Der Wind trägt eine Art Flüstern mit sich, das anders klingt als gewöhnlich. Nicht wie Luft, die sich zwischen Ziegeln verfängt, mehr wie Atem. Ein Atem, der lauscht. Vor ihm auf dem Tisch liegen die vier Briefe, das verbrannte Papier, die Striche auf seiner Fußmatte, die er in einem Moment mechanischer Verzweiflung abgewischt hatte, als wäre es ein Schmutz, der sich nicht in sein Leben mischen darf.
Doch die Spuren brannten sich in seine Erinnerung, stärker sogar als die Bilder aus der Dachkammer. Er hat lange versucht, den Fall Rodenbacher als abgeschlossen zu betrachten, als Werk menschlicher Grausamkeit, als Resultat eines verschlossenen Systems, das sich über Generationen selbst vergiftet hat. Aber nun sieht er, nicht die vier Brüder waren das Zentrum der Finsternis, nicht einmal das Haus, sondern etwas älteres, tiefer verwurzeltes, etwas, das im Dunkelgrundtal lebte wie eine Krankheit im Knochen.
Und nun hat es einen neuen Namen gefunden, einen neuen Weg. Noch vorm Morgengrauen klopft es heftig an seiner Tür. Torn fährt zusammen, nicht rhythmisch, nicht zählend, sondern verzweifelt. Er ruft: “Wer ist da?” Kellum, mach auf, Elias. Torn öffnet. Sein Stellvertreter steht im Schneegestöber, atemlos, das Gesicht vom Wind rot geschnitten. Elias, du musst mitkommen. Jetzt sofort.
Thorn nimmt Mantel und Stiefel, folgt ihm hinaus. Auf den Straßen liegt eine unnatürliche Stille. Kein Hahnkrät, keine Kutsche fährt. Es ist als stünde die Stadt unter Glas. “Was ist passiert?”, ruft Thorn gegen den Wind. Käl schüttelt den Kopf. Man hat etwas am Stadtrand gefunden. Sie gehen den Weg entlang, der zum alten Westwald führt. Dort stehen drei Männer vom Forstamt, ein Polizist und ein bleicher Bote.
Als Thorn näher kommt, drehen sie sich zu ihm, doch niemand sagt ein Wort. Ihre Blicke wandern zu einem Baum, einer jungen Buche, deren Stamm dünn, aber frisch gewachsen ist. Und dann sie torn es, Striche, nicht eingeritzt, nicht mit einem Werkzeug gezogen, sondern in die Rinde gedrückt mit Fingern, bis die Haut der Rinde gebrochen ist wie rohes Leder.
drei Striche, dann fünf, dann zwei, dann drei und darunter tiefer, frischer, noch feucht vom Saft des Baumes. Ein Name nicht Gott lieb, nicht Elias, sondern Tamar. Torn fühlt, wie ihm der Boden unter den Füßen nachgibt. Kellum flüstert. Das bedeutet gar nichts. Irgendjemand, irgendein Unruhestifter. Aber Thorn hört ihn kaum. Er starrt auf die Linien, die so sauber gezogen sind, als hätte jemand sie geübt.
Jahre, Jahrzehnte, ein Ritual, das nie endete, nur wandelte. “Wie weit ins Tal reichen die Spuren?”, fragt Thorn leise. Der Förster schluckt bis zum alten Hang. Von dort verliert sich alles. Torn hebt langsam den Blick zum Wald. Der Nebel hängt tief zwischen den Stämmen und für einen kurzen Moment meint er eine Bewegung zu sehen. Kein Mensch, keine Gestalt.
Eher ein Schatten, der über den Schnee gleitet, wie etwas, das keinen Körper braucht. Er denkt an Tamar, an die Kinder, an ihre Stimmen im Schlaf. Dienstag gehört mir. An den Jungen, der das Wort Dienstag geformt hatte, bevor er wußte, was Sprache ist. Dann an Gottlieb Mertens und daran, daß er nie zurückkehrte.
Die Männer drehen sich zu Thorn, warten auf eine Entscheidung, einen Befehl. Doch Thorn spricht nicht. Er weiß, dass jeder Schritt tiefer in diesen Wald ein Schritt fort von der Welt ist, die er kennt. Fort vom Gesetz, fort vom Verstand.
Die Finsternis im Dunkelgrundtal war nie nur die Tat der Brüder, sie war ein System. Eine Gewohnheit, eine Prüfung, vielleicht von Menschen erfunden, vielleicht von etwas, das länger als Menschen denkt. Thorn dreht sich langsam um und sagt mit einer Stimme, die leiser ist, als er beabsichtigt. Wir ziehen uns zurück für heute. Kum nickt, aber er sieht die Angst in Thorns Augen.
Eine Angst, die Kellum noch nie in seiner Miene gesehen hat. Sie gehen zurück in die Stadt. Jeder Schritt schwerer als der letzte. In seinem Büro schließt Thorn die Tür, legt Stirn und Hände an den kalten Schreibtisch und holt tief Luft. Dann schreibt er den letzten Eintrag seiner Rodenbacher Akte, den einzigen Satz, den er aussprechen kann, ohne zu lügen.