Der Schwarzwald-Fall von 1890: Geschwister auf dem Dachboden gefangen gehalten

Keine Tiere, keine Äste, die brechen, nur dieses unendlich dichte Schweigen, das wie Watte auf den Ohren liegt. Nach einigen Minuten entdeckte etwas Merkwürdiges. Kleine abgebrochene Tannenadeln, als hätte jemand daran gezogen oder sich daran festgehalten. Doch die Spur wird immer undeutlicher, der Schnee wird tiefer, die Luft dünner, der Nebel dichter. Schließlich gelangt Torn an eine Lichtung. Er bleibt stehen.

In der Mitte der Lichtung ragt ein Baum empor. Eine uralte Fichte, so dick. daß drei Männer sie nicht umfassen könnten. Ihr Stamm ist dunkel, beinahe schwarz, die Rinde tief gefurcht wie verwitterte Haut. Thorn hatte diesen Baum nie zuvor gesehen und doch spürt er eine unheimliche Vertrautheit, als würde etwas in ihm ihn erkennen.

Dann sieht er die Striche. Nicht im Schnee, nicht am Rand der Lichtung, sondern direkt am Stamm der Fichte, tief eingeritzt, zahlreich, Jahr über Jahr über Jahr. Fünfer Gruppen, dann drei, dann wieder fünf, dann zwei, dann vier, manche verwittert, andere frisch. Eine Chronik ohne Worte, ein Kalender des Unsichtbaren. Thorn spürt, wie ihm der Atem wegbleibt. Er tritt näher.

Seine Hand zittert, als er die Rillen berührt. Sie sind glatt an den Kanten, als seien sie oft nachgezogen worden. Zu oft. Dann aus seinem rechten Augenwinkel bewegt sich etwas. Ein Schatten. Er dreht sich ruckartig um. Nichts. Doch sein Herz rast. Er weiß, dass er nicht allein ist. Er hat dieses Gefühl schon früher gespürt in der Dachkammer, im Tal, im Sanatorium.

Dieses Gefühl, daß jemand im Raum steht, nur einen Hauch außerhalb der Wahrnehmung. Er zwingt sich zur Ruhe. Natürlich ist niemand hier, niemand außer ihm. Und doch fehlen Gottliebs Spuren, nicht nur im Schnee, sondern vollständig. Kein Stoffetzen, kein Tritt, kein Zeichen von Kampf. Thorn versucht einen logischen Gedanken zu fassen.

Vielleicht ist Gott lieb weiter in den Wald gegangen. Vielleicht hat er Zuflucht in einer Hütte gesucht. Vielleicht vielleicht vielleicht. Er geht im Kreis um die Lichtung, prüft jede Stelle, jeden Ast und dann sieht er es doch bei den Wurzeln der Fichte, etwas Kleines, dunkles, eingefroren im Schnee, ein Handschuh. Gottliebs Handschuh. Torn hebt ihn auf.

Der Stoff ist feucht, doch nicht gefroren, als hätte ihn jemand erst vor kurzem dorthinelegt. Und genau in diesem Moment hört Thorn ein Geräusch, so zart, dass er glaubt, es gehöre zum Wald. Ein leises Kratzen am Baum, langsam, regelmäßig. Kr. Kr. Drei Striche. Er dreht sich mit Gewalt um.

Seine Hand greift instinktiv zur Waffe, auch wenn er weiß, dass eine Kugel gegen Aberglauben nutzlos ist. Doch die Lichtung ist leer, nur der Baum steht da. Und doch, die Rinde hat einen neuen Kratzer. Torn spürt seine Kehle zuschnüren. Er tritt rückwärts, stolpert, fängt sich wieder. Er weiß, er muss hier weg. Sofort.

Er dreht sich um, rennt zurück durch das Unterholz, schneller, als es seine Stiefel zulassen. Zweige peitschen gegen sein Gesicht, Wurzeln versuchen, ihn zu Fall zu bringen, doch er stoppt nicht. Nicht einmal, als er meint, hinter sich Schritte zu hören. Schritte, die imselben Rhythmus gehen wie der Kratzer am Baum. 3 Pause. 2. Er erreicht den Waldrand kurz vor Einbruch der Nacht.

Sein Atem brennt, seine Beine zittern und doch bleibt er stehen, dreht sich um, starrt in den dunklen Wald. Nichts, nur Nebel. Doch Thorn weiß, was er gespürt hat. Beim Heimweg durch Freiburg hält er immer wieder an, dreht sich um, lauscht. nichts. Doch als er schließlich sein Haus erreicht und die Tür hinter sich schließt, sieht er etwas, das ihm die Knie weich macht.

Auf seiner Fußmatte liegt Schnee, darauf eingelassen, fünf Striche, dann drei, nicht mit einem Stock gezogen, nicht mit einem Messer, sondern mit einem Finger. Ein menschlicher Finger. Thorn sagt in seinem Stuhl zusammen: “Zum ersten Mal seit Jahren betet er nicht zu Gott, sondern zu der Stille, die er einst für harmlos hielt, zu der Hoffnung, daß manche Schatten nur Drugbilder sind.

Doch tief in ihm weiß er, daß der Wächter des Dunkelgrundtals nicht in den Flammen gestorben ist und das Gottlieb Mertens vielleicht nie allein war in dieser Lichtung. Elias Thorn schläft in dieser Nacht nicht. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer, die Tür verriegelt, die Lampe gedimmt, während draußen ein feiner Schneeregen gegen die Scheiben peitscht.

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