf den Bann bricht, gelingt es ihm, sich wieder zu bewegen. Er kehrt dem Schornstein den Rücken zu und verlässt das Tal. Er hat keine Antworten gefunden, aber genug Unbehagen, um zu wissen, dass er damit nicht allein ist.
Zurück im Amt erwartet ihn eine weitere Überraschung. Gott lieb Mertens ist verschwunden. Seit zwei Tagen hat niemand ihn gesehen. Seine Verwandten sagen, er sei weggegangen, um etwas zu klären. Seine Jacke fehlt, seine Stiefel auch. Thorn spürt ein Ziehen in der Brust. Er weiß, wohin Gott lieb gegangen sein muss. Wieder ins Tal, wieder zu den Ruinen seiner Familie.
Thorn setzt sich an seinen Schreibtisch, doch bevor er einen Suchtrup anfordern kann, klopft es an seiner Tür. Ein Bote, atmenduchend, die Mütze in der Hand. Herr Richter, man hat etwas gefunden. Es ist der Förster aus dem Gebiet nördlich des Dunkelgrundtals. Er führt Torn zu einer Stelle am Rand des Waldes.
Dort, im halbgeschmolzenen Schnee, liegt ein Mantel. Ein dunkler Wollmantel. Torn erkennt ihn sofort. Gottliebsmantel. In der Nähe finden sie Spuren, die Abdrucke von Stiefeln, also zunächst Spuren, aber dann hören sie auf. enden abrupt, als hätte jemand angefangen zu gehen und wäre mitten im Schritt verschwunden. Doch das ist nicht das Schlimmste.
Neben den Spuren finden sie Linien im Schnee, eingeritzt, tief, als hätte jemand mit einem Stock oder einem Messer gezogen. Fünf Striche, dann eine Lücke, dann drei. Torn start darauf. Der Förster sagt wahrscheinlich Kinder aus dem Ort oder Holzarbeiter, aber Thorn weiß, das stimmt nicht. Die Linien sind zu gleichmäßig, zu tief und zu vertraut.
Am Abend zurück im Amt findet Thorn einen vierten Brief auf seinem Schreibtisch. Keine Handschrift, nur ein gefaltetes Blatt. Er öffnet es. Darauf steht: “Dienstag, nur dieses eine Wort. Und genau in diesem Moment fällt Thorn ein Detail ein, das er vergessen hat. Als er im Dunkelgrundtal war, war es Dienstag.
Wie ein Knoten zieht sich etwas in seinem Inneren zusammen. Er lässt sich in seinen Stuhl fallen. Zum ersten Mal seit Monaten fühlt er echte Furcht. nicht vor den Rodenbachers, nicht vor dem Wald, sondern vor dem Gedanken, dass Rituale manchmal länger überleben als Menschen und dass jemand oder etwas sie weiterhin prüft.
Draußen geht im Wind die Laterne vor seinem Fenster aus und im Dunkeln mein Torn jenseits der Mauer im Schneefeld vor seinem Haus ein leises Geräusch zu hören. Nicht laut, nur das rhythmische unerbittliche Schaben von etwas, das Linien in Eis zieht. Die Nacht, die auf den vierten Brief folgt, wird für Elias Torn zur längsten seines Lebens.
Er sitzt in seinem Büro, die Tür verriegelt, das Licht gedämpft. Draußen wütet der Wind gegen die Fensterläden und in jeder Böhe scheint ein Flüstern zu liegen, das seinen Namen kennt. Er versucht sich einzureden, dass dies nur der Winter sei, nur ein Sturm, nur sein flatternder Verstand. Aber die Wahrheit ist, Thorn ist nicht mehr sicher, was real ist und was nicht.
Noch vor Sonnenaufgang beschließt er, Gott liebt Mertens zu suchen. Er informiert niemanden. Er weiß, ein offizieller Suchtrup würde nur Verwirrung stiften und weitere Panik erzeugen. Außerdem ist dies sein Fall, sein Schatten, seine Last. Er folgt den Spuren, die der Förster gezeigt hatte. Der Mantel liegt unverändert dort, vom Frost steif geworden.
Daneben die tiefen Linien im Boden. Nun teils vom Wind verweht. Thorn kniet sich hin, berührt die Kerben. Sie sind härter als gewöhnlicher Schnee, als hätte jemand das Eis selbst eingeritzt oder als sei unter der Oberfläche etwas, das nicht friert. Er folgt den Fragmenten der Fußspuren weiter in den Wald. Die Stille ist unnatürlich.