Der Schwarzwald-Fall von 1890: Geschwister auf dem Dachboden gefangen gehalten

Thorn breitet alle Dokumente vor sich aus. Ein verweigerter Zensus, ungewöhnliche Einkäufe, ein Prediger, der weglief ohne sich umzusehen und dieses Gesicht im Dachfenster. Das alles sind keine Beweise, aber Thorn glaubt an Spuren. Er glaubt daran, dass das Böse selten schweigt. Es hinterlässt Kratzer, Löcher, fleckige Seiten.

Mit langsamer, bedächtiger Schrift schreibt er eine Zeile in sein persönliches Fallbuch. Familie Rodenbacher, Dunkelgrundtal, Verdacht auf verborgene Bewohner, Isolation, Verschleierung, Wahrheit wahrscheinlich absichtlich verborgen. Er klappt das Buch zu, doch er legt die Akte nicht zurück in den Schrank.

Er läßt sie auf dem Tisch liegen, sichtbar, drängend, ein Zeichen für sich selbst, als müsse er verhindern, dass die Wahrheit erneut im Nebel erstickt. Er wird selbst hinreiten unter dem Vorwand eines Grenzstreits, mit einer Karte, die er eigenhändig gefälscht hat und mit dem festen Willen, das Geheimnis zu entwirren, dass die vier Brüder hinter ihren eisenbeschlagenen Türen verbergen.

Der Nebel vor seinem Fenster wird dichter. Torn zündet eine zweite Lampe an. Irgendwo da draußen wartet ein Protokoll. Eines, das nicht aus Papier besteht, sondern aus Stille Ketten und einem blassen Gesicht, das aus dem Leben gestrichen wurde. Der Morgen, an dem Richter Elias Thorn in das Dunkelgrundtal aufbricht, beginnt mit jenem grauen, erbarmungslos stillen Licht, das im Schwarzwald die Schwelle zwischen Nacht und Tag markiert.

Der Nebel liegt so dicht, dass Thorns Pferd sich tastend vorwärts bewegt, als schneide es sich durch eine milchige Wand. Torn trägt eine Satteltasche aus dunklem Leder bei sich, darin eine sorgfältig gefaltete Grenzkarte, mehrere amtliche Schreiben und ein einziges Dokument, das gelogen ist. Der erfundene Grenzstreit, der ihm den Vorwand liefern soll, das Anwesen der Rodenbaches zu betreten.

Er reitet schweigend, die Geräusche des Waldes gedämpft, als habe der Nebel sie verschluckt. Keine Vögel, kein Rascheln der Tiere, nur das leise Schnauben des Pferdes und das Knacken von Ästen, die unter Hufen brechen. Als Torn tiefer in das Tal vordringt, werden die Bäume höher, dichter und die Luft bekommt einen eigenartigen Geruch, eine Mischung aus feuchter Erde und etwas Metallischem, das er nicht sofort benennen kann.

Es dauert nicht lange, bis die Umrisse des Rodenbacher Hofes durch den Nebel auftauchen. Das Gebäude ist größer als Torn erwartet. Ein zweistöckiges Schwarzwaldhaus, dunkel gebeizt, mit einem steilen Dach und einem einzigen hochragenden Schornstein. Die Fenster sind klein, wie zu Schießschaden verengt und in der Stille wirkt das Haus wie ein Tier, das lauert.

Thorn bindet sein Pferd an einen Pfosten, der so abgenutzt ist, als habe man seit Jahrzehnten dort angebunden. Bevor er an die Tür klopfen kann, öffnet sie sich bereits. Vier Männer stehen im Eingang, Schulter an Schulter wie aus einem Block gehauen. Silas, Malachias, Hezsekiel, Jubal.

Ihre Namen klingen Torn im Gedächtnis nach, doch jetzt, da sie vor ihm stehen, wirken Namen wie unzureichende Etiketten für etwas, das nicht ganz menschlich scheint. Sie grüßen nicht, sie sprechen nicht. Erst nach einem langen Moment macht Silas einen Schritt nach vorn. Sein Gesicht ist schmal, hart, seine Augen wässrig schmutziges Eis. Seine Stimme, als er Thorn anspricht, ist so ebenmäßig, daß sie beinahe unnatürlich klingt.

Thorn erklärt langsam und sachlich den angeblichen Grenzstreit. Er öffnet die Karte, zeigt Linien, die es niemals gab und wartet auf Regung. Doch die Brüder reagieren nicht so, wie Menschen reagieren sollten. Malachias neigt nur leicht den Kopf. Jubal blinzelt nicht einmal. Hezekiel verschränkt die Arme und Silas rezitiert die Grenzen ihres Landstücks aus dem Gedächtnis, Wort für Wort, mit der Präzision eines Gebets.

Thorn beobachtet sie, während er Fragen stellt. Er versucht kleine Unstimmigkeiten zu provozieren, kurze Blicke auszutauschen, eine Geste, die nicht in das seltsame Gleichmaß fällt. Doch sie bewegen sich wie ein Urwerk. immer nacheinander, nie gleichzeitig, nie durcheinander.

Related Posts

Our Privacy policy

https://worldnews24hr.com - © 2025 News